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Die Geschichte der Germanistik in Rostov am Don ist eng mit der Geschichte der Rostover Staatlichen Universität verbunden, die seit 1915 in Rostov am Don ansässig ist und aus der ehemaligen Kaiserlichen Russischen Universität Warschau hervorgegangen ist. Die Warschauer Universität wurde 1915 nach Rostov evakuiert, als Teile der deutschen Reichswehr näher an Warschau heranrückten. Nach den Wirren der Revolution und des Bürgerkriegs in Russland begann eine Zeit der mehrmaligen Umgestaltung für die erste Universität im russischen Süden. Diese Experimente wurden durch den Zweiten Weltkrieg unterbrochen, und die Rostover Universität musste nach vielen materiellen Verlusten wiederum in das Kirgisische Osch evakuiert werden. Nach der Rückkehr der Universität aus Kirgisien wurde sie neu gestaltet, wobei man versuchte, die alten Fakultäten und Institute wiederherzustellen und sogar einige neu zu gründen.
Die Germanistische Institutspartnerschaft zwischen der Staatlichen Pädagogischen Universität Barnaul (Linguistisches Institut) und der Europa-niversität Viadrina Frankfurt/Oder (Fakultät für Kulturwissenschaften) existiert seit 1993. In dieser Kooperation wurden im Laufe der Zeit gemeinsame Vorstellungen über die wichtigsten Maßnahmen entwickelt, die für eine Umstrukturierung und Modernisierung der germanistischen Lehre und Forschung an der russischen Hochschule geboten erscheinen.
In einem 2015 veröffentlichten Ranking des populären Wissenschaftsportals 'postnauka' wurde in der Rubrik "die fünf wichtigsten Bücher zur intellectual history" Reinhart Kosellecks Monographie 'Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten' vorgestellt. Der Autor Ivan Boldyrev bezeichnete den Band als eines der Grundlagenwerke der deutschen Begriffsgeschichte und hob auf die Leistungsfähigkeit der historischen Semantik ab. Dass ein deutschsprachiges Buch auf die Liste kam, stellt eine große Ausnahme dar. Deutsche Titel erscheinen in diesen Rankings ansonsten nur, wenn sie in russischer Übersetzung vorliegen. Eine intensive Rezeption der Begriffsgeschichte Reinhart Kosellecks und seiner Arbeiten zu Zeitstrukturen setzte bereits vor über zehn Jahren ein. 2004 beendete der Historiker Aleksandr Dmitriev einen Überblicksartikel zur 'Intellectual History' mit der Ankündigung, dass der Moskauer Verlag 'Novoe literaturnoe obozrenie' (Neue literarische Umschau) in seinen Zeitschriften und Büchern das Thema zunächst am Beispiel der Begriffsgeschichte Reinhart Kosellecks verfolgen werde. Bereits zwei Jahre später, 2006, konstatierte Nikolaj Koposov, der Gründungsdekan des 'Smolny College of Liberal Arts and Sciences' in Sankt Petersburg, über Begriffsgeschichte werde viel diskutiert, der Ansatz selbst aber von russischen Kollegen bzw. an russischem Material nur wenig praktiziert. Mittlerweile hat sich einiges in diesem Forschungsfeld getan. Es liegen erste Übersetzungen der theoretischen Arbeiten Kosellecks sowie neun Artikel aus den 'Geschichtlichen Grundbegriffen' in russischer Sprache vor. Auch die Zahl von empirischen und theoretischen Arbeiten zur russischen Begriffsgeschichte wächst. Die Rezeption der deutschen Begriffsgeschichte und der Arbeiten Reinhart Kosellecks erfolgt - so die einhellige Meinung von russischen Autoren - im Zuge der wissenschaftlichen Neuorientierung in postsowjetischer Zeit und der Suche nach Parametern für die Forschung. Damit verbunden indet eine Internationalisierung und Öffnung der Geisteswissenschaften nach außen statt, d.h. es erfolgt eine intensivere Rezeption internationaler Historiographien und eine verstärkte Kooperation mit ausländischen Kollegen. Spezifisch für dieses Forschungsfeld ist die gleichzeitige bzw. gemeinsame Rezeption der Begriffsgeschichte bei Historikern, Philosophen, Linguisten, Soziologen und Politologen. Im Folgenden sollen die wichtigsten Institutionen, Veranstaltungen, Kooperationen und Publikationen vorgestellt und die inhaltlichen Schwerpunkte und Spezifika der russischen Rezeption Kosellecksche Arbeiten aufgezeigt werden.
