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An den Begriff der Genauigkeit ist ein Gemenge von Medien, Techniken, Fähigkeiten und Parametern gekoppelt, die der vorliegende Sammelband zusammenführen möchte, um Genauigkeit als vielfältige, instabile Kategorie vorzustellen. Ihr scheinbares Gegenstück, die Imagination, wird zweifellos mitgedacht, aber anstatt einer dichotomen Gegenüberstellung soll im Sinne von Musils "phantastischer Genauigkeit" gerade auf die Verwobenheit und gegenseitige Abhängigkeit von Imagination und Genauigkeit aufmerksam gemacht werden - freilich im Wissen um die Unabschließbarkeit, die sich mit der Öffnung auf ein immer schon disparates und heterogenes Problemfeld aufdrängt.
'Ultima mano' : Endretusche und Nachbearbeitung in der italienischen Kunsttheorie der Neuzeit
(2021)
Projektion als Entwurfs- und Übertragungsverfahren kann auch ein Kalkül mit offenem Ausgang sein. Diesem Problem widmet sich Laura Valterio in ihrem kunsttheoretischen Beitrag, in welchem das abschließende Moment der 'ultima mano' ins Zentrum gerückt wird. In den kunsttheoretischen Debatten der Frühen Neuzeit wird die 'letzte Hand' gleichermaßen zu einem symbolischen Moment der Vollendung, wie auch der technischen Meisterschaft des Malers. Valterio zeigt, wie die 'ultima mano' als Versprechen der Vollkommenheit stets entrückt bleibt, aufgeschoben wird und damit einen Projektionsraum etabliert, in welchem die Genauigkeit als Akt des Abschließens zur Disposition steht.
Der Text geht der Frage nach, inwieweit der Begriff des literarischen und künstlerischen Experiments heute zu einem beliebig vergebenen Etikett geworden ist. Dazu werden einige Stationen aus seiner Geschichte sowie sein Verhältnis zum naturwissenschaftlichen Experimentbegriff kurz erörtert; ebenso einige Beispiele experimenteller Arbeiten, die ihren Anfang und ihr Ende verschleiern.
Der Kitsch und sein Ernst
(2018)
Als der Schriftsteller Hermann Broch in den 1930ern den Kitsch als das "Böse im Wertsystem der Kunst" bezeichnete, als er formulierte, wer Kitsch hervorbringe, sei ein "ethisch Verworfener, ein Verbrecher, der das radikal Böse will", ja, er sei "ein Schwein", da war der Begriff bereits ein halbes Jahrhundert im deutschen Sprachraum im Umlauf und hatte gerade Hochkonjunktur. Die Tonlage des Österreichers in seinen berühmten Invektiven ist symptomatisch für die Debatten, die der Kitsch hervorgerufen hat - kaum ein Diskurs über einen ästhetischen Begriff hat diese bislang an Schärfe und Aggressivität überboten, und kaum ein Begriff hat sich als eine solch deutliche Grenzmarkierung zwischen anspruchsvoller Kunst und trivialer Massenkultur, zwischen dem guten und dem schlechten Geschmack etabliert.
In diesem Beitrag möchte ich den Zusammenhang von Lebendigkeit und Unsterblichkeit in den Weltvorstellungen und Kunstwerken der frühen russischen Avantgarde in St. Petersburg genauer betrachten. Künstlerinnen und Künstler wie Pavel Filonov, Elena Guro, Nikolaj Kul'bin und Michail Matjušin teilten die Überzeugung, dass die Kunst ein Medium sein könne, die Strukturen des Kosmos in seinen sichtbaren materiellen wie seinen unsichtbaren nichtmateriellen und energetischen Aspekten zu enthüllen. Diese Künstler machten die Entwicklungsprozesse, Kräfte und Formen der Natur zum Modell ihres künstlerischen Schaffens; ihre organische Ästhetik wurde von ihren pantheistischen, neovitalistischen oder monistischen Anschauungen und vom Evolutionsgedanken beeinflusst. Sie verbanden unmittelbare Naturbeobachtung mit wissenschaftlichem Denken und mit einem starken Interesse an der Natur der menschlichen Seele sowie an psychophysiologischen Fragestellungen. Künstler wie Filonov, Guro, Kul'bin und Matjušin betrachteten den Menschen als integralen Bestandteil der Natur; sie waren überzeugt, dass das menschliche Dasein den Gesetzen der Natur unterworfen sei und sich ihre künstlerische Tätigkeit an den Gesetzen der Natur ausrichten müsse.
Welche Signifikanz sich das über die 'Geistlichen Übungen' geregelte Bildliche bewahrt hat, möchte ich im Folgenden anhand einer Erzählung aus den 'Nachtstücken' E.T.A. Hoffmanns, der 'Jesuiterkirche in G.' aus dem Jahre 1816, skizzieren, die sich bei genauer Betrachtung als eine literarische Abhandlung über das jesuitische Bild- und Wahrnehmungsverständnis zu erkennen gibt.
