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Literatur als emotionale Attrappe : eine evolutionspsychologische Lösung des "paradox of fiction"
(2006)
Ausgehend von der Beobachtung, dass die emotionale Reaktion auf fiktionale Stimuli einigen alltagspsychologischen Vorannahmen widerspricht, wird ein psychologisches Emotionsmodell entwickelt, das Theorieangebote der Verhaltensforschung und der biologischen Evolutionstheorie aufgreift und erklären kann, warum wir überhaupt Emotionen in Bezug auf Literatur erleben. Emotionale Wirkungen von Literatur werden dabei heuristisch gleichgesetzt mit der Wirkung von Attrappen. Anschließend wird die Primärunterscheidung realer und fiktionaler Stimuli an Hand typisierter Beispiele aufgelöst zugunsten einer emotionsspezifischen Betrachtungsweise, die nach der jeweiligen emotionalen Qualität bestimmter Textstimuli fragt und aus ihr eine entwicklungsgeschichtlich plausible, adaptive Verlaufswahrscheinlichkeit des jeweiligen Emotionsprogramms ableitet.
Die Gefühlsemphase in den Dichtungen des Sturm und Drang wurde häufig als Versuch einer Aufwertung der Leidenschaften interpretiert. Dagegen wird hier die Ansicht vertreten, dass die immer wieder bezeugte Erfahrung des sentio ergo sum sich auf einen anderen Emotionsbereich bezieht als der ältere Leidenschaftsdiskurs. Der heroische Kraftkult ("Genie-Kult") und die Melancholie in der Sturm-und-Drang-Literatur werden unter emotionspsychologischen Prämissen neu analysiert und als spezifische Verarbeitung von Furcht- und Strafreizen gedeutet. Die emotionalen Selbstvergewisserungen des Sturm-und-Drang-Individuums stellen sich somit dar als historisch-empirische Stressreaktionen und psychische Coping-Prozesse in einer Zeit des gesellschaftlichen Wandels.