Wissensarchäologie statt Bologna-Falle : Annäherungen an die russische Germanistik als Wissenschaft
(2008)
Der fremdkulturelle Blick der Deutschen auf die Germanistik in Russland wird vor allem durch die Tätigkeit der großen Mittlerorganisationen, allen voran des DAAD und des Goethe-Instituts, geprägt. Beide haben größte Verdienste daran, dass das kollegiale Netz zwischen Ost und West inzwischen ein wenig engmaschiger geworden ist, sie ermöglichen durch Wissenschaftsaustausch und Kulturtransfer allererst die gegenseitige Wahrnehmung der Germanistiken in beiden Ländern, aber sie definieren in dieser Stellung auch in einer gar nicht zu vermeidenden Weise die Logik, durch die die kulturelle Fremdwahrnehmung auf deutscher Seite gesteuert wird.
Tief im Osten, gleichsam „am Rande der Welt“, in der Republik Burjatien (Russische Föderation), hinter dem Baikalsee gelegen und viele tausend Kilometer von europäischen Großstädten entfernt, hat der Erwerb der deutschen Sprache einen hohen Stellenwert – insbesondere für Deutschlehrer, Deutschlehrerausbilder und Deutschstudierende.
Von den Veranstaltern unserer Konferenz wurde ich gebeten, über das wissenschaftliche Profil von Herrn Prof. Dr. Dirk Kemper, Leiter des vor wenigen Wochen gegründeten DAAD-RGGU-Kooperationslehrstuhls, zu sprechen, d. h. eine Außenansicht meines deutschen Kollegen zu umreißen, sein wissenschaftliches Porträt aus der Außenperspektive eines russischen Germanisten zu skizzieren.
Webbasierte Lehre in der Kooperation : ALU Freiburg i. Br. – Staatliche Universität St. Petersburg
(2008)
Im Folgenden beschreiben wir die webbasierte Lehre (Online-Lehre) im Rahmen des Projektes „Lehrkooperation im Bereich Germanistische Linguistik zwischen dem Deutschen Seminar I der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg i. Br. und dem Lehrstuhl für Deutsche Philologie der Staatlichen Universität St. Petersburg (Russland): Studienpraktika und Online-Seminare“. Das Projekt wurde in den Jahren 2001–2005 durchgeführt und von der VolkswagenStiftung (Hannover) finanziert. Vorausgegangen war als „Pilotprojekt“ ein Workshop für Studierende aus Freiburg und St. Petersburg, der im Oktober 2000 zum Thema „Phänomene der Wissenschaftssprache“ am Lehrstuhl für Deutsche Philologie der Staatlichen Universität St. Petersburg stattfand.
Warum Sanktionen in der Ukraine-Krise unverzichtbar sind – und doch ein heikles Instrument bleiben
(2014)
Die Sanktionen gegen Russland im Gefolge der Ukraine-Krise wurden in einer Reihe von Beiträgen (siehe insbesondere die Beiträge von Thomas Schubäus und Christopher Daase) in die Nähe von ‘Zwangsdiplomatie’ gerückt und für überzogen erklärt. Der Westen trage mit einer verfehlten Politik selbst einen Gutteil der Schuld an der Eskalation der Krise und mache sich durch Hantieren mit Doppelstandards unglaubwürdig. Er habe einen sehr einseitigen Blick auf die Vorgänge zunächst in Kiew, dann auf der Krim und in der Ostukraine und sei deshalb unfähig, die berechtigten Interessen Moskaus wahrzunehmen und in seiner Politik zu berücksichtigen. Doch worin besteht, so bleibt als Frage im Raum, die Wahrnehmungsverzerrung der westlichen Politik – was sind die Tatsachen, die nicht zureichend zur Kenntnis genommen werden? Und worin bestehen die berechtigten Interessen Russlands, die der Westen missachtet haben soll?...
Die Krimkrise dominiert seit Wochen die Medien (und auch dieses Blog). Und sie wird überall anders aufgenommen: In konservativen Kreisen der USA kann man fast schon Freude ob der Möglichkeit eines neuen kalten Kriegs erkennen, während Europa mit sich selbst und seiner Angst vor den möglichen Effekten von Sanktionen hadert. Die Echokammer der Außen- und Sicherheitspolitikgemeinde diskutiert all das seit Beginn der Krise. Dabei verliert man aber schnell außer Augen, welch teils skurrile Blüten die Krimkrise tragen kann. Gott sei Dank gibt es das Internet und in ihm die kleine Insel der japanischen Netzgemeinde, die erkannt hat was wirklich wichtig ist: Die Staatsanwältin der Krim sieht gut aus.
