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"Anything which focusses the attention is an index", schreibt Charles Sanders Peirce, der Begründer des amerikanischen Pragmatismus und Vater der modernen Semiotik in einem 1893 verfassten Kapitel seines geplanten Buches "The Art of Reasoning". Alles, was die Aufmerksamkeit ausrichtet oder erzeugt, ist ein Index. Aber was heißt hier Aufmerksamkeit? Was ist mit "ausrichten oder erzeugen" - der von mir gewählten Übersetzung für den Ausdruck "focusses" - gemeint. Und, last but not least, wie soll man den Begriff des Index fassen?
»Die Spur, von der wir sprechen«, so Derrida in der Grammatologie, ist »so wenig natürlich (sie ist nicht das Merkmal, das natürliche Zeichen oder das Indiz im Husserlschen Sinne) wie kulturell, so wenig physisch wie psychisch, so wenig biologisch wie geistig«. Wie ist aber dann die Spur, von der Derrida hier spricht, zu denken? Und vor allem: Warum soll die Spur nicht an die Begriffe des Merkmals, des natürlichen Zeichens oder des Indices anschließbar sein?
Züchtung und Aufpfropfung sind Praktiken der Hybridisierung, die nicht nur der Kreuzung und Vermischung dienen, sondern darüber hinaus auch noch dispositive Funktion haben: Der Grundgedanke der Züchtung ist die von Menschen geplante Auslese, um die Genkombination zu verändern. Dabei werden bestimmte Eigenschaften verstärkt, andere werden "herausgemendelt". Das Verfahren der Aufpfropfung impliziert nun eine Beschleunigung dieses Hybridisierungsvorgangs. Die Aufpfropfung ist eine Kultivierungstechnik, die der künstlichen - nicht-sexuellen - Fortpflanzung dient - eine Technik, die seit alters her bekannt ist und im 18. Jahrhundert zu neuer Blüte gelangt, nämlich als Wissensfigur für einen aufgeklärten Umgang mit der Natur.
Chatten online
(2006)
Aus linguistischer Sicht besteht die "kommunikationsgeschichtliche Novität" des Chattens darin, dass Schrift „für die situationsgebundene, direkte und simultane Kommunikation" verwendet wird (Storrer 2001: 462), ohne in einem "systematischen Verhältnis zu einer vorgängigen oder nachträglichen Oralisierung" zu stehen (ebd.). Dabei ist natürlich auch von Interesse, wie die Teilnehmer des Chats miteinander Kontakt herstellen und mit welcher kommunikativen Grundhaltung die Äußerungen im Chat produziert und rezipiert werden (vgl. Beißwenger 2000: 39f.). Unter den Vorzeichen einer dezidiert medialen Fragestellung müssen darüber hinaus die performativen Übertragungs- und Verkörperungsbedingungen des Chats thematisiert werden (vgl. Wirth 2002a: 44).
Stellt man die Frage nach den enzyklopädischen Weltentwürfen des ausgehenden 20. und beginnenden 21. Jahrhunderts, so führt kein Weg am Phänomen des Hypertextes vorbei - hypertextuelle Netzstrukturen, das wissen gerade auch die Lexikologen, erweisen sich für die Darstellung komplexer Wissenszusammenhänge als besonders geeignet. So haben wir heute im Rahmen von Daten-CDs und des World Wide Web die Möglichkeit, auf Enzyklopädien zuzugreifen, die offline wie online als Hypertexte organisiert sind - etwa die Encyclopaedia Britannica.
Will Literarur "Wirklichkeit" darstellen, so sind die "Neuen Medien" ein Aspekt dieser Wirklichkeit, an dem sich die Gegenwartsliteratur abzuarbeiten hat. Die "Gegenwärtigkeit" der Gegenwartsliteratur beweist sich jedoch nicht nur daran, dass sie das Gegenwartsphänomen "Neue Medien" in ihren Darstellungsanspruch integriert, sondern, wie sie die "Neuen Medien" als Rahmenbedingung des Schreibens mit dem Akt literarischen Schreibens zu einer "Schreib-Szene" koppelt.
