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Hamilton vergleicht Freuds Flirt-Kritik mit der platonischen Auffassung von Mimesis. Ihr zufolge kann die Nachahmung nur abgeleitete, mildernde Darstellungen des Todes hervorbringen und so den Glauben an die eigene Unsterblichkeit stützen. Mit Rückgriff auf Roger Caillois' Schriften zur Mimikry lässt sich Mimesis jedoch auch als eine Praxis der Selbst-Verausgabung beschreiben: Wie im Flirt, so setzen wir uns auch in der Mimesis einer Verschwendung aus, in welcher Selbst-Verlust zu einer anderen Form der Gemeinschaft führen kann.
Ist der Flirt dem Krieg und dem Tod zeitgemäß? Zumindest als Marginalie, als brüsk negierter Vergleichspunkt, findet er den Weg in Freuds "Zeitgemäßes über Krieg und Tod". Diese Marginalie führt im Modus der Negation ein Zeitkonzept in Freuds Text ein, das dem Stand, den Freud psychoanalytisch im Text gegen die Erschütterungen des Krieges findet, den Boden zu entziehen droht. Das Zeitgemäße der psychologischen Wahrheit - die Freud im A-temporalen des Unbewussten vor jeglichem Zeiteinfluss schirmt - findet im Flirt sein Unzeitgemäßes. Über das vehemente Verwerfen des Flirts flüstert Freuds stiller Dialog mit Nietzsches "Unzeitgemäßen Betrachtungen", der sich im Titel ankündigt, vielleicht am lautesten.
Wir Melancholiker
(2019)
Der Beitrag, Protokoll einer (auto-)poetologischen Lektüre, exponiert in Freuds Bezugnahme auf den "amerikanischen Flirt" zwei gegen- läufige Bewegungen. Einerseits ist sein Text Vollzug dessen, worüber er spricht: ein Flirt (mit dem amerikanischen Englischen). Andererseits darf "Flirt" nicht "Flirt" selbst bleiben, sondern hat "von vornherein" auf anderes zu verweisen: Zwang zu einer Hermeneutik, die aus dem Flirt exakt das herausschält, was sich an Freuds Sätzen von selbst versteht: "nichts".
Reize des Vorüber
(2019)
Der Flirt hat eine besondere Beziehung zum Tod. Die Todesbezogenheit reicht tiefer als der gegenwärtige Abgesang auf den Flirt, der wegen Online-Dating und #MeToo angeblich ausstirbt. Wenn der Flirt bei Sigmund Freud im Kontext von Krieg und Tod auftaucht, ist dies zwingender, als es zunächst scheint.
Mit der Montage von vier szenischen Verdichtungen möchte der Beitrag zunächst nachzeichnen, wie sich Platons Unterscheidung von Himmlischer und Irdischer Liebe bei Thomasius, Kant, Forster und Hegel zur männlichen Affektökonomie eines Denkens der Ästhetik ausgeprägt hat. Es wird sich sodann die Frage stellen, ob selbst noch Freud in den problematischen Grenzen einer solchen Ästhetik gefangen bleibt, als er 1907 in Rom fasziniert vor Tizians Gemälde "Himmlische und Irdische Liebe" steht, ins "Phantasieren" kommt und beschließt, seine "Beiträge zur Psychologie des Liebeslebens" zu verfassen.
Der Beitrag erkundet die besondere Zeitlichkeit der Psychoanalyse ausgehend von Muße und Müßiggang, Konzepten, die in Nietzsches "Fröhlicher Wissenschaft" eine wichtige Rolle spielen, in Freuds Werk, in dem bekanntlich zahlreiche Arbeitsbegriffe dominieren, jedoch kaum vorkommen. Dennoch lässt sich im Briefwechsel zwischen Freud und Arnold Zweig eine wichtige Spur des Müßiggangs für Freuds eigenes Schreiben aufzeigen. Freud spricht in einer signifikanten Passage, in der es um die existenzielle Bedrohung durch den Nationalsozialismus geht, von einem "Überschuss an Muße". Aus dieser Suspension heraus entsteht sein letztes großes Schreibprojekt: "Der Mann Moses". Muße erweist sich zunehmend als ein Begriff, in dem sich eine andere Zeitlichkeit eröffnet, die etwas mit der Arbeit des Unbewussten in der Psychoanalyse zu tun hat. Der Beitrag schließt, indem die Autorin ihre persönliche Erfahrung dieser anderen Zeitlichkeit schildert. Dabei gerät der Warteraum des Psychoanalytikers als Schwellenraum zwischen der alltäglichen Arbeit und der Arbeit in der Psychoanalyse in den Blick.