Die zwölfjährige GIP zwischen den Germanistiklehrstühlen der Universität Augsburg und der Staatlichen Pädagogischen (heute: Humanwissenschaftlichen) Universität Chabarovsk unter der Leitung von Prof. Dr. Hans Wellmann und Frau Dr. Elena Kan brachte fachliche Aktivitäten unterschiedlichster Art hervor. Im wissenschaftlichen Bereich wurde diese Zusammenarbeit ab 1999 durch eine Reihe gemeinsamer Videokonferenzen unterstützt. Dabei waren die Eingangsvoraussetzungen an beiden Partneruniversitäten recht unterschiedlich.
Igor' Sid analysiert aus seiner eigenen Erfahrung als Organisator und Vermittler des russisch-ukrainischen Dialogs heraus, wie die im Literaturbetrieb seit der Jahrtausendwende sich vertiefenden gegenseitigen postkolonialen und postimperialen Ressentiments zu einer Verschärfung des Konflikts beigetragen haben, skizziert aber auch mögliche Auswege aus der verfahrenen Situation.
Türkisch-russische Zentralasienpolitik : geopolitische Rivalität oder strategische Partnerschaft?
(2020)
Die türkisch-russische Geschichte ist eine Geschichte der Rivalitäten. Sie wird wegen 15 Kriege zwischen den beiden Staaten als konflikthaft bezeichnet. Ihren 1. Krieg führten die beiden Staaten wegen Zentralasien, um das Khanat Astrachan (1568–1570). Der Untersuchungszeitraum dieser Dissertation erstreckt sich von diesem Datum bis zum Ende 2019. In diesem Zeitraum rivalisierten die Türkei und Russland geopolitisch in Zentralasien. Diese Arbeit konzentriert sich auf die türkisch-russische Zentralasienpolitik, bzw. darauf, wie die Türkei und Russland auf ihre gegenseitige Zentralasienpolitik reagieren, warum sie in Zentralasien geopolitisch rivalisieren (1. Forschungsfrage) und ob in Zukunft eine türkisch-russische strategische Partnerschaft in Zentralasien möglich ist (2. Forschungsfrage). Politikwissenschaftlich sind diese Fragen von großer Relevanz, weil eine mögliche türkisch-russische strategische Partnerschaft die gesamten Machtverhältnisse der Welt verändern würde.
Mittlerweile ist es ruhig geworden um Pussy Riot – hier und da noch ein Artikel über die Degeneration des russischen Rechtsstaates, der Kritiker zu langjährigen Haftstrafen verurteilt und zur Besserung ins Arbeitslager schickt (FAZ, 6.9.2012).Dabei sind die Aktionen von Pussy Riot ein Paradebeispiel für die politische Ambivalenz von Kunst...
Im Zuge des Ukrainekonflikts hat der Westen Sanktionen gegen Russland verhängt. Doch angesichts der ausbleibenden Verhaltensveränderung, wird der Nutzen der Sanktionen in Frage gestellt. Wenngleich sinkende Öleinnahmen eher Wirkung zeigen könnten, dürfen wir nicht vergessen, dass Sanktionen auch eine symbolische Wirkung zur Einhaltung geltenden Rechts aufweisen. Deshalb sollte der Westen an ihnen festhalten.
Die Vehemenz, mit der westeuropäische Literaten und Philosophen im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert sprachkritische Positionen vertreten, wird häufig als Reaktion auf die fundamentale Gesellschafts- und Kulturkrise jener Zeit gedeutet. Die Manifeste dieser Bewegung - allen voran Fritz Mauthners 'Beiträge zu einer Kritik der Sprache' (1901/02) - illustrieren ja auch eindrucksvoll, wie generelle Zweifel an der Möglichkeit und Relevanz sprachlicher Welterkenntnis einhergehen mit der Abscheu vor den als besonders inhaltsleer empfundenen Begriffen für die Konventionen, Ideale, Wissens- und Lebensformen einer bereits in der Agonie liegenden Ordnung. Auch die russische ,Intelligencija' jener Zeit wird von der Fin-de-siècle-Stimmung erfasst. Von Sprachkritik ist bei ihr allerdings nichts zu spüren. Im Gegenteil: der Glaube an die welterschließende und -verändernde Potenz der Sprache - gerade auch der poetischen - ist ungebrochen.