Archiv
(2005)
I. BEGRIFFSGESCHICHTE. Archiv (von gr. archeion bzw. lat. archivum) bezeichnet das Amtsgebäude, in dem bestimmte Dokumente (Urkunden, Akten, Amts- und Geschäftsbücher) aufbewahrt werden, die zu rechtlichen oder administrativen Zwecken erhalten werden sollen. In einem weiteren Sinne sind Archive Institutionen, die der selektiven Sammlung und der konservierenden Speicherung von Dokumenten aller Art (nicht nur schriftliche, sondern auch Bild- und Tondokumente) dienen. Im Unterschied zu Bibliotheken und Museen, mit deren Arbeit sich das Archiv zum Teil überschneidet, zeichnet sich das Archiv dadurch aus, daß das Archivgut, "nur zu einem kleinen Teil von vornherein als dauerndes Zeugnis [...] angelegt wurde" (Franz 1989,2).
Die Frage nach dem Rahmen berührt das Problem der Grenzziehung zwischen Text und Kontext, Text und Nicht-Text, Text und Paratext. Während für Lotman der Rahmen eines Wortkunstwerks noch dadurch ausgezeichnet ist, daß er die Grenze darstellt, die den "Text von allem trennt, was Nicht-Text ist", schließt die poststrukturalistische Texttheorie solch eine statische Grenzbestimmung aus, weil der "Text in Bewegung" wahlweise als ecriture, als "Produktivität" oder als "Gewebe" gefaßt wird.
Was läge näher als einen Beitrag zum Thema Praktiken des Sekundären mit einem Zitat zu beginnen? In seinen 1760 auf deutsch erschienenen Gedanken über die Original-Werke fragt Edward Young: "Da wir nun als Originale gebohren werden, wie kömmt es doch, dass wir als Copien sterben?" Youngs Unterscheidung zwischen Original und Kopie verweist, wie Luhmann bemerkt, auf die Tendenz des 18. Jahrhunderts, "Individualität im Copierverfahren zu gewinnen", das heißt, "sich Ziele, Anspruchsniveaus und Lebensart durch Copie zu beschaffen, also eine copierte Existenz zu führen". Dieser kopierten Existenzweise stellen die Ästhetiken von Young und Kant das Ideal des Original-Genies gegenüber.
Die Schreib-Szene als Editions-Szene : Handschrift und Buchdruck in Jean Pauls "Leben Fibels"
(2004)
"Das Aussetzen der Eingebung fülle aus mit der sauberen Abschrift des Geleisteten", rät Walter Benjamin in der achten These zur "Technik des Schriftstellers". Die Konsequenzen einer radikalisierten Variante dieser These werden bereits rund 100 Jahre früher in Jean Pauls Roman "Leben Fibels" ausgeführt. Dort setzt die Eingebung nicht nur zeitweise aus, sondern sie setzt gar nicht erst ein. Umso wichtiger wird das Ausfüllen dieser beklagenswerten Leerstelle durch sauberes Abschreiben. Dabei erweist sich "Leben Fibels" zugleich als ein Buch, das die perforrnativen und parergonalen Rahmenbedingungen des Schreibens, Druckens und Edierens ostentativ vorführt. "Leben Fibels" wirft also nicht nur die Frage nach der Schreib-Szene, sondern auch nach der Druck- und Editions-Szene auf.
Im folgenden wird es darum gehen, ein Modell von Hypertextualität zu entfalten, das zwei Ansprüchen genügt: Zum einen soll der mediengeschichtlichen Entwicklung Rechnung getragen werden, dass der Textbegriff in zunehmendem Maße durch Konzepte der Hypertextualität bestimmt wird. Zum anderen sollen die "philologischen Kemkompetenzen" - das genaue Lesen und historische Verstehen von literarischen Texten - weiterhin zentrale Bedeutung haben. Es geht mithin darum, ein Modell von HypertextuaJität zu skizzieren, das alle Möglichkeiten einer philologisch orientierten Lektüre von Texten weiterhin zulässt, darüber hinaus jedoch Perspektiven einer sowohl mediengeschichtlich als auch intermedial ausgerichteten Lektüre eröffnet. Die folgenden Ausführungen sind so besehen als eine Art "theoretische Folgekostenabschätzung" zu verstehen, die die Orientierung am Hypertextmodell mit Blick auf eine medienkulturwissenschaftliche Erweiterung des Faches Gennanistik haben könnte. Dabei werden die folgenden drei Aspekte zu berücksichtigen sein.
