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In Matthias Däumers Beitrag zum altjüdischen "Wächterbuch" (dem ersten Teil des äthiopischen Henoch-Pentateuchs) werden die Bedingungen untersucht, unter welchen ein Jenseitsreisender zum Zeugen werden kann. In der dargestellten Konstellation wird Henoch Zeuge einer schwer vermittelbaren Erfahrung, der des Sheol, bei der er von einem Engel als Zeugenschaftshelfer geleitet wird. Es erweist sich, dass die Konstellation 'Jenseitsreise mit begleitendem Zeugenschaftshelfer' später zum Modell für weitaus literarischere Jenseitsbegegnungen wird, wie zum Beispiel jener in Dantes "Commedia". Aus diesem Wandel vom religiösen zum literarischen Text ergibt sich aber auch rückwirkend und damit systematisch, dass die spezifische Zeugenschaftskonstellation der Jenseitsreisen generell als Reflexion (profan-)medialer Bedingungen gesehen werden kann. Der Zeugenschaftshelfer ist nicht nur eine authentifizierende, dem bereisten Ort immanente Figur, sondern Mittlerfigur des mit dem Ort verbundenen Wissens, das in der Jenseitsreise entweder nicht direkt sichtbar oder nicht direkt verstehbar ist. Damit aber wird der Engel zum Kristallisationspunkt der allgemeinen medialen Bedingungen von Zeugenschaft - und Literatur.
Auch wenn in der Nachfolge der Aufklärung sowie mit dem Siegeszug der modernen Naturwissenschaften eine Verlustgeschichte des Transzendenzwunders geschrieben wurde und Max Weber in seinem vielzitierten Diktum von 1917 die moderne Welt als 'entzaubert' deklarierte, entpuppte sich das vermeintlich vormoderne Phänomen des Wunders in der literarischen Moderne als Reflexionsgegenstand verschiedener Fachdisziplinen. Gleichzeitig erlebte das Wunder im Drama und Theater der Moderne eine Renaissance: Jener "clamor for miracles", so George Bernard Shaw in seinem Vorwort zu 'Androcles and the Lion', wird im zweiten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts in England nicht nur diskursiv verhandelt, sondern für das Publikum durchaus bühnenwirksam eingesetzt, wie ich im Folgenden erläutern möchte.
In diesem Aufsatz möchte ich untersuchen, wie die Rahmen- und Binnengeschichten in 'Marathon, Eis und Schnee', 'Safari' und 'Johanna' räumlich gestaltet sind, und welche Rückschlüsse die Gestaltung von Räumlichkeit in diesen Texten auf Felicitas Hoppes Poetologie erlaubt. Dabei gehe ich davon aus, dass sich eine Analogie ausmachen lässt zwischen der Raumordnung, der Zeitordnung und der narrativen Ordnung von Rahmen- und Binnenebenen, die auch für Hoppes übriges Werk charakteristisch ist: In allen diesen drei Aspekten bestehen Grenzen, die sich jedoch im Erzählen als zunehmend permeabel erweisen.
Die folgenden Lektüren zum Problemfeld literarischer Identitäts- und Fremdheitserfahrung orientieren sich an einer heuristischen Unterscheidung, die Andrea Polaschegg im Rahmen ihrer Arbeit über den 'Anderen Orientalismus' (2005) eingeführt hat, nämlich der Trennung zwischen den Begriffspaaren 'das Eigene' – 'das Andere' und 'das Vertraute' – 'das Fremde'. [...] Das 'Andere' erscheint nicht selten als 'fremd', während 'das Eigene' sich zugleich als 'vertraut' präsentiert. Mit Blick auf diese Unterscheidung verfolgt der vorliegende Beitrag die Leitthese, dass sich beide Problemfelder in 'Eis und Schnee' auf charakteristische Weise überkreuzen. Hoppes Text greift die jeweilige Dichotomie von 'Eigenem' und 'Anderem' sowie von 'Vertrautem' und 'Fremdem' auf; doch sie unterläuft sie zugleich, indem sie eine scheinbar feststehende Gegensatzrelation destabilisiert. Und mehr noch: Verbinden sich in alltäglicher Wahrnehmung und gängigem Sprachgebrauch 'das Eigene' und 'das Vertraute' einerseits, 'das Andere' und 'das Fremde' andererseits, so brechen diese Allianzen in Hoppes Text auseinander.