Nach dem umstrittenen Referendum in derOstukraine wird wieder über schärfereWirtschaftssanktionen gegen Russland gestritten. ImZentrum der Auseinandersetzung zwischenBefürwortern und Kritikern von Wirtschaftssanktionen steht die Frage: Wieerfolgversprechend sind Sanktionen, das Verhalten Russlands zu ändern?Aber das ist die falsche Frage! Ihr liegt das Missverständnis zugrunde, dassSanktionen in erster Linie den Zweck haben, einen Übeltäter zu bestrafenund ihn dazu zu zwingen, von seinem Tun abzulassen. Zwei Dinge werdenhier verwechselt: Sanktionen und Zwangsdiplomatie...
Rückkehr zu G7?
(2014)
Die Krimkrise verlangt allen Beteiligten das höchste diplomatische Geschick ab, es gilt eine militärische Auseinandersetzung zu vermeiden, denn die kann niemand wollen. Ein Versuch „des Westens“ gegenüber Russland als eine geschlossene und starke Partei aufzutreten, ist die gemeinsame Erklärung der G7, die am Montag letzter Woche (02. März) zunächst vom Weißen Haus und am Folgetag auch durch die anderen Mitglieder bekannt gegeben wurde. Darin verurteilen die G7 die „Verletzung der Souveränität und territorialen Unversehrtheit der Ukraine“ und fordern Russland auf, die Probleme auf der Krim durch friedliche Mittel zu lösen.
Die Intervention Russlands auf der Krim im März dieses Jahres und die derzeitige Situation in der Ostukraine haben zu einer Diskussion darüber geführt, ob es sich hierbei um einen „Fall für die Schutzverantwortung“ handelt. Als zentrales Argument für sein Eingreifen führt Russland schließlich den Schutz bedrohter russischer Zivilisten an. In einem Gastbeitrag erläutert Roland Harris, warum die Intervention nicht mit dem Schutz der Menschenrechte der ethnischen Russen rechtfertigt werden kann.
„Seit Jahrzehnten“, so der Münchner Kunsthistoriker Walter Grasskamp am Ende des vergangenen Jahrhunderts in einem Beitrag zur „Bilanz“ der Postmoderne-Diskussion, „muss man nun schon mit der Ungewissheit leben, nicht mehr genau sagen zu können, in welcher Epoche man sich eigentlich befindet.“ (Grasskamp 1998: 757) Die damit angesprochene Erfahrung von Verunsicherung und das hiermit zugleich verbundene desillusionäre Lebensgefühl, deren zeitgenössische Verbreitung sich nicht zuletzt an der Beliebtheit der bereits Mitte der 1980er Jahre von Jürgen Habermas geprägten Formel einer „neuen Unübersichtlichkeit“ (vgl. Habermas 1985: 139) ablesen lässt, blieb freilich nicht nur auf jene westlichen Länder beschränkt, deren Fortschritts-, Planungs- und Freiheitsvorstellungen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts – vor dem Hintergrund einer bis in die Anfänge der Neuzeit zurückreichenden und namentlich im Jahrhundert der Aufklärung und dann im Zeitalter der Naturwissenschaften in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts forcierten Rationalisierungs-Euphorie – ausgehend von den 1970er Jahren inzwischen an ihre Grenzen geraten sind.
Rentenreform in Russland : heutiger Stand und Entwicklungsperspektiven im internationalen Vergleich
(2006)
Das Rentensystem ist ein wichtiges Element jeder modernen Volkswirtschaft. Heutzutage werden Rentenreformen sowohl in den Industriestaaten als auch in den Transformationsländern diskutiert und praktisch umgesetzt. Jedoch sind die Ursachen bzw. Ziele der Rentenreformen in einzelnen Regionen zu unterscheiden. Während der demographische Wandel in den Industriestaaten zur Notwendigkeit der Erhöhung der Einnahmen bzw. Kürzung der Ausgaben der Rentensysteme geführt hat, kämpfen die Transformationsländer mit den Folgen des sozialistischen Systems der Alterssicherung und den Problemen des Transformationsprozesses. Vor diesem Hintergrund diskutiert diese Arbeit die Notwendigkeit sowie die ersten Schritte der Umsetzung der Rentenreform in Russland, setzt diese in Relation zu den Reformschritten in Lateinamerika und Osteuropa und analysiert die Perspektiven zukünftiger Reformen in Russland.