"Tabu", "Verbot", "Grenze" - exakte definitorische Abgrenzungen der Begriffe erscheinen diffizil, ihre Übergänge dagegen mitunter fließend. Diese erste Bestandsaufnahme bedeutungsverwandter Wörter trifft die Frage nach der Konzeption des Tabus und seinem Gegenstandsbereich im Kern: Es geht um Grenzziehungen und um deren zeitgleiche Übertretungen, die in der Konzeption des Tabus - wie es im Folgenden konturiert werden soll - simultan angelegt sind. Leonie Süwolto gibt zur Definition des Begriffs zunächst über die Begriffsherkunft und -überlieferung Auskunft, bevor ein Überblick theoretischer Reflexionen des Tabus Aufschluss über seine Konzeption gibt. Ausgehend von der These, die im Verlauf des Textes entwickelt wird, dass Tabus als historisch und kulturell variable Grenzmarker Auskunft über gesellschaftliche Wertesysteme und ihren Wandel geben können und somit immenses kulturdiagnostisches Potential bergen, denkt Süwolto außerdem über ihre Bedeutung in der Gegenwartsgesellschaft und nicht zuletzt über das Verhältnis von Literatur, Kunst, Medien und dem Phänomen Tabu bzw. Tabubruch nach.
In seinem Aufsatz rekonstruiert der Literatur- und Medienwissenschaftler Nicolas Pethes die Verwendung des Experimentbegriffs in Benjamins Schriften und verfolgt seine Entwicklung von dessen frühen Untersuchung "Über den Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik" über den "Ursprung des deutschen Trauerspiels" bis zum "Passagen-Werk". Dabei soll nicht nur die Bedeutung der Idee des Experiments, sondern auch der experimentelle Charakter von Benjamins eigener Schreibweise herausgearbeitet werden. Das Experiment, das eng verwandt ist mit Test und Spiel, ist Teil einer Darstellungsstrategie, mit der Benjamin die Diskontinuität der Kunst- und Gesellschaftsgeschichte beschreiben will.
Im russischen Denken vollziehen sich um 1900 Transpositionen des Synergiebegriffs aus dem theologischen Diskurs, der sich durch seine Herkunft für eine universalistische Verwendung eignet. Dabei werden die Implikationen der gottmenschlichen 'cooperatio' und des anthropologischen Transformationspotentials auf andere Relationen in Natur und Gesellschaft übertragen. Zudem haben zu Beginn des 20. Jahrhunderts holistische Modelle des Zusammenwirkens Konjunktur. Entsprechende synergetische Figurationen in Religionsphilosophie, Kunst und Wissenschaft der russischen Moderne, ihre ambivalente Rezeption in frühsowjetischen Werken und das Wiederaufleben von Synergieparadigmen in der postsowjetischen Ära sind Gegenstand der folgenden Darstellung.
Rilke und Twombly
(2016)
Der vorliegende Band nimmt künstlerische Auseinandersetzungen mit Zeugenschaft im Film, im Theater, in der Literatur, in der Bildenden Kunst und in der Performancekunst in den Blick und stellt dabei grundlegende Fragen: Was gilt als Zeugnis und wer ist ein Zeuge? Wie verhalten sich Zeugnis, Wahrheit und Fiktion zueinander? Wie wird Zeugenschaft, wie wird die epistemische und moralische Rolle von Zeugnissen in der Kunst reflektiert und kommentiert? Dabei werden gattungsspezifische Aspekten der jeweiligen Kunstformen herausgearbeitet, aber auch allgemeinere Fragen über das Verhältnis von Kunst und Zeugenschaft thematisiert. Gewinnen wir, indem wir uns mit künstlerischer Zeugenschaft auseinandersetzen, auch einen neuen Blick auf Begriff und Phänomen von Zeugenschaft? Oder ist ein solch allgemeiner Begriff von Zeugenschaft gar nicht anzustreben angesichts der kaum überschaubaren Fülle unterschiedlicher Phänomene des Zeugnisgebens? Fragen über Fragen, auf welche dieser Band Antworten sucht. Doch wir möchten an dieser Stelle auch einige Thesen darüber artikulieren, welche Facetten von Zeugenschaft ganz spezifisch durch Kunst in den Blick geraten – und wodurch sich insbesondere die künstlerische Auseinandersetzung mit Zeugenschaft vom Umgang mit Zeugen und Zeuginnen in anderen Kontexten unterscheidet.
Das Leder des Schuhs
(2015)
Schuhe - schwere, wetterfeste Stiefel ebenso wie luftige, filigrane Sandalen - wurden lange Zeit aus Leder gefertigt. Robuster und langlebiger als Leinen, Seide oder Bast, aber wesentlich anschmiegsamer als das Holz rustikaler Pantinen, war Leder ein geradezu ideales Material für den Schutz der Füße vor den Widrigkeiten der Straße, vor Steinen, Schmutz, Staub, Kälte und sogar Nässe. Seine Eigenschaften lassen das Leder des Schuhs zugleich zu einem unheimlichen Material werden, speichert es doch Informationen über seinen Gebrauch und kommuniziert damit Gewohnheiten und Präferenzen seiner TrägerInnen.
