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Amseln, Krähen, Zinnvögel, Eulen, Schwalben, Tauben, Raben, Hühner, Nachtigallen, Pfauen, Käuzchen, Albatrosse, Enten, Geier, Schneehühner, Kraniche, Möwen - all diese Vögel durchflattern und durchfliegen Ingeborg Bachmanns Lyrik. Ihre Schönheit, Fremdheit und vielfältige Symbolik, ihr Flug, ihr Gesang und ihr luftiges Element erzeugen in den Gedichten eine poetische Fülle, die auf die Möglichkeit eines 'Anderen' verweist. Die Vögel in Bachmanns Gedichten sind Objekte: Objekte von Begehren, Liebe und Angst. Sie mögen auch Chiffren, Metaphern, Symptome darstellen, doch als Objekte gewinnen sie eine spezifische Souveränität. Denn sie fungieren keineswegs nur als literarische Gegenstände; vielmehr treten sie als eigenwillige Gegenspieler, als mächtige Fetische oder sich entziehende Wesen auf. Der Blick und die Sprache, deren Objekte die Vögel in den Gedichten sind, zeigen sich fasziniert vom Nicht-Menschlichen und von jener Souveränität. Daraus erwachsen nicht nur die Konflikte, die die lyrischen Begegnungen zwischen Vögeln und Menschen prägen, sondern auch eine leidenschaftliche Sehnsucht, von der die Gedichte sprechen: die Sehnsucht nach einem 'Jenseits' der gängigen Sprech- und Lebensweisen - und damit nicht zuletzt die Sehnsucht nach der Möglichkeit einer Sprache der Liebe, die das geliebte Gegenüber zu adressieren und zu treffen vermag.
Unmittelbar auf das fast friedensselig gestimmte Sterbegedicht der "Kleinen Passion" folgt ein seltsam derbkomisches, balladesk trotziges Klagelied einer Kröte, welche partout nicht sterben kann, ein offenkundiger Kontrapunkt oder satirischer Πάρωδος zum elegischen Passionsspiel über den Mückentod. Die beiden Gedichte stehen in Gottfried Kellers 'Gesammelten Gedichten' von 1888 in der zweitletzten Abteilung unter "Vermischte Gedichte" einander zugeordnet. Wie der Titel andeutet, findet sich hier ein recht buntes Allerlei von Texten unterschiedlichster Art und verschiedenster Entstehungszeit - die "Krötensage" wurde zwanzig Jahre vor "Kleine Passion" erstmals publiziert, nämlich 1852. Gleichwohl ist die gruppierende Hand Kellers unübersehbar, und dieser Ordnungswille wurde in der Keller-Forschung etwa von Emil Ermatinger oder Jonas Fränkel denn auch früh festgehalten. Konkret zu den beiden Gedichten sagt letzterer indessen lediglich: "Das Schicksal der Kreatur wird in zwei gegensätzlichen Gedichten abgewandelt." Der Bezüge sind freilich weit vielfältigere: Neben den jahreszeitlichen Kontrastparallelen - die "Kleine Passion" spielt im herbstlichen September, die "Krötensage" im Maienfrühling - und dem bedeutungsgeladenen Verhältnis von Leben, Körper und Hülle, dem "Futterale" - in der "Krötensage" der Stein, in der "Kleinen Passion" das dichterliche Buch - ist den beiden auch dasselbe Thema eingeschrieben: Letztlich geht es um die altehrwürdige 'ars moriendi' in ihrer dialektischen Verflochtenheit mit der 'ars vivendi'. Auch der satirische Grundklang erweist sich bei genauerem Hinschauen als gemeinsam.
Betrachtet man die gesamte Breite ästhetischer Tonarten, die Annette von Droste-Hülshoff in ihren Gedichten erprobt hat, von der Ironie, dem Sarkasmus, der Satire, der Parodie, dem Humor bis zum Schauer, Horror, Dämonischen, Unheimlichen und Erhabenen, so ist eine asymmetrische Bewertung auffallend. Obgleich sie in ihrer Jugend "durchbohrend witzig" gewesen sein solll und obgleich in der gleichzeitigen zeitgenössischen ästhetischen Theorie - von Selger bis Ruge und Vischer - die Gleichursprünglichkeit des Erhabenen und Komischen als innovative Einsicht geltend gemacht wurde, scheint es bis zur aktuellen Rezeption und Erforschung der Lyrik der Droste
ausgemacht zu sein, dass die Modernität dieser Dichterin in der "bedrohlichen Abgründigkeit", das heißt in ihrer das Unheimliche, Schaurige darstellenden Lyrik zu finden sei.