Im russischen Denken vollziehen sich um 1900 Transpositionen des Synergiebegriffs aus dem theologischen Diskurs, der sich durch seine Herkunft für eine universalistische Verwendung eignet. Dabei werden die Implikationen der gottmenschlichen 'cooperatio' und des anthropologischen Transformationspotentials auf andere Relationen in Natur und Gesellschaft übertragen. Zudem haben zu Beginn des 20. Jahrhunderts holistische Modelle des Zusammenwirkens Konjunktur. Entsprechende synergetische Figurationen in Religionsphilosophie, Kunst und Wissenschaft der russischen Moderne, ihre ambivalente Rezeption in frühsowjetischen Werken und das Wiederaufleben von Synergieparadigmen in der postsowjetischen Ära sind Gegenstand der folgenden Darstellung.
Die russische Avantgarde ist als Kunst der Vorhut bekannt. Ihr berühmtester Fotograf Alexander Rodtschenko verkündete Anfang der 20er Jahre: "Das konstruktive Leben ist die Kunst der 'Zukunft'" und brachte damit eine Fortschrittshaltung auf den Punkt, wie sie in jenen Jahren auch für den kapitalistischen Westen galt. Anders aber als im Westen kam die Avantgarde-Kunst nach der Oktoberrevolution in Russland in die seltene Position, an dem großen Projekt des Aufbaus der neuen sozialistischen Gesellschaft beteiligt zu sein und setzte dadurch etwas in Bewegung, was anderswo in der Welt noch nicht einmal vorstellbar war: die Flexibilisierung der Zeit - das Spiel mit der Zeit. Hatte das 19. Jahrhundert die zeitliche Synchronisierung in Form der Taktung des industriellen Arbeitstages, der Vereinheitlichung der Eisenbahnzeiten und der Ordnung der Welt in Zeitzonen hervorgebracht, schien es Anfang des 20. Jahrhunderts um mehr zu gehen als das Standardisieren - um die Steigerung von Zeit, also um erhöhte Geschwindigkeiten durch neue Fortbewegungsmittel, um steigende Arbeitsleistung und um zunehmende Lebenserwartungen. Diese ökonomische Haltung erfuhr in den künstlerischen Experimenten der 20er Jahre eine enorme Vervielfältigung: Zeit wurde eine Variable für die verschiedensten Manipulationen wie das Springen in der Zeit oder Collagieren von Zeit, wenn es auch bei diesen Verfahren immer um das Vorwärtsstreben ging. Schließlich galt es, die Zukunft des Neuen Menschen nicht nur zu propagieren, sondern auch herbeizuführen und Beschleunigungsprozesse allein schienen hier nicht effektiv genug. Man musste die ablaufende Zeit irgendwie überlisten oder vielmehr die Zeitwahrnehmung der Bewohner Russlands überlisten, die von all den Modernisierungsprozessen, die sie zu erwarten hatten, noch nicht viel merkten. Das war eine paradoxe Situation: Die Wirklichkeit, die Zukunft, für die die russischen Arbeiter sich anstrengen sollten, kannten sie noch gar nicht, und daher musste diese moderne Wirklichkeit zunächst von den Künstlern entworfen und vor Augen geführt werden. So entstanden Fotografien, Gebäude, Filme und Plakate, die zum einen zeigten, was zu tun war und zum anderen versuchten, zu einer spontanen Entwicklung von Fortschritt beizutragen. Hierzu bedienten sich die Künstler der Praktiken, die auch in den Wissenschaften verbreitet waren – Menschen wurden ebenso vermessen wie Stadtpläne; Fotografien montierten Ereignisse und schienen sie damit anzuhalten und sichtbar zu machen, gerade wie dies die Arbeitswissenschaften mit menschlichen Bewegungen vermochten; im Film liefen die Bilder vorwärts und rückwärts, Zeit schien völlig frei handhabbar, während in der Medizin Verjüngungsexperimente stattfanden, die versuchten, die physiologische Zeit tatsächlich zurückzudrehen. Ich möchte die wichtigsten Beispiele für diese Vorgänge präsentieren und dabei verdeutlichen, wie sehr dieses experimentelle Hantieren mit Zeit nicht nur die Künstler interessierte, sondern sich zeitgleich in der Physiologie antreffen ließ. Und dieser Zusammenhang ist entscheidend, denn er bereitet die Situation vor, die uns heute mit dieser 'wilden Zeit' der 20er Jahre verbindet und auf die ich abschließend zu sprechen kommen werde.