Wem es an eigener Erfahrung oder Anschauung mangelt, der kann sich u.a. von Theweleit darüber belehren lassen, dass beim Fußball viel gelitten wird. Auch der Fan ist alles andere als ein 'standhafter Zuschauer ästhetischer Leiden', denn er leidet wahrhaftig und sozusagen leibhaft mit. Darin ist und bleibt, mit Verlaub, auch der moderne Fußball ein so archaisches Phänomen wie, sagen wir, die sophokleische Tragödie, in der auch viel gelitten wird und die auch keine Zuschauer, sondern ausschließlich Ritualteilnehmer kennt. Mit dem Leidensbegriff, den die moderne Kultur ausgebildet hat, hat der Fußball nichts zu tun, eher schon fungiert er als Gegengift für Kulturleidende. Man kann sich kaum vorstellen, dass Adorno von diesem Mittel Gebrauch gemacht haben sollte. O-Ton Youtube: "[M]an muß […] daran erinnern, daß die Menschen, die also auf dem Sportfeld zuschauen und zwar in allen Ländern […], gegen die Fremdgruppe, also gegen das ausländische Team, sich in einer Weise benehmen, die den einfachsten Anforderungen der Gastfreundschaft [...] aufs Krasseste widerspricht." Nun ja; Adorno war eben Theoretiker von "Gruppenverhalten" und als Fußball-Fan ist er so schwer vorstellbar wie als Spieler. Oder doch? Gibt es vielleicht auch bei ihm Rudimente eines Fan-Begehrens, die nicht in der Analyse von Gruppenverhalten aufgehen und theorieimmanente Selbst-Widerstände artikulieren? Dagegen spricht vorläufig die übermächtige Tradition des Leidens an der Kultur, der Adorno ganz ohne Zweifel verhaftet ist, eben weil er ihr Fan nicht sein konnte oder wollte.
Wie die Gesichter der Menschen, die in früheren Epochen gelebt haben, ausgesehen haben, wissen wir nicht. Wir haben keine Ahnung, welche Gesichtszüge sie hatten. Uns ist unbekannt, mit welcher Miene sie ihre Zeitgenossen angeschaut haben, wie ihr Lächeln, ihre Trauer, ihre Angst oder ihr Zorn ausgesehen haben mögen. Und wir wissen nicht, ob wir das Antlitz der früher lebenden Menschen als schön und angenehm empfänden oder uns lieber abwenden würden. Wir kennen ihre Züge nur durch bildliche Darstellungen: von Skulpturen, aus deren ebenmäßigen Gesichtern uns die steinernen Augenhöhlen wie blind anschauen, von den Abdrücken der Grabmasken mit ihren toten Blicken, denen immer etwas Fremdes oder Geheimnisvolles anhaftet, oder aus der Malerei, aus deren Geschichte die Gattung des Porträts hervorgegangen ist. In ihm verdichtet sich die Idee vom getreuen Abbild einer Person mit individuellen Gesichtszügen, so dass es zum Modell und Ideal des Bildnisses geworden ist: das Porträt als ähnliches Abbild eines lebenden Urbildes, in dem dessen Gesicht als gleichsam natürlicher Ausdruck des Charakters eingefangen ist. Doch bildet das Porträt nicht nur das Ideal von Gesichtsdarstellungen, es ist auch deren Sonderfall. Sowohl die Gesichter, die uns aus der Zeit vor dem Zeitalter der Porträts überliefert sind, als auch die medialen Gesichter und die Dekonstruktionen in der Kunst der Moderne machen deutlich, dass uns Gesichter überwiegend in Gestalt von Artefakten vertraut sind. Das Bild vom Menschen basiert nicht unwesentlich auf der Geschichte von Bildnissen.
Gesichter in Lyrik und Prosa verweisen auf vielfältige Techniken ihrer verbalen Kreation - und ihrer Auflösung. Anders als die Bildkunst, die Gesichter simultan evident macht, konstituiert sich das Verbalporträt (in der Regel) linear-sukzessiv. Es ist medial zur Fragmentierung des Motivs und zur Anordnung der semiotischen Einheiten in einer eindimensionalen Abfolge gezwungen: das heißt, die Zerlegung des darzustellenden Gesichts ist zwingend notwendig, ein Moment der Auflösung ist ihm seit jeher eingeschrieben. Daher experimentiert es aber auch seit jeher mit den Verfahren der Zusammenfügung (Re-Komposition) der Einzelteile. Diesbezüglich verzeichnet das poetische Porträt schon in der Renaissance erste spielerische Höhepunkte, die frappierende Ähnlichkeiten aufweisen mit den ungewöhnlichen, heute sehr bekannten Porträts des manieristischen Malers Giuseppe Arcimboldo, dessen Gesichter sich aus Blumen, Früchten, Büchern u.a. zusammensetzen und Kippfiguren zwischen Menschenähnlichkeit und Realitätsferne bilden, indem sie ihren Komposit-Charakter ostentativ zur Schau stellen. Die punktuelle Feststellung vergleichbarer Darstellungsprinzipien wirft notwendig die Frage auf, ob und inwiefern sich Auflösungserscheinungen in verbalen und pikturalen Porträts trotz ihrer Mediendifferenz stilhistorisch parallelisieren lassen – so lautet die Rahmenfrage, die erneut aufzugreifen ist nach einer Betrachtung verschiedener in Auflösung befindlicher Verbalporträts. Die einzelnen Werkanalysen sind konzise, zugunsten eines möglichst breiten Spektrums fazialer De-Kompositionen.