Die Frage nach der Praxis des Chattens könnte durch dieses Zitat aus der Minima Moralia eine rasche und endgültige Antwort erhalten: Tatsächlich erscheint der Web-Chat dem naiven Betrachter zunächst als Kommunikation zwischen entfremdeten jungen Menschen, die über räumliche Distanzen hinweg Kontakt suchen und sich, anstatt den Hut zu ziehen, mit dem barbarischen "hallöle" der virtuellen Vertraulichkeit begrüßen. (SPOOKY) Na nu, wer ist denn da da????? (Lt. Riker) hallöle SPOOKY (PaRaNoiA) hi spooky (SPOOKY) Hallo Lt. Riker!! (SPOOKY) Hallo para (zit. nach Beißwenger 2000, S. 51).
Glaubt man Schleiermacher, so ist es längst ausgemacht, daß sich "das Mißverstehen von selbst ergibt", während "das Verstehen auf jedem Punkt muß gewollt und gesucht werden" (Schleiermacher ,1990, S. 92 f.). Dementsprechend lautet die Ausgangsfrage der Sprachphilosophie: Was müssen wir wissen und was müssen wir können, um eine Äußerung angemessen zu verstehen? Ich möchte im folgenden der Frage nachgehen, welche Rolle die Peircesche Auffassung vom Interpretieren als Interpretieren sprachlicher und nichtsprachlicher Zeichen - in Form argumentierenden Schlußfolgerns - für die Sprachphilosophie spielen kann.
Diskursive Dummheit
(2001)
"Das, und nur das ist der Inhalt unserer Kultur", schreibt Karl Kraus, "die Rapidität, mit der uns die Dummheit in ihren Wirbel zieht."! In diesem Satz steckt mehr, als der hinlänglich bekannte "typisch Kraussche" Kulturpessimismus -er setzt Dummheit und Kultur in ein Verhältnis, das durch die Geschwindigkeit ausgezeichnet ist, mit der die Dummheit von der Kultur Besitz ergreift. Mit anderen Worten: Nicht die Dummheit als solche ist für Kraus das Besondere unserer Kultur, sondern die sich selbst beschleunigende "Ökonomie der Dummheit". Diese Dynamik hat sich seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts keineswegs verlangsamt, sondern verstärkt. Nie wurde in so kurzer Zeit soviel Dummheit verbreitet wie heute.
Die Schnittstelle zwischen Riss und Sprung : vom herausgerissenen Manuskript zum Hypertext-Link
(2005)
Ich möchte im Folgenden versuchen, den Begriff der Schnittstelle mit dem Begriff der Hypertextualität zu koppeln. Meine Zielrichtung wird dabei eine medien- und literaturgeschichtliche zugleich sein. Das heisst: ich möchte im Horizont heutiger, elektronischer Hypertextualität die Frage aufwerfen, in welcher Form die literarischen Quasi-Hypertexte von einst das Problem der Schnittstelle thematisiert und verkörpert haben.
Auf die Frage, was der Begriff Performanz eigentlich bedeutet, geben Sprachphilosophen und Linguisten einerseits, Theaterwissenschaftler, Rezeptionsästhetiker, Ethnologen oder Medienwissenschaftler andererseits sehr verschiedene Antworten. Performanz kann sich ebenso auf das ernsthafte Ausführen von Sprechakten, das inszenierende Aufführen von theatralen oder rituellen Handlungen, das materiale Verkörpern von Botschaften im "Akt des Schreibens" oder auf die Konstitution von Imaginationen im "Akt des Lesens" beziehen.