Der Begriff und das Thema einer "Fröhlichen Wissenschaft" sind bei Nietzsche paradox, kämpft der Philosoph doch in vielen seiner Texte gegen die Wissenschaft. Denn dem Begehren nach Wissen haftet etwas Reaktives und somit Trauriges an. Wie wird nun eine Leserin Freuds diese Ambiguität verstehen, wenn sie sie ins Verhältnis mit der doppelseitigen und komplexen Verbindung von Todestrieb und sexuellem Trieb setzt?
While Freud regularly discusses the Oedipus complex in the context of the Sophoclean tragedy, the founding document of the psychoanalytic theory of narcissism lacks any trace of the mythological substrate. Both Narcissus, who contributed no less than his name to the psychic phenomenon of narcissism, and Ovid, in whose Metamorphoses the most elaborate and effective elaboration of the myth of Narcissus is laid down, form a conspicuous blank space in Freud's 'Introduction to Narcissism'. This article will attempt to explain this lack of tradition and, in addition, discuss the figure of Pygmalion as a productive form of narcissism that can supplement Freud's theory.
Als Rückseite des Erzählens ist das dynamisierte Unbewußte deessentialisiert und in gewissem Sinne deterritorialisiert. In dieser Hinsicht ist die Allegorisierung des Unbewußten als dem Verschütteten, das es auszugraben gilt, gerade nicht zutreffend. Das Erzählmodell, das dieser Erzählung zugrunde liegt, ist aber andererseits nur die Quintessenz des 19. Jahrhunderts, weil es zugleich auf eine restlose Essentialisierung und Reterritorialisierung hinausläuft. Das Verschüttete, das wiedergewonnen werden muß, ist ja die tote schwesterliche Geliebte als das globale Signifikat, auf das alle Signifikanten, alle Fehlleistungen verweisen (und das den Rückseiten des Erzählens allemal ein Ende setzt).
Double blind - psychogene und psychosomatische Sehstörungen nach Sigmund Freud und Georg Groddeck
(2019)
Die Psychoanalyse des frühen 20. Jahrhunderts nahm in ihren Überlegungen Sehstörungen zum Anlass, um das Funktionieren des gesunden Auges, vor allem aber die Funktionsweisen der menschlichen Psyche zu thematisieren. Anne-Kathrin Reulecke zeigt, dass sowohl Sigmund Freud als auch Georg Groddeck davon ausgingen, dass das Sehen keine rein physiologische Fähigkeit, sondern vielmehr eine psychologisch sowie sozial und kulturell präfigurierte Aktivität ist. Sie legt dar, dass Freud eine nichtorganisch bedingte Sehstörung, die sogenannte hysterische Blindheit, als Effekt eines innerpsychischen Triebkonflikts und als dessen gleichsam neurotischen Ausweg deutet. Groddeck hingegen bestimmt das gesunde Auge als Organ eines grundlegenden Nicht-alles-sehen-Könnens. Die Kurzsichtigkeit betrachtet er als sinnvolles Hilfsmittel des Körpers, das dann eingesetzt wird, wenn die normale Tätigkeit des Verdrängens beim Sehen, die Selektion gefährlicher Bilder, nicht ausreichend funktioniert.
Der Trieb Salome
(2017)
Mit den Begriffen des Triebes und der Triebschicksale nimmt Marcus Coelen die wahrscheinlich meistdiskutierten Termini der Psychoanalyse neu auf. Er verleiht den Fragen nach Trieb und Triebschicksal neue Geltung, indem er sie mit derjenigen nach den Möglichkeiten der Darstellung, der Bildlichkeit, der Erzählung und Sprache verbindet. Trieblehre und Literatur als Analogon behandelnd, präpariert Coelen mit dem "Trieb der Salome" eine besondere Konstellation heraus, die Versuche der Darstellung und ihr Scheitern auf besondere Weise verkörpert und die - als Salome des Richard Strauss - der frühen Triebtheorie und Psychoanalyse um 1905 eine Art Schwester ist. Trieb und Triebschicksal müssen genauso Bewegung und Bemühen um Darstellung wie ihre Kehrseite bleiben.