Die leitende Prämisse der folgenden Überlegungen besteht auch in der These, dass Hegel mit dem Ende der Kunst eine Einsicht formuliert hat, die für die literarische Moderne konstitutiv ist. Mit der vordergründigen Wiedereinsetzung Hegels verbindet sich allerdings ein kritischer Einwand, der sich wiederum von Hölderlin her formulieren lässt. Wie die Auseinandersetzung mit Hegels Ästhetik deutlich macht, lässt die Verschränkung von Gattungspoetik und Geschichtsphilosophie, den Ort der modernen Literatur auf eigentümliche Weise unbestimmt. In dem Maße, in dem Hegels einseitiger Blick auf die seiner Meinung nach vorbildliche Kunst der Antike an der Eigengesetzlichkeit der Poesie in der Moderne vorbeigeht, erscheint Hölderlins Poetik als ein Korrektiv, das die negative These vom Ende der Kunst erst produktiv werden lässt. Das Ziel der folgenden Ausführungen liegt dementsprechend darin, ausgehend von der gattungspoetischen und geschichtsphilosophischen Bestimmung von Tragödie und Lyrik bei Hegel und Hölderlin einen Begriff der Poetik zur Geltung zu bringen, der die These vom Ende der Kunst ernst nimmt und es dennoch erlaubt, eine Poetik der Moderne zu entwickeln. Damit ist zugleich das methodische Vorgehen der Arbeit gekennzeichnet. In einem ersten Schritt geht es darum, Hegels These vom Ende der Kunst in einem kritischen Durchgang durch seine Ästhetik noch einmal eine bestimmte Plausibilität abzugewinnen. Die Diskussion der Verschränkung von Geschichtsphilosophie und Gattungspoetik, die Hegels Ästhetik auszeichnet, führt in einem zweiten Schritt zu einer kritischen Rekonstruktion seiner umstrittenen Lektüre der Sophokleischen "Antigone", die zugleich zu Hölderlins Poetik als einer Alternative zu Hegels Ästhetik überleitet, in deren Zentrum die Frage nach dem Verhältnis von Kunst und Recht steht.
Das, was wir Kulturproduktion nennen, ist nicht per se antithetisch zur Macht. Der 'bösen' Realität der Politik steht nicht die 'gute' Fiktion der Künstler gegenüber. Wer Literatur produziert, Bilder in die Welt setzt oder vor einer Kamera agiert, ist nicht automatisch 'gut'. Wie z. B. der amerikanische Performancekünstler Vito Acconci betont, besteht vielmehr ein vorgängiges Verhältnis zwischen der Realität der Macht und ihrer Fiktionalität, und die übliche Verwunderung darüber, wie Metaphern, Witze, oder überhaupt Fiktion zu Wirklichkeit werden, wird weiter bestehen, wenn man hier eine Demarkationslinie zieht. Wie Adorno betont, entscheidet sich gesellschaftlich an den Kunstwerken, "was an Inhalt aus ihren Formstrukturen spricht." Es ist genau dieser Aspekt ästhetischer Wirksamkeit, der Regis Debray dazu brachte, zu behaupten, dass "der Mai 68 der Studenten wie auch die Revolutionen des 19. Jahrhunderts vom italienischen Theater gestaltet wurden, mit seinen Holzbühnen, szenischen Posen, emphatischen Gesten und klangvollen Slogans." Wie Debray betont, war dies "die letzte große Theateraufführung der Geschichte". Meine These ist nun, dass sich an diesem vorgängigen Verhältnis zwischen der Fiktion der Macht und der Realität der Macht vor allem die politischen Identitätsdiskurse der letzten Dekaden – insbesondere diejenigen seit 1989 – festmachen lassen. Um es anders zu formulieren: Dort, wo Identität behauptet, demonstriert oder zelebriert wird, fiktionalisiert sich die Politik – bzw. umgekehrt: Dort, wo Politik theatralisch wird, ist auch ein Identitätsdiskurs nicht fern.
Im Jahr 1923 veröffentlichte László Moholy-Nagy in der amerikanischen Zeitschrift Broom den Artikel "Light: A Medium of Plastic Expression", dessen Aussagen in einer Beobachtung münden, die vom ihm selbst in seinen folgenden Schriften präzisiert und weiterentwickelt und die 1931 von Walter Benjamin in seinem Essay über die Fotografie als Gedanke übernommen wird. Moholy-Nagy schreibt: "An dieser Stelle muß unterstrichen werden, daß unsere intellektuelle Erfahrung formal und räumlich die optischen Phänomene, die das Auge wahrnimmt, vervollständigt und zu einem homogenen Ganzen zusammenfügt, während die Kamera das rein optische Bild wiedergibt (die Verzerrung, die schlechte Zeichnung, die Perspektive)." Diese Formulierung der genuinen Poiesis, die aus einer Verbindung physiologischer und psychologischer Vermögen des Menschen mit den Medienkünsten entsteht, die zu einer Neuordnung der Sinne, zum Experimentieren mit und der Erforschung von Wahrnehmungsprozessen leiten sollte, gründete in der Forderung nach einem 'Neuen Sehen', das, als "optische Wirksamkeit" - erstmals von Moholy- Nagy formuliert - zu einem Charakteristikum der Avantgarde wurde. Das Motiv dieser Suchbewegung - der hier nachgegangen werden soll - lag in einer Antwort begründet, die man auf die Frage zu geben suchte, wie sich die Verbindung der Sichtbarmachung des Unsichtbaren mit der Bewusstwerdung des Unbewussten, also der Ausbildung eines 'Optisch-Unbewussten' verbinden ließe, um im Anschluss eine neue Th eorie des Blicks - als ein Sehen über den rein physiologischen Sehakt hinaus - zu etablieren.