"Nichts komischer als eine Theorie des Komischen - wer zu diesen Worten auch nur andeutungsweise mit dem Kopf genickt hat, ist bereits gerichtet", schreibt Robert Gernhardt in Was gibts denn da zu lachen? Ähnliches gilt natürlich auch für eine performative Theorie des Komischen - allerdings mit einem entscheidenden Unterschied: Auf die Feststellung: "Nichts performativer als eine performative Theorie des Komischen", wird man vermutlich vergeblich auf andeutungsweises Kopfnicken warten. Statt dessen verständnisloses Kopfschütteln: Performativ? Muß das sein? Es muß.
"Text heißt Gewebe; aber während man dieses Gewebe bisher immer als ein Produkt, einen fertigen Schleier aufgefaßt hat, hinter dem sich, mehr oder weniger verborgen, der Sinn (die Wahrheit) aufhält, betonen wir jetzt bei dem Gewebe die generative Vorstellung, daß der Text durch ein ständiges Flechten entsteht und sich selbst bearbeitet; in diesem Gewebe - dieser Textur - verloren, löst sich das Subjekt auf wie eine Spinne, die selbst in die konstruktiven Sekretionen ihres Netzes aufginge" (Barthes 1986: 94). Dieses Zitat von Roland Barthes aus Die Lust am Text enthält so etwas wie das Programm des Schreibens und Lesens von Hypertexten. Da ist zunächst das Bild des Netzes, genauer, des "Web", das als ständig im Entstehen begriffenes Gewebe gefaßt wird. Auch der Hypertext ist, zumindest der Theorie nach, "ständig im Entstehen begriffen", ein Netz von Verknüpfungen. Die Spinne, die sich in ihrem eigenen Saft auflöst und sich dergestalt als entsubjektivierte Netzerzeugerin zum Verschwinden bringt impliziert die These vom Tod des Autors - Stichwort: "wen kümmert´s wer spinnt?"
"Hi!" hat einer gesagt, "ist es okay, wenn wir dich duzen? Willst du lieber in Englisch lesen? Gut, bis hierhin bist du vorgedrungen durch das labyrinthische Netzwerk des WWW. War es Mundpropaganda oder ein Link, bist du wahllos oder zielgerichtet durchs WWW gereist? Egal, jetzt bist du hier, und wir freuen uns, dass du nicht sofort weitergesprungen bist". Wen kümmert's? Gleichgültig wie diese Passage zunächst zu werten ist - als paratextuelles Direkt-Marketing für den Internet-Roman Spielzeuglandoder als dessen erzählerischer Anfang - der geduzte Leser fühlt sich unwillkürlich an das Konzept postmoderner Klassiker erinnert. So notiert der Erfolgsautor Flannery, eine Schlüsselfigur aus Italo Calvinos Roman Wenn ein Reisender in einer Winternacht. "Bin auf den Gedanken gekommen, einen Roman zu schreiben, der nur aus lauter Romananfängen besteht. Der Held könnte ein Leser sein, der ständig beim Lesen unterbrochen wird. (...) Ich könnte das Ganze in der zweiten Person schreiben: du, Leser ..." (Calvino 1983: 237). Im Kontext der Internet-Literatur wird eben jenes Konzept, das Flannery als Romanhandlung entwirft, zum Strukturmerkmal des hypertextuell organisierten Diskurses. Hypertexte legen es darauf an, den Lesefluß durch untereinander vernetzte Verweise, sogenannte "Links", zu unterbrechen und den Leser in einen "Taumel der Möglichkeiten" zu stürzen. Die zentrale Organisationsidee des Hypertextes ist die Vernetzung der Links mit andern Links. Dieses Netz aus Verweisen hat eine zentrifugale Wirkung. Das Link ist die hypertextuelle Aufforderung an den Leser einen rezeptiven Sprung zwischen verschiedenen Fragmenten oder zwischen verschiedenen Ebenen zu vollziehen. Dabei läßt sich der Hypertext, der explizit als unabschließbarer "Text in Bewegung" konzipiert ist, nicht zuendelesen. Man hat einen Text vor sich, der im Grunde nur aus alternativen Textanfängen besteht.