Zu den Vordenkern der Neuen Linken zählt Herbert Marcuse mit seiner weit verbreiteten, aber nicht ganz unumstrittene Theorie vom eindimensionalen Menschen. Roman Kowert untersucht in seinem Beitrag die Auseinandersetzung Marcuses auch mit Heidegger und Freud und seine damit verbundene "Intention einer Revitalisierung des Marxschen theoretischen Erbes", die für die Diskurse der 68er bedeutsam war.
Suspense
(2016)
Überraschung und 'suspense' hebt Hitchcock anhand zeitlicher Kategorien voneinander ab. Dabei ist es ein Zukunfts- und ein Wissensmodell in einem, welches Überraschung und 'suspense' systematisch trennt, da Zukunftswissen ausschließlich den 'suspense' charakterisiert - und organisiert. Zeichnet sich 'suspense' als ein über einen Informations- und Wissensvorsprung (des Rezipienten) zeitlich wohl konstruiertes Interim (des Filmemachers) aus, das die Zukunft einer Explosion als vorhersehbaren Fluchtpunkt der Gegenwart festlegt, so hat die Überraschung nicht viel mehr als eine Art präsentische Ekstase zu bieten. Das Fehlen sowohl an Wissen als auch an Zukunft lässt sie in den Augen des Regisseurs zu einem dilettantischen und drittklassigen 'thrill' verkümmern. Zukunftswissen, verstanden als "Wissen in Zukunft", so wird man aus Hitchcocks Anekdote - zugleich aber auch über diese Anekdote hinaus - schließen dürfen, macht die Gegenwart unweigerlich zur Zwischenzeit. Als solche hat sie bei Hitchcock einen klar determinierbaren Anfang und ein ebenso klar determinierbares Ende.
Am "Funktionsübergang von Dichtung und Publizistik", so Wolfgang Preisendanz, bilde sich bei Heine eine Kunstprosa aus, die Einspruch gegen Hegel erhebt und das Fortleben nicht mehr schöner Kunst in Gestalt moderner oder realistischer Kunst verbürgt. Ob Heine seiner Hegel-Bewunderung zum Trotz als Kronzeuge neuer, moderner Kunst gelten darf, sei dahingestellt. Eine Entscheidung darüber hinge nicht zuletzt von dem an ihn angelegten Modernebegriff ab. Der geläufige - mit Heine als Übergang - zeugt jedenfalls 'contre coeur' vom Rechtfertigungszwang, den Hegels Diktum zumindest auf Literarhistoriker immer noch ausübt. Doch nur bedingt kann Heine ihren Absichten dienlich sein. Dass er selbst, trotz gelegentlich ausgedrückter Hoffnungen, denen zufolge "die neue Zeit […] auch eine neue Kunst gebären […], sogar eine neue Technik" hervorbringen würde, doch eher pessimistisch in die Zukunft des "greisen Europa" sah und die Frage zu bejahen geneigt war, die er am Ende des Berichts über die Gemäldeausstellung von sich wies: "Oder hat es überhaupt mit der Kunst und mit der Welt selbst ein trübseliges Ende?", soll im Folgenden als ein Aspekt seiner Formel vom Ende der Kunstperiode erhellt werden.
Anfang April 1884 entdeckte Freud im "Centralblatt für die medicinischen Wissenschaften" eine Rezension zu einem kurzen Aufsatz Theodor Aschenbrandts. Aschenbrandts Artikel war vier Monate zuvor in der "Deutschen Medicinischen Wochenschrift" erschienen und stellte einen in Europa noch weitgehend unbekannten Wirkstoff vor, an dessen Erforschung nun Sigmund Freud erhebliche Zukunftshoffnungen knüpfte.