Am "Funktionsübergang von Dichtung und Publizistik", so Wolfgang Preisendanz, bilde sich bei Heine eine Kunstprosa aus, die Einspruch gegen Hegel erhebt und das Fortleben nicht mehr schöner Kunst in Gestalt moderner oder realistischer Kunst verbürgt. Ob Heine seiner Hegel-Bewunderung zum Trotz als Kronzeuge neuer, moderner Kunst gelten darf, sei dahingestellt. Eine Entscheidung darüber hinge nicht zuletzt von dem an ihn angelegten Modernebegriff ab. Der geläufige - mit Heine als Übergang - zeugt jedenfalls 'contre coeur' vom Rechtfertigungszwang, den Hegels Diktum zumindest auf Literarhistoriker immer noch ausübt. Doch nur bedingt kann Heine ihren Absichten dienlich sein. Dass er selbst, trotz gelegentlich ausgedrückter Hoffnungen, denen zufolge "die neue Zeit […] auch eine neue Kunst gebären […], sogar eine neue Technik" hervorbringen würde, doch eher pessimistisch in die Zukunft des "greisen Europa" sah und die Frage zu bejahen geneigt war, die er am Ende des Berichts über die Gemäldeausstellung von sich wies: "Oder hat es überhaupt mit der Kunst und mit der Welt selbst ein trübseliges Ende?", soll im Folgenden als ein Aspekt seiner Formel vom Ende der Kunstperiode erhellt werden.
Der Einfluss des Klimas und Wetters auf den menschlichen Körper rückte seit dem frühen 19. Jahrhundert zunehmend in den Mittelpunkt wissenschaftlicher Untersuchungen. Die unmerkliche Allianz mit einer um die Jahrhundertwende populär werdenden naturheilpraktischen Diagnostik ließ einen ganzen Schwung meteorobiologischer Schriften folgen, und diese proklamierten einhellig den gegenseitigen Austausch zweier Systeme: des menschlichen Körpers und des ihn umgebenden Luftraums. Dabei handelte es sich zunächst um einen Raum ohne greifbare Gegenständlichkeit. Es ist demnach kein Zufall, dass eine vergleichbare Korrelationsbildung nun auch in der kunsttheoretischen Diskussion um den Einsatz der bildnerischen Mittel, jener "malerischen Ausdehnung des Raumes", wie Kandinskij es nannte, aktuell wurde.
Die Zuspitzung der Problemkonstellation Virtuosentum versus Kunst im
Vormärz läßt sich plausibilisieren an Balzacs Roman "Les Illusions perdues". Hier wird nämlich die kunstkritische Kontroverse um Virtuosentum und Künstlertum und gleichzeitig das produktionsästhetische, narratologische Problem Feuilletonismus und Kunst zusammen- und enggeführt.
Im Folgendem werden (I.) die Handlungsspielräume und Gestaltungsmöglichkeiten der weiblichen Obervormünderin und Landesadministratorin Anna Amalia umrissen. Dann wird (II.) diskutiert, welche Formen und Handlungsspielräume sie während dieser Zeit für ihre Ambitionen als Kunstliebhaberin und dilettierende Künstlerin fand. Abschließend wird (III.) die Ausgangsfrage aufgenommen - "höfische Musenpflege als weiblicher Rückzugsraum?" Es handelt sich ausdrücklich um eine Fallstudie, um den Zusammenhang zwischen Hofkultur und aufklärerischen Reformen zu thematisieren. Vergleiche müssen mangels Raum und ähnlicher Studien außen vor bleiben.
Die zentralen Begriffe "Kunstliebhaberei", "Geselligkeit" und "Mäzenatentum" vorab verbindlich zu klären, ist im Hinblick auf die unterschiedlichen Fragen, Methoden und Erkenntnisinteressen der Einzeldisziplinen, die sich mit Anna Amalias "Musenhof" beschäftigen, nur bedingt möglich. Die Studien dieses Bandes [- hervorgegangen aus einer Tagung des Jenaer Sonderforschungsbereichs 482 "Ereignis Weimar-Jena. Kultur um 1800" im Jahre 1999 -] sollen jedoch Wege weisen, ihre gegenseitige Bedingtheit, aber auch ihre Eigenständigkeit stärker deutlich zu machen. [Die Studienergebnisse sowie die daraus resultierenden neuen Fragestellungen innerhalb der Forschung präsentiert Justus H. Ulbricht überblicksartig im Einleitungstext zum 2001 erschienen Tagungsband.]
Auch wenn es in der Regel eilt: bevor man ein Kunstwerk erhalten kann, muss man es angemessen zu beschreiben wissen, sonst läuft man Gefahr, grobe Fehler zu begehen. Dies gilt für ein Werk auf Basis "alter" Materialien wie Stein, Holz, Leinwand, Fasern, Bindemittel und Pigmente, dies gilt in nicht geringerem Masse für ein Werk, das moderne Materialien enthält: Kunststoffe, synthetische Farben, Halbleiter und elektromagnetische Felder. Die Definition dessen, was eigentlich das elektronische Kunstwerk ausmacht, führt mitten in die Thematik, was zu berücksichtigen und was zu unternehmen ist, wenn das Werk vom Neuzustand in die Alterungsphase eintritt. ...