Till Eulenspiegel, erzählt das 1515 in Straßburg gedruckte Schwankbuch, kommt nach Marburg an den Hof des Landgrafen von Hessen und gibt sich dort als Maler aus. Seine Mustermappe enthält die Werke anderer Künstler und so verschafft er sich einen ganz besonderen Auftrag: Er soll den Schloßsaal mit einer Ahnengalerie ausmalen, mit dem "Herkumen der Landgrafen von Hessen". Eulenspiegel verlangt 400 Gulden und legt die Hände in den Schoß. Bis zur Vollendung des Gemäldes darf den Saal niemand betreten. Die mit der ersten Rate von 100 Gulden engagierten Gehilfen werden für ihren Müßiggang gut bezahlt und lassen daher den Schwindel nicht auffliegen. Als aber der Landgraf endlich das Werk sehen will, erklärt ihm Eulenspiegel zuvor, nur ein ehelich Geborener könne etwas von dem Bild erkennen. Der Schelm zieht im Saal den Vorhang weg und erläutert mit einem Zeigestab die Ahnenbilder, beginnend mit dem ersten Landgrafen, einem Colonna von Rom, der die Tochter Justinians zur Frau gehabt habe - eine natürlich erfundene Genealogie.
Edition und Open Access
(2005)
Der Wiener Kanoniker Ladislaus Sunthaim, einer der um 1500 am historisch-genealogischen Forschungsprojekt Maximilians I. tätigen Gelehrten, wurde von Fritz Eheim - unter anderem in seiner leider ungedruckt gebliebenen Prüfungsarbeit am IfÖG 1950 - als einer jener reisenden Historiker in der Zeit des Humanismus porträtiert, die unter anderem in Klosterarchiven und -bibliotheken nach verborgenen Quellenschätzen fahndeten. Im Zeitalter von Kopie und Mikrofilm ist es wesentlich einfacher geworden, an entlegene handschriftliche Quellen zu kommen. Heutzutage macht sich der reisende Historiker auf den Weg, um in anderen Bibliotheken und Forschungsinstituten umfangreiche kommerzielle Datenbanken und digitale Sammlungen zu konsultieren, die sich die eigene Institution nicht leisten kann oder will, denn ein unkomplizierter Fernzugriff ist aus urheber- und lizenzrechtlichen Gründen nicht möglich.
Wir alle wissen: Mittelalterliche Autoren haben schamlos abgeschrieben. Sie haben sich fremdes Geistesgut bedenkenlos zu Eigen gemacht und meistens auf korrekte Quellenangaben verzichtet. Heute bestimmt § 63 Absatz 1 deutsches Urheberrechtsgesetz: "Wenn ein Werk oder ein Teil eines Werkes in den Fällen des § 45 Abs. 1 [und weiterer Paragraphen] vervielfältigt wird, ist stets die Quelle deutlich anzugeben". Man sollte es kaum glauben: Die Werke Wolframs von Eschenbach und anderer höfischer Klassiker enthalten in ihren frühesten Handschriften keinerlei Fußnoten! "Mittelalterliche Intertextualität", schreibt Elisabeth Lienert, "auch die höfischer Romane, ist kaum exaktes Zitieren, sondern lockere Bezugnahme auf Texte, Texttraditionen, Gattungen, literarisches Hintergrundwissen". Merkwürdigerweise hat es trotzdem im Mittelalter keine Urheberrechtsprozesse gegeben.