Der vorliegende Beitrag wirft einen Blick auf die Darstellung des Rollenverständnisses von Mann und Frau in der Lyrik von Frauen zur Zeit des Deutschen Kaiserreichs (1871–1918). Die Frage nach der Stellung der Frau in Gesellschaft, Familie und Arbeitswelt ist in den paradigmatisch ausgewählten Gedichten mit unterschiedlicher Schwerpunktsetzung ein Thema. In diesem Zusammenhang ist es erforderlich auch einen Blick auf die Rahmenbedingungen der Autorinnen des Kaiserreichs zu werfen, da Literatur als ein Teilbereich der Kunst ein Indikator für das Weltverständnis und Selbstverständnis der Menschen dieser Zeit ist. Zudem lassen sich die ausgewählten Gedichte durch die Betrachtung der Kennzeichen weiblicher Lyrikproduktion gegenüber der zeitgemäßen unkritischen religiösen Lyrik sowie Natur und Liebeslyrik abgrenzen und es lässt sich nach dem Stellenwert der kritischen unzeitgemäßen Gedichte fragen.
Das Gedicht ‚Ruth’ ist unverkennbar ein Liebesgedicht, ohne sich jedoch in dieser Zuordnung zu erschöpfen. Es gehört zu jenem Katalog von lyrischen Texten Else Lasker-Schülers, in dem die Autorin sich den großen Gestalten der ‚Hebräischen Bibel’ bzw. des ‚Alten Testaments’ zuwendet, um ihnen „neue Identitäten“ zu verleihen. Mit der biblischen Figur aus dem ‚Buch Rut’ hat die „Ruth“ des Gedichts „kaum mehr gemeinsam […] als den Namen“. Als biblisch-poetisches Signalwort ist der Titel rezeptionsästhetisch allerdings mit einem Verweischarakter versehen, der jede Lektüre immer wieder auf den Subtext der ‚Hebräischen Bibel’ zurückverweist.
[Dem] Wechsel vom Erhabenen ins Komisch-Lächerliche ist eine Komik unzugänglich, die im Innersten des Erhabenen hervorbricht und dazu korrespondierend ein Erhabenes, das durch und durch komisch durchtränkt ist. Umso mehr mag erstaunen, dass eine spekulative Ästhetik der Hochromantik, nämlich Karl Wilhelm Ferdinand Solgers "Erwin" und ein oft aus der Sicht der Entwicklung zur Moderne eher randständiger Lyriker - Eduard Mörike - diese moderne Erfahrung des Erhabenen als Komisches und des Komischen als Erhabenes auf je eigentümliche und doch korrespondierende Weise theoretisch und lyrisch erfasst haben.
Kreative Negativität : zu Rilkes späten französischen Gedichten außerhalb der Gedichtsammlungen
(2010)
Dieser Vortrag befaßt sich nur mit Gedichten, die während des letzten Pariser Aufenthalts von Januar bis August 1925 entstanden sind und keinem der vier autorisierten Gedichtbände ("Vergers", "Les Quatrains valaisans", "Les Roses" und "Les Fenêtres") zuzuordnen sind. Rilke kommt aus der Klinik Valmont oberhalb von Montreux als noch Kranker nach Paris. Er findet sein einstiges Paris nicht wieder. Die Stadt ist hastig geworden, er findet sie jetzt sogar amerikanisiert, im Vergleich zu ihrer Atmosphäre in der Entstehungszeit des "Malte". In den meisten während des letzten Pariser Aufenthalts entstandenen französischen Gedichten gibt es Abgelehntes, das sich von einer anderen, gültigen Instanz abhebt. Oft könnte von einer gespaltenen Doppelpräsenz die Rede sein. Diese strukturelle Verwandtschaft zwischen elf in Paris entstandenen Gedichten stellt Bernhard Böschenstein in skizzierender, komprimierter Übersicht dar.
Wie kann man Gedichte verstehen, in denen die Rolle von Lesern nicht vorgesehen ist? Was erlebt man mit derartig abweisenden Texten, und wie findet man sich hinein - zumindest ein Stück weit? Von der großen amerikanischen Lyrikerin Emily Dickinson (1830-1886) sind zu ihren Lebzeiten nur zehn Gedichte gedruckt worden, noch dazu anonym und ohne ihre Zustimmung. Dabei hätte die Autorin durchaus Publikationsmöglichkeiten gehabt. Aber sie wollte die formalen und inhaltlichen Anpassungen an den Publikumsgeschmack, die ihr Mentor, der Essayist Thomas Higginson, empfohlen hatte, nicht vornehmen. Grundsätzlich wollte sie sich nicht auf den Marktplatz des Literaturbetriebs zerren lassen. In ihrer Schlafzimmerkommode hinterließ sie bei ihrem Tod ca. 1.800 Gedichte. Ein Drittel davon hatte sie zu Lebzeiten an Freunde und Bekannte weitergeschickt, aus denen sie sich selbst das Lesepublikum für ihre Lyrik schuf. Aber zwei Drittel ihrer Gedichte hatte sie an niemanden verschickt, niemandem gezeigt und vermutlich einzig für sich selbst geschrieben. Kein Wunder, dass diese Gedichte dunkel sind. Wenn die Dichterin selbst die einzige Leserin ihres Textes ist, braucht sie nichts zu erklären. Deshalb, und nicht weil die Gedichte - wie schon behauptet wurde - "von einer sehr fernen Glossolalie gestreift" sind, wirken viele ihrer Texte so rätselhaft.