In diesem Beitrag sollen die Differenzen zwischen der Praxis und den zeitgenössischen Idealen von Geselligkeit, Mäzenatentum und Kunstliebhaberei an Anna Amalias Hof zwischen 1775 und 1807 aufgezeigt werden. Als Voraussetzung dafür wäre es wünschenswert, alle Behauptungen der ,Musenhof‘-Legende, wie sie in den Biographien und sonstigen Publikationen über Anna Amalia und ihrem Hof kursieren, ausführlich und systematisch zu widerlegen. Dies ist im Rahmen dieses Aufsatzes nicht möglich. In den ersten Abschnitten werden daher drei Elemente der historiographischen Überhöhung, die bereits für die zeitgenössische Stilisierung des Hofs zentral waren, thesenhaft bzw. anhand von einschlägigen Gegenbeispielen zurechtgerückt. Es soll gezeigt werden, daß sich (I.) Geselligkeit und Kunstliebhaberei am ,Musen-hof‘ Anna Amalias in wesentlichen Phasen nicht im politikfreien Raum bewegten, und daß (II.) die Intentionen und Wirkungen ihres Mäzenatentums sowie damit verbundene Geselligkeitskonzepte in der Forschung überschätzt wurden. Anschließend wird (III.) genauer darauf eingegangen, wie sich die Freiräume der Herzogin als kunstliebhabender Gesellschafterin in den Jahren 1790 bis 1807 verengten. Diese verengten Freiräume werden (IV.) mit den Sinnkonstruktionen kontrastiert, die Anna Amalia und ihre Zeitgenossen ihrer Tätigkeit als Gesellschafterin, Kunstliebhaberin und Mäzenin verliehen, d.h. als Fürstin, die die Rahmenbedingungen der Geselligkeit und der künstlerischen Betätigung an ihrem Hof mitgestaltete. Mit diesen Sinnkonstruktionen wurde die Praxis von Geselligkeit, Kunstliebhaberei und Kunstförderung am Hof Anna Amalias überhöht. Dabei klafften Idealisierung und Realität phasenweise beträchtlich auseinander. Die ,Musensitz‘-Vision wurde zur ,Ideologie‘, womit hier vulgärmarxistisch ein "falsches Bewußtsein" der Realität bezeichnet wird. Am Ende ihres Lebens wurde der Herzogin diese Diskrepanz selbst bewußt. Abschließend soll (V.) gefragt werden, inwieweit die spätere historiographische ,Musenhof‘-Legende an die zeitgenössischen Stilisierungen des ,Musensitzes‘ anknüpfte, die von der Herzogin und ihrem engeren Hofstaat selbst ausgingen.
Während Fausts letzte Worte seit je den Kommentierungswillen der Interpreten herausfordern, macht sie die anschließende, das Drama erst abschließende Szene Bergschluchten vergleichsweise sprachlos. Schon das opernhafte Arrangement und die überschwenglichen Reime entziehen sich dem zugreifenden Gedanken, mit dem das Gemüt sich sonst wappnen mag. Zweifellos handelt es sich hier, wo es aus schwer erfindlichen Gründen mit Fausts Unsterblichem himmelan geht, um die abgründigste Szene der ganzen Dichtung. Scheu befiel schon ihren Autor bei der Abfassung vor jenen "übersinnlichen, kaum zu ahnenden Dingen", denen gegenüber man sich "sehr leicht im Vagen hätte verlieren können". Daß er diese Scheu überwunden und die Gefahr der Verschwommenheit "durch die scharf umrissenenen christlich-kirchlichen Figuren und Vorstellungen" zu bannen gesucht hat, wurde von den Interpreten jedoch erst recht als Verständnisbarriere erlebt. ...
Im Frühjahr 1998 lief in New York eine Retrospektive des 47jährigen, amerikanischen Videokünstlers Bill Viola. Die Ausstellung wurde zuvor in Los Angeles gezeigt. 1999 ist sei in Europa zu sehen (Amsterdam, Frankfurt/M.), sodann in San Francisco und Chicago: ein Programm bis zum Jahr 2000. Bill Viola soll zum Klassiker werden. In New York hatte das Whitney Museum of American Art seine beiden oberen Stockwerke freigeräumt, um siebzehn Videoinstallationen Raum zu schaffen. Man betrat vollständig abgedunkelte Stockwerke, in welche die Installationsräume labyrinthisch eingebaut waren. Es gab kein anderes Licht als dasjenige, das von den Installationen selbst ausging. Man konnte sich auch von den Tönen der Installationen leiten lassen. Das Aufsichtspersonal war von Viola geschult worden, mit etwaigen Verirrten und Verwirrten im Dunkel helfend umzugehen. Die Irritationen des Orientierungssinnes waren beabsichtigt. Man sollte in eine andere Welt eintreten. Der Gang durch die siebzehn Zellen sollte zu einer Initiation in die Welt Violas, einer Reise in die kunstvollen Phantasmen eines Gehirns. Durchaus drängte sich der Eindruck auf, daß der Gang durch die labyrinthischen Installationsräumen als eine Reise durch die inneren Kammern der Imagination Violas selbst inszeniert war. Zwar richten alle Kameras ihr Objektiv immer auf irgendein Ensemble der Außenwelt und insofern ist ihnen Referenzialität technisch eingebaut. Die Ausstellungsfolge der 'Bildkammern' Violas jedoch schien so arrangiert, daß man diese Referenz zunehmend verlor. Man tauchte in eine Bilderwelt, welche nicht die Außenwelt wiedergab, sondern direkt aus dem Bildgedächtnis und der Einbildungskraft des Gehirns zu erwachsen schien. Das machte den Besuch der Ausstellung zu einem Abenteuer, aber auch zu einer Art Intimität: es war eine Art visueller Beiwohnung der Innenwelt eines anderen Menschen, ebenso aufregend wie gelegentlich auch Scham oder das Gefühl wachrufend, man sei jemandem zu nahe getreten. Beides, Abenteuer wie Intimität, hat mit Grenzen und ihrer Überschreitung zu tun. Tatsächlich sollten die Besucher diesen Eindruck gewinnen: daß sie Grenzen überschritten, die gewöhnlich von Tabus und Verboten, von Scham oder Angst besetzt sind. Das einer Initiation ähnliche Arrangement diente einer solchen Grenzüberschreitung und Passage. ...