Aschenbrandt hatte in seiner Studie vom 12. Dezember 1883 in der "Medicinischen Wochenschrift" während einer Waffenübung eines bayerischen Armeekorps den Soldaten Kokain verabreicht und dabei eine beträchtliche Erhöhung der Leistungsfähigkeit, insbesondere der Marschfähigkeit unter erschwerten Bedingungen, sowie länger ausbleibende Erschöpfung durch Nahrungs- und Schlafentzug festgestellt. Das weckte das Interesse Freuds, der 1884 als schlecht bezahlter Assistenzarzt des Wiener Allgemeinen Krankenhauses ein verstärktes Interesse daran hatte, sich durch wissenschaftliche Forschungen einen Namen zu machen
Angesichts der Vielfalt der unterschiedlichen Beiträge zum Thema der Liminalität stellt sich zugleich die Frage nach der theoretischen Grundlegung des Begriffes im Zwischenraum von Ethnologie und Diskursanalyse. Der vorliegende Beitrag knüpft an mögliche Erweiterungen des Liminalitätsbegriffes in anderen Disziplinen an, möchte im Blick auf den Zusammenhang von Liminalität und Literalität jedoch zugleich den Akzent verschieben, indem er Freuds Psychoanalyse zum Gegenstand der Diskussion nimmt. Ausgangspunkt der folgenden Überlegungen ist nicht nur die Tatsache, dass sich im Denken Freuds auch in seinen unterschiedlichen Phasen immer wieder die Auseinandersetzung mit liminalen Phänomenen beobachten lässt, sondern zugleich der eigentümliche Ort von Freuds eigenem Schreiben im Zwischenraum von Wissenschaft und Fiktion. Das gilt für die frühe, gemeinsam mit Fließ entwickelte Theorie von der grundsätzlichen Bisexualität des menschlichen Wesens wie für die Auseinandersetzung mit dem Phänomen des Traums als einem Übergangsstadium zwischen Schlaf und Erwachen. Eine besondere Bedeutung gewinnen Theorie und Schreiben der Liminalität bei Freud in seinen späten Ausführungen zur Ich-Theorie, in denen die frühe Unterscheidung von Bewusstem und Unbewusstem eine Revision erfährt, die zugleich zu der Begründung eines Oberflächenmodells führt, in dem das Phänomen der Liminalität neu fundiert wird. Die folgenden Ausführungen konzentrieren sich nach einem kurzen Seitenblick auf die Bedeutung der Liminalität für das Denken Walter Benjamins daher auf zwei zentrale Schriften Freuds, "Die Traumdeutung" und "Das Ich und das Es".
Ur
(2018)
Die Partikel 'Ur' gehört zu den unheimlichen 'intraduisibles' der deutschen Sprache. Die Wörter, denen sie vorsteht, erscheinen archaisch, allerdings auf eigentümlich standardisierte Weise. Sie geraten "ins barbarisch Wilde oder in industrielle Reklame" - so Theodor W. Adorno in einem kleinen Beitrag für die Süddeutsche Zeitung aus dem Jahr 1967. Dort bekundet er sein Erschrecken über das Wort 'Uromi' in einer Todesanzeige, das er nicht nur als "Grimasse" vermeintlicher Nähe, sondern sogar als "Maske von Unheil" kritisiert. Das Unheil liegt für ihn in einer schamlosen Familiarität, die sich der eigentlich gebotenen Trauer versagt. Gerade darin hat das unpassend platzierte Ur-Wort einen historischen Index, allerdings einen, der aus der Geschichte direkt in die Vorgeschichte weist: "Das Uromi ist ein prähistorisches Monstrum."
"Tabu", "Verbot", "Grenze" - exakte definitorische Abgrenzungen der Begriffe erscheinen diffizil, ihre Übergänge dagegen mitunter fließend. Diese erste Bestandsaufnahme bedeutungsverwandter Wörter trifft die Frage nach der Konzeption des Tabus und seinem Gegenstandsbereich im Kern: Es geht um Grenzziehungen und um deren zeitgleiche Übertretungen, die in der Konzeption des Tabus - wie es im Folgenden konturiert werden soll - simultan angelegt sind. Leonie Süwolto gibt zur Definition des Begriffs zunächst über die Begriffsherkunft und -überlieferung Auskunft, bevor ein Überblick theoretischer Reflexionen des Tabus Aufschluss über seine Konzeption gibt. Ausgehend von der These, die im Verlauf des Textes entwickelt wird, dass Tabus als historisch und kulturell variable Grenzmarker Auskunft über gesellschaftliche Wertesysteme und ihren Wandel geben können und somit immenses kulturdiagnostisches Potential bergen, denkt Süwolto außerdem über ihre Bedeutung in der Gegenwartsgesellschaft und nicht zuletzt über das Verhältnis von Literatur, Kunst, Medien und dem Phänomen Tabu bzw. Tabubruch nach.