Wer sich mit Literaturunterricht in der Fremdsprache auseinandersetzt, muss sich auf die besonderen Bedingungen der muttersprachlichen Literaturvermittlung im Heimatland der Lerner einlassen. Die muttersprachliche bzw. landestypische Arbeitsweise erhält sich sowohl im Sprachunterricht als auch im Literaturunterricht. Diese Anmerkung scheint besonders mit Blick auf den Literaturunterricht an russischen Universitäten angebracht. Traditionsgemäß haben sie ihre Schwerpunkte eher in der Sprachvermittlung (linguistische Schwerpunkte) als in einem motivierenden und fördernden Umgang mit der Literatur der zu erlernenden Sprache. In der Konsequenz bedeutet das für die germanistischen Lehrstühle in Russland einen recht konventionellen Prozess der Sprachvermittlung und einen Literaturunterricht entlang einem vermeintlichen Kanon der deutschen Literatur. Die Aufgabenstellung sollte sich nun auf die Vermittlung eines gesamtkulturellen Umfeldes konzentrieren, um die Vermittlung des Deutschen aus der muttersprachlichen Umklammerung zu lösen. Das bedeutet die Aktualisierung der literarischen Texte und die Vitalisierung des sprachlichen Prozesses.
Die Geschichte der Beziehungen zwischen Literaturwissenschaft und Linguistik im Rahmen der Germanistik in den letzten 50 Jahren ist durchaus wechselvoll: einer zunehmenden Abkühlung, ja Entfremdung auf der einen Seite steht auf der anderen das wachsende Interesse an gemeinsam fruchtbar zu beackernden Arbeitsfeldern gegenüber. Ein Streifzug durch die Jahrgänge der Siegener Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik (LiLi) seit den frühen 70er Jahren gibt davon ebenso Zeugnis wie aktuelle Projekte kritischer Kooperation (Kasten/Neuland/Schönert 1997, Hoffmann/Kessler Hrsg. 2003) oder der Versuch einer wissenschaftsgeschichtlichen Aufarbeitung des Verhältnisses der beiden Fächer durch das Marbacher Literaturarchiv (Haß/König Hrsg. 2003). Im folgenden Beitrag wird ein kurzer Blick auf die diesbezügliche Situation in der Schweiz geworfen und ein konzeptueller Zugriff auf mögliche Berührungspunkte exemplarisch skizziert.
Unsere Erwartung war anders als sonst – freudig, doch nicht frei von Erregung und leiser Furcht: Wird man im Kreml das gegebene Wort halten und nach einem Jahr die Rückkehr in die russische Heimat erlauben? Als Gast Heinrich Bölls kam Lew Kopelew im November 1980 nach Deutschland. In der Bonner Wohnung des Slawisten Wolfgang Kasack konnte ich mich ihm wenige Tage später vorstellen: Er war groß, von beeindruckender Physiognomie – nicht nur durch den Prophetenbart –, allerdings fast bleich und in der ersten halben Stunde still und in sich gekehrt.
In diesem Beitrag möchte ich den Zusammenhang von Lebendigkeit und Unsterblichkeit in den Weltvorstellungen und Kunstwerken der frühen russischen Avantgarde in St. Petersburg genauer betrachten. Künstlerinnen und Künstler wie Pavel Filonov, Elena Guro, Nikolaj Kul'bin und Michail Matjušin teilten die Überzeugung, dass die Kunst ein Medium sein könne, die Strukturen des Kosmos in seinen sichtbaren materiellen wie seinen unsichtbaren nichtmateriellen und energetischen Aspekten zu enthüllen. Diese Künstler machten die Entwicklungsprozesse, Kräfte und Formen der Natur zum Modell ihres künstlerischen Schaffens; ihre organische Ästhetik wurde von ihren pantheistischen, neovitalistischen oder monistischen Anschauungen und vom Evolutionsgedanken beeinflusst. Sie verbanden unmittelbare Naturbeobachtung mit wissenschaftlichem Denken und mit einem starken Interesse an der Natur der menschlichen Seele sowie an psychophysiologischen Fragestellungen. Künstler wie Filonov, Guro, Kul'bin und Matjušin betrachteten den Menschen als integralen Bestandteil der Natur; sie waren überzeugt, dass das menschliche Dasein den Gesetzen der Natur unterworfen sei und sich ihre künstlerische Tätigkeit an den Gesetzen der Natur ausrichten müsse.