In welchem Sinn haben Texte […] eine räumliche Dimension - in welchem Sinn können Texte Räume sein oder die »Durchsehung« (Dürer) in ein Dahinter erschließen? […] Die Frage, was die Rede von einer Räumlichkeit der Texte bedeuten könnte, scheint sinnvoller gestellt, wo und insofern es um das geht, wovon Texte sprechen, was sie »darstellen«, wovon sie »erzählen«, »berichten«, »handeln«, also in Bezug auf die (vom Leser imaginativ zu rekonstruierende) »Referenz« des Textes. Literarische Texte sprechen oft und ausführlich von Räumen. Vielfach handeln sie von deren Erkundung und Erschließung; vielfach beschreiben sie Räumliches. Die Eroberung von Räumen ist ein klassisches literarisches Thema. Manche Texte konzentrieren sich - zumindest streckenweise - sogar auf die Schilderung von Räumlichkeiten, von Interieurs, von Landschaftlichem, von städtischen oder ländlichen Topographien, von besonderen Orten und Schau-Plätzen. Die Protagonisten durchschreiten Gebäude, durchstreifen Landschaften, treiben sich in Räumlichkeiten aller Art herum - bis hinein in den Weltraum. Mit dem Befund, daß Räume in Texten »vorkommen«, ist allerdings die Frage nach der Räumlichkeit von Texten keineswegs schon abschließend beantwortet.
Die langanhaltende Faszination des Vorschlags von Leonardo da Vinci durch "verworrene und unbestimmte Dinge", als da sind "Mauerflecken, Asche im Feuer, Wolken oder Schlamm", den "Geist zu neuen Erfindungen" anzuregen, dürfte mit der Tatsache zusammenhängen, daß wir es hier mit einer Übergänglichkeit zwischen 'reiner' Projektion (bzw. Halluzination) ohne einen äußeren Stimulus und äußere, wenn auch noch so marginale Anreize zur Imagination zu tun haben. […] Auch kann man sagen, daß die Kräfte der Identifizierung und die der Entfremdung simultan ins Spiel treten[.]
Kontroverspredigt der Berge
(1997)
Für unser Körpergefühl stehen nicht viele Richtungen zur Verfügung: vor und hinter, rechts und links von uns, unter und über uns. Es sind dies die horizontalen und vertikalen Orientierungen im Raum, aber auch im Haus der sprachlichen Symbole. Da der Mensch ein Landtier ist und seine Geschichte mit der Besiedlung flacher Gebiete anhob, scheinen ihm die Tiefen und Höhen weniger natürlich als die horizontalen Erstreckungen. Von den letzteren ist diejenige 'hinter uns' immer ein wenig unheimlich: was sich hinter unserem Rücken abspielt, außerhalb unseres Sehfeldes, weckt die Angst vor unbestimmten Gefahren. Das Ohr muß dann ersetzen, was dem Auge entgeht. Die Sprache bewahrt alte Gefahren im Gedächtnis: jemanden zu hintergehen, in einen Hinterhalt zu locken, gar hinterrücks zu überfallen, oder wie Hagen den Siegfried meuchlings von hinten an seiner einzig verwundbaren Stelle zu treffen - dies sind Spuren dessen, was als hintertriebene Heimtücke gilt, während es dem Feldherrn als strategische Schläue angerechnet wird, wenn er die feindlichen Reihen umgangen hat und diese vom Rücken her angreift. Von Cannae über den Schlieffen-Plan bis zu den Kesselschlachten des II. Weltkriegs reicht der martiale Mythos der listigen Überwindung des von hinten überraschten Gegners. Wer souverän bleiben will, hält sich den Rücken frei. Hinten, noch immer, ist unsere Siegfrieds-Stelle, das Alpha Privativum, das in seiner Geheimnishaftigkeit ebenso sehr das Privatissime unseres Selbst wie dessen tiefste Verletzlichkeit verbirgt. Man geht nicht fehl, den Schrecken und die Plötzlichkeit mit dem hinterrücks überfallenden Bann der Glieder und ihrer Motilität zu verbinden. Der Partisan muß dies nutzen als seinen einzigen Vorteil dem überlegenen Feind gegenüber. ...