[...] 'Eis und Schnee' [zeichnet] kein einheitliches Gesamtbild von Junghuhns Leben. Vielmehr präsentiert sich der Text als unabgeschlossener Entwurf einer Existenz in Bewegung, gleichsam als möglichkeitsbewusste Erfindung eines Lebens-Laufs, der sich am Vorbild der historischen Person orientiert und zugleich reale Handlungen und Ereignisse fiktional verfremdet. Denn anstatt die zentralen Stationen dieses außergewöhnlichen Lebens in narrativer Kontinuität zum linear geordneten Gesamtbild zusammenzufügen, bricht der Text die zeitliche und räumliche Einheit des Erzählten auf. Entscheidendes verbindet sich mit Nebensächlichem, und spielerische Wechsel der Erzählperspektive lassen die Konturen der Figuren verschwimmen. So handelt Hoppes fiktionale Bio-Grafie, welche im Akt des Schreibens zugleich selbstreflexiv die Aporien einer Erfassung des gelebten Lebens ausstellt, von den Möglichkeitsbedingungen und Untiefen narrativer Identitätskonstitution. Entlang des Leitfadens eines Entdeckerlebens fragt Eis und Schnee nach Bestimmungsmerkmalen und Grenzen des 'Eigenen' – und zwar in individueller wie in kultureller Hinsicht. Denn Junghuhns Grenzgänge in der Ferne Asiens kreisen beständig um die Frage, wer er selbst überhaupt ist, wovon er sich warum und wie abgrenzt, und wer von diesem Leben auf welche Weise zu erzählen vermag. Einige Aspekte dieser Fragestellung erkundet der vorliegende Aufsatz in einer narratologischen Analyse von Hoppes komplexer Erzählprosa in 'Eis und Schnee'. Die folgenden Lektüren zum Problemfeld literarischer Identitäts- und Fremdheitserfahrung orientieren sich an einer heuristischen Unterscheidung, die Andrea Polaschegg im Rahmen ihrer Arbeit über den 'Anderen Orientalismus' (2005) eingeführt hat, nämlich der Trennung zwischen den Begriffspaaren 'das Eigene' – 'das Andere' und 'das Vertraute' – 'das Fremde'.
Stephan Trinkaus bezieht sich in seinem Beitrag auf Winnicott und auf eine Zeit des Spiels, nämlich die Vorgängigkeit einer Leere oder eines Falles, die oder der nie erfahren werden konnte und doch in der Weise der Nachträglichkeit wirksam ist. Sigmund Freud hatte diese Zeitlichkeit der Psyche entdeckt, in der immer etwas im Spiel ist, das nicht hat stattfinden, nicht sich hat aktualisieren können. Das Spiel eröffnet sich als Zeit zwischen den Reihen der Vergangenheit und der Gegenwart, die nie ganz verschweißt sind, oder auch zwischen den Reihen der Subjekte und der Objekte, die nie ganz getrennt sind und nie ganz in eins fallen, wie Trinkaus sagt. Spiel ist "ein Geschehen im Übergang von Nichtexistenz und Existenz". Entlang des mit einem tödlichen Sprung endenden Spiels des Jungen Edmund in Roberto Rossellinis "Deutschland im Jahre Null" entwirft Trinkaus die Theorie des Spiels als ein Halten des Nichts. In dieser spezifischen Ökologie des Spiels verlässt Winnicott die objekttheoretischen Entwürfe der Psychoanalyse, seien sie mit dem Konzept des Narzissmus verbunden oder mit Melanie Kleins Objekttheorie, um Spiel als Begegnung des Ichs mit seiner eigenen Unmöglichkeit zu verstehen. Weshalb Winnicott auch davon sprechen kann, "dass Spielen an sich schon Therapie ist". Von hier aus geht Trinkaus aber noch einen großen Schritt weiter, indem er in Anschluss an Maurice Blanchot das Alltägliche in seiner Subjekt- und Objektlosigkeit als eigentliche Zeit des Spiels ausmacht: Zeit und nicht Raum, weil das Halten weniger begrenzt als ermöglicht. Das führt Trinkaus schließlich zu Karen Barads Ontologie der Unbestimmtheit: "I am one with the speaking silence of the void."