In der Nacht vom letzten Sonntag wurde, größtenteils unbemerkt von der deutschen Presseöffentlichkeit, der italienische Softwareanbieter Hacking Team gehackt und über 400gb seiner internen Daten im Netz verteilt. Die Daten umfassen alles: E-Mails der Firmenleitung, der Programmierer und des Verkaufspersonals, interne Dokumente und Verträge und den kompletten Programmcode. Die Reaktion der Netzgemeinde war die umfassender Schadenfreude: Hacking Team stellt Spionage- und Überwachungssoftware her und verkauft diese weltweit an Regierungen – gerne auch solchen der autoritären Art. Diese Software wurde, wie die Leaks nun zeigen, tatsächlich zur Bekämpfung von Oppositionspolitikern und Menschenrechtsaktivisten eingesetzt, etwa in Äthiopien oder Sudan. Nicht umsonst führen Reporter ohne Grenzen Hacking Team in ihrer Liste der Feinde des Internets. Der Leak zeigt, dass die von diversen NGOs und Forschern, allen voran das Citizen Lab, geäußerten Vorwürfe stimmen: Hacking Team unterstützt autoritäre Regimes in Ihrem Kampf gegen Oppositionelle und ignoriert dabei auch Sanktionen, in dem es etwa an den Sudan oder Russland verkauft...
»Wenn es einen Wirklichkeitssinn gibt, dann muß es« – so folgerte Robert Musil zu Beginn des 20. Jahrhunderts – »auch einen Möglichkeitssinn geben.« Darunter versteht er die Fähigkeit, »alles, was ebenso gut [auch] sein könnte, zu denken und das, was ist, nicht wichtiger zu nehmen, als das, was nicht ist.« Mit dem Begriff des Möglichkeitssinns, der auf die Relativität und Alternativität des individuellen Denkens sowie auf die Utopie eines anderen, hypothetischen Lebens verweist, hat Robert Musil in seinem Jahrhundertroman Der Mann ohne Eigenschaften dem Kontingenzbewusstsein des modernen Menschen Ausdruck gegeben, welches am Ende des 20. Jahrhunderts zum Grundmodus der Existenz und der Verfasstheit des Individuums überhaupt werden sollte. Dem Begriff der Kontingenz liegt bei aller Unschärfe ein grundlegendes, auf Aristoteles zurückgehendes Verständnis zugrunde, welches Niklas Luhmann folgendermaßen definiert: Kontingent ist etwas, was weder notwendig ist, noch unmöglich ist; was also so, wie es ist (war, sein wird), sein kann, aber auch anders möglich ist. Der Begriff bezeichnet mithin Gegebenes (zu Erfahrendes, Erwartetes, Gedachtes, Phantasiertes) im Hinblick auf mögliches Anderssein; er bezeichnet Gegenstände im Horizont möglicher Abwandlungen.
Es war nur eine Fußnote in der deutschen Medienlandschaft: Die USA, genau genommen deren Wirtschafts- und Handelsministerium, verlängern den Vertrag mit ICANN über die Ausübung der IANA-Funktionen. Es hätte mehr Aufmerksamkeit verdient, denn hinter dieser kleinen Meldung verbirgt sich ein Kampf um die zukünftige Kontrolle des Internets...
„Eine neue Woche bringt eine neue Netzschau”. So oder so ähnlich besang es schon Jürgen Marcus, so oder so ähnlich habe ich es auch gehalten. Diese Woche nur „so ähnlich“, da es wenig Blogposts (zu Dschihadismus und dem Wissenschaftsbetrieb), aber dafür viele Artikel (zu Boko Haram, Putins „Kriegspolitik“) und Videos („Art War“, „Die Arier“ etc.) geworden sind. Viel Spaß!
Eine dramatische Woche liegt hinter uns: die Verleihung des Friedensnobelpreises und die Proteste in Hong Kong waren dabei beispielsweise wichtige Themen. Da wir über beides schon (hier und hier) gebloggt haben, fokussiert die Netzschau auf drei (tragische) Klassiker der letzten Monate: Irak und Syrien bzw. YPG gegen IS(IS), die Ukraine und Vladimir Putin, Edward Snowden und der Kampf für Privatsphäre – ergänzt durch einen Blick auf den Zusammenhang von Sport und Emanzipation von Frauen im Mittleren Osten.