Der folgende Beitrag will anhand der exemplarischen Lektüre zweier Aufsätze zeigen, was Lou Andreas-Salomés beschäftigte, wie und in welche Diskussionen sie sich einmischte und warum die Rezeption ihrer Texte schwierig ist; er will aber auch die Richtung andeuten, in der sich Fragen und Auseinandersetzungen Lou Andreas-Salomés bis in die Gegenwart fortgeschrieben haben. Am Beispiel der beiden beinahe zeitgleichen, thematisch so verschiedenen Texte "Grundformen der Kunst" (1898) und "Der Mensch als Weib" (1899) soll im folgenden Lou Andreas-Salomés Stimme, wie sie in der Polyphonie der Jahrhundertwende erklang, wieder zu Gehör gebracht werden. Daß die Aufsätze trotz ihres thematischen Unterschieds in denselben lebensbejahenden Versuch nach anthropologischer Selbstbestimmung münden, macht sie zu exemplarischen Texten für ihr Werk insgesamt.
Trotz einiger vorliegender Arbeiten zu Hofmannsthals Kunstrezeption ist die Frage nach der spezifischen Art seiner Wahrnehmung von "Bildern" und deren Bedeutung für sein Werk noch weitgehend unbeantwortet. Hier setzen die folgenden Überlungungen ein. Hoffmannsthals Interesse an bildender Kunst zeigt sich schon zu Beginn seines literarischen Schaffens: in seinem Prosagedicht "Bilder" von 1891, den Ausstellungsbesprechungen und Rezensionen [...]; später dann in seinen Einleitungen zu Mappenwerken wie Ludwig von Hofmanns "Tänzen" (1905) oder den Handzeichnungen aus der Sammlung seines Rodauner Nachbarn Benno Geiger (1920). Auch in seine Versen zu "lebenden Bildern", in den lyrischen Dramen und den Libretti, sogar in einzelnen Gedichten ist eine besondere "ikonographische" Komponente erkennbar; sie gilt im besonderen Maße für die Balette, etwa den "Triumph der Zeit", was bislang noch kaum gesehen wurde. Schließlich spiegelt sich das vitale Interesse an Kunst in den Reiseaufsätzen, in Vorträgen, Briefen und Notizen. In vielen seiner persönlichen Beziehungen (von den deutschen Zeitgenossen insbesondere zu Harry Graf Kessler, Eberhard von Bodenhausen, Alfred Walter Heymel, Julius Meier-Graefe) ist die bildende Kunst ein wichtiges kommunikativ-verbindendes Element.
Für die Literatur der Jahrhundertwende werden Werke der bildenden Kunst auf eine Weise bedeutsam, die sich wesentlich von der Kunstrezeption früherer Epochen unterscheidet: Im Zusammenhang mit den literarischen Neigungen zur Symbolisierung kommt dem Bild bzw. der BiIdhaftigkeit des Ausdrucks eine zentrale Rolle zu. Bildende Kunst als Medium visueller Vergegenwärtigung erhält einen neuen Stellenwert innerhalb des literarischen Produktionsprozesses. Am Beispiel Hofmannsthals läßt sich dies besonders gut verdeutlichen, da er sich zeitlebens intensiv mit der Kunsttradition auseinandersetzte und Bild"vorgaben" in hohem Maße in sein Werk einbezog. Diese "produktive Rezeption" (G. Grimm) der bildenden Kunst bei Hofmannsthal läßt sich durch sein gesamtes literarisches Schaffen verfolgen. Sie ist nicht nur konkret faßbar in den lyrischen Dramen und den Kunstaufsätzen. Sie ist auch erkennbar in elementaren Erfahrungen (wie dem Van-Gogh-Erlebnis in den Briefen des "Zurückgekehrten" und dem Anblick der archaischen Koren im dritten Teil der "Augenblicke in Griechenland") und schlägt sich nieder in grundsätzlichen philosophischen und kunstästhetischen Fragestellungen.
Die mittelalterlichen Texte nicht als autonome Kunstwerke zu betrachten, sie nicht als situativen und zeitgebunden Verwendungszusammenhängen enthoben anzusehen, hat sich auch in der Germanistik seit einiger Zeit durchgesetzt. (...) Deutliches Indiz für dieses Verständnis des ‚Falkenlieds’ als Projektion eines feudalen Gesellschaftentwurfs ist die Falkenthematik selbst, die eines Allegorie für des Funktionieren von Herrschaft bereitstellt – wie es in ‚De arte venandi cum avibus’ Kaiser Friedrichs II. ausformuliert ist. Die Kunst mit Falken zu jagen, die Falken zur Jagd abzurichten, ist die Kunst des Herrschen in der richtigen Ausübung seiner Macht. Und genau darum geht es im ‚Falkenlied’.
Ich will versuchen, an einem Spezialfall der Ornamentästhetik zu zeigen, wie die Arabeske, damals auch Arabeskgroteske genannt, aufgrund ihrer traditionellen Disposition zu einem der bedeutendsten Grenzgänger innerhalb der klassizistischen Ästhetik wird: Sie ist hervorragend geeignet zum autonomen Spiel. Daher avanciert sie auf der einen Seite zum Favorit klassizistischer Ornamentästhetik, gefährdet aber auf der anderen Seite durch die ihr eigene, unbändige Einbildungskraft beständig den Ordnungsgedanken des Klassizismus. Die Arabeske als Grenze einer Grenzziehungskunst scheint mir geeignet, die Spielregeln klassizistischer Ästhetik und die Notwendigkeit oder wenigstens Möglichkeit des Übertritts zur Romantik plausibel zu machen.