Dem Inzesttabu gilt die Aufmerksamkeit in Verena Richters Beitrag "'C'est comme blasphémer: ça veut dire qu'on y croit encore.' Inzest und 68er-Diskussionen in Louis Malles "Le souffle au coeur" (1971)". Louis Malle inszeniert im Film einen Mutter-Sohn-Inzest vor dem Hintergrund eines französischen Nationalfeiertags. Dieses mit kultureller Bedeutung aufgeladene Setting erlaubt es der Autorin nicht nur, den Inzest vor dem Hintergrund einer kritischen Auseinandersetzung mit der Familienstruktur der bürgerlichen Kleinfamilie zu lesen, sondern als kritische Revision paternalistischer Gesellschaftsstrukturen grosso modo.
Felicitas Hoppe entwickelt in ihrer fiktionalen Autobiografie 'Hoppe' (2012) ein komplexes Spiel mit Erzähl- und Erzählerkonventionen, Gattungs- und Leseerwartungen sowie mit Fakt und Fiktion. Offensichtlich changiert der Status dieses Textes: Für Fiktionalität sprechen etwa die paratextuelle Gattungskennzeichnung als "Roman", die Umschreibung auf dem Klappentext als "Traumbiographie" sowie die Rezeption als "Metaautobiografik". Auf Faktualität wiederum deuten eine ganze Reihe von epitextuellen und habituellen Inszenierungspraktiken hin, die den Text, gerade weil er gar nicht erst versucht, bloße Fakten zu schildern, als eine 'wahrhaftige' Autobiografie der 'realen' Autorin Felicitas Hoppes markieren. Der Text ist damit – wie es in Definitionen der Debatte um 'Autofiktion' heißt – von einer "oszillierenden Ungewissheit" zwischen autobiografischem und romaneskem Pakt, zwischen Fakt und Fiktion geprägt.
Polen als Niemandsland? Deutschland als Wunderland? In der zweisprachigen Anthologie Kindheit in Polen - Kindheit in Deutschland erzählen deutsche und polnische AutorInnen - aufgewachsen in Polen, in der DDR, in Westdeutschland - aus ihrer Kindheit. In ihren Texten spiegeln sich gesellschaftliche Umbrüche, Familie und Liebe, Flucht und Vertreibung, Religion und Ideologie, inter- und transkulturelle Erfahrungen sowie die Heimatsuche der Flüchtlingskinder. Die Erzählungen, Gedichte und Erinnerungen zeigen Unterschiedliches und Gemeinsames, sie fördern den Austausch über Grenzen hinweg. Die Auseinandersetzung mit Zentrum und Peripherie bezieht sich nicht nur auf Grenzregionen, sondern betrifft auch kulturelles und literarisches Erbe. Die gegenwärtige deutsche und polnische Literatur bewegt sich in Richtung unterschiedlicher Zentren, und ihre Autoren scheinen irgendwie 'zwischen' zwei oder sogar mehreren Sprachen und Kulturen zu leben. Die im vorliegenden Beitrag analysierte Anthologie scheint ein Buch der deutsch-polnischen Begegnungen zu sein. Sie baut eine Brücke für ein gegenseitiges Verstehen unserer Vergangenheit und Gegenwart.
Dennis Bock stellt in seinem Beitrag "'Denn es geht hier nicht um Mögen oder Nichtmögen. Die Muselmänner stören ihn, das ist es' - Erzählungen über Muselmänner in der Literatur über die Shoah heraus", wie durch die narrative Variation der im Rahmen der Shoah-Literatur inventarisierten Figur des Muselmanns und dem mit ihr verbundenen konventionalisierten Narrativ ein Störpotential erzeugt wird, das den Fokus auf die Berührbarkeit eines Tabus legt. Es ist die Berührbarkeit des Todes, die durch die erzählerische Identifikation mit einer zwischen Leben und Tod begriffenen Figur evoziert wird, und dergestalt einen Reflexionsprozess in Gang setzt.