Länder, die an den Grenzen einer kulturgeographischen Zone liegen, stehen leicht unter dem allgemeinen Vorurteil, dass sie an den progressiven Entwicklungen des Zentrums und der anderen Teile dieser Region nicht teilhaben. Leicht könnte man dieses verallgemeinernde Vorurteil auch auf Russland übertragen wollen, das ja bis um 1700 – sieht man einmal von den Handelsverbindungen der Hanse bis nach Novgorod seit dem Mittelalter und bis 1484 ab – eine Position der Abschottung gegenüber den westlichen Teilen Europas einnahm. Erst die zaristischen Entscheidungen von Peter dem Großen, Katharina II. und Alexander I. führten zu unterschiedlichen Formen der Öffnung Russlands nach dem Westen, die von der westlichen Welt denn auch – bei aller Zwiespältigkeit der Charaktere dieser regierenden Häupter in Russland – aufs Höchste gepriesen und mit Anerkennung begleitet wurden.
Das Ziel der vorliegenden Untersuchung besteht nicht darin, verschiedene Varianten der Übersetzungen von Novalis’ Lyrik ausführlich zu analysieren und zu vergleichen (die russische Übersetzung von Vladimir Mikuševič wurde deshalb gewählt, weil sie einfach als die „neueste“ gilt) oder über theoretische Fragen der Übersetzung zu diskutieren und „bessere“ Varianten vorzuschlagen. Die Aufgabe der Arbeit besteht vielmehr darin, an einzelnen konkreten Beispielen aus den Hymnen an die Nacht und den Geistlichen Liedern zu veranschaulichen, dass bei einer Übersetzung unvermeidlich die Semantik von vielen Wörtern, die im Deutschen nicht nur eine bestimmte Bedeutung haben, sondern auch den Leser auf ein bestimmtes Feld von kulturellen Parallelen und Assoziationen führen, verlorengeht. Es geht also um solche Ausdrücke, die selbst im Deutschen eines Kommentares, einer Erläuterung bedürfen.
Wenn wie im Falle des Instituts für Angewandte Linguistik und Translatologie der Universität Leipzig eine mehr als zehnjährige Germanistische Institutspartnerschaft mit gleich zwei russischen Partnern – den Übersetzer-Fakultäten der Linguistischen Universitäten Moskau und Pjatigorsk – nunmehr ihren Abschluss findet, so bietet es sich natürlich an zu fragen, was die GIP-Langzeitkooperation beiden Seiten an messbaren wissenschaftlichen, wissenschaftsmethodischen und curricularen Ergebnissen, an „Zuwächsen“ im Sinne der Nachwuchsförderung, des Austauschs von Dozenten und Studierenden gebracht hat. Die Bilanz – von uns dargelegt im Jubiläumsband 52 der Dokumente & Materialien des Deutschen Akademischen Austausch Dienstes – kann sich durchaus sehen lassen und rechtfertigt nicht nur die aufgewandten Mittel, sondern auch die kontinuierliche Arbeit, den nachhaltigen Einsatz und die vielfältigen Initiativen der zahlreichen Beteiligten auf beiden Seiten.
Der Lehrstuhl für Deutsche Philologie als selbständige Institution an der Philologischen Fakultät der Staatlichen Universität St. Petersburg besteht schon mehr als 80 Jahre. Um die Bedeutung des Lehrstuhls in der Geschichte der russischen Germanistik zu verdeutlichen, möchte ich einige Namen hervorragender Germanisten nennen, die in verschiedenen Perioden des 20. Jahrhunderts den Lehrstuhl geleitet haben und die auch in Deutschland weit bekannt sind.
Gagarins Raumanzug
(2015)
Raumanzüge gehören zu Astronauten und Kosmonauten wie der Feuerwehranzug zum 'Firefighter' und der Tauchanzug zum Taucher - sie sind Funktionskleidung, ohne die die Retter in der Not, Entdecker der Tiefsee und Pioniere des Weltraums ihre Heldentaten nicht vollbringen könnten. In der populären Ikonographie der bemannten Raumfahrt sind die meist monochromen, häufig amorph wirkenden Ganzkörperkleidungsstücke mit dem runden, überproportional großen Helm, die die Menschen in etwas schwerfällig sich bewegende, leicht roboterartige Wesen verwandeln, untrennbar verbunden mit dem sogenannten 'Space Race', mit 'Star Wars' und mit '2001: A Space Odyssey'. Nur der erste Mensch im Weltraum, Juri Gagarin, hatte keinen.