Als Hintergrund der Übersetzungen Elisabeths von Nassau-Saarbrücken wird in der Forschungsliteratur unseres Jahrhunderts wiederholt eine kulturelle Bewegung namhaft gemacht, die man mit den Begriffen ,Ritterrenaissance' oder "Ritterromantik" belegt. So spricht beispielsweise Wolfgang Haubrichs von der "aufkomrnenden Ritterrenaissance Frankreichs und Burgunds [ ... ], wo man Motive aus ,Perceval' in prunkvolle, als Palastschmuck gedachte Teppiche webte". Einen Versuch, die Werke Elisabeths in einen grösseren europäischen Zusammenhang einzuordnen, hat Josef Strelka in seiner ungedruckt gebliebenen Wiener Dissertation von 1950 unternommen: "Feudalromantische Strömungen in der Renaissancedichtung und ihre Entwicklung".
Kann gutes Latein in einem Bewerbungsgespräch von Vorteil sein? Folgt man der Argumentation eines im Herbst 1501 vor der Tübinger Universitätsöffentlichkeit aufgeführten Dialogs, so wird man diese Frage ohne weiteres bejahen müssen. Im vierten Akt tritt ein Hofbeamter des Königs - gemeint ist Maximilian I. - auf, der als Antwort eine kleine Geschichte erzählt. In Innsbruck wandte sich ein ansonsten durchaus gebildeter Mann an Kardinal Peraudi, Botschafter des Papstes im Reich, um sich um eine geistliche Stelle, eine Pfründe, zu bewerben. Er hatte kaum die Anrede in holprigem Latein gestottert, als ihm der Angesprochene auch schon bedeutete, er solle wegtreten. Der Bittsteller lief rot an und wurde fortan am Hof nicht mehr gesehen.
Der Blick auf Dichterruhm und Dichterverehrung im 19. Jahrhundert kann leicht in Vergessenheit geraten lassen, daß das immerwährende Hauptproblem dichterischer Existenz für die meisten der damals lebenden Autoren ein ganz anderes gewesen ist: die Bezahlung, das Geld. Während die Dichter des 18. Jahrhunderts ihren Lebensunterhalt noch weitgehend aus Familienbesitz oder ihrer mäzenatischen Versorgung durch die Höfe bestreiten konnten - alles andere wäre wegen des noch nicht gegebenen Urheberrechtsschutzes auch ausgeschlossen gewesen -, sind die des 19. Jahrhunderts zunehmend auf die Einnahmen aus ihren Werken angewiesen, und hier zeigte sich, daß auf die Gunst des Publikums noch viel weniger Verlaß war als vormals auf die Gunst der Mäzene. Auch Theodor Fontane hat sich so zeitlebens weniger um sein Ansehen als um sein Einkommen sorgen müssen, und je länger je mehr interessierte ihn dieses Ansehen überhaupt nur noch unter dem Gesichtspunkt, ob es ihm auch etwas eintrug.
Wahrscheinlichkeit
(2003)
Wahrscheinlichkeit: Anschein der Übereinstimmung eines dargestellten Geschehens mit der gewöhnlichen Erfahrung. Expl: Der Begriff läßt sich auf Geschehensdarstellungen aller Art beziehen, also auf literarische (aller Gattungen) ebenso wie auf solche in Bild und Film. Hauptsächlich gebraucht wird er aber für ->Fiktion und hier für die erzählende Literatur und steht dabei zwischen dem ->Phantastischen oder ->Absurden einerseits und dem Verbürgten oder Tatsächlichen andererseits (->Dokumentarliteratur). Eindeutig und ein für alle Mal abgrenzbar ist er jedoch nicht; was für wahrscheinlich gehalten wird, kann je nach historisch-kulturell bedingten Kenntnissen und Ansichten schwanken. Unterscheidbar sind aber zwei Ausrichtungen des Begriffes: Textintern meint er die Widerspruchsfreiheit der Darstellung, textextern ihre Verträglichkeit mit dem verfügbaren Wissen.
Fontane, ja gewiß - aber muss es Effi Briest sein? Bietet nicht Irrungen Wirrungen die wahrere, Frau Jenny Treibel die deftigere, L'Adultera die erfreulichere Geschichte? Doch Effi Briest kennt jeder, kann jedenfalls jeder nennen, und weil Bekanntheit immer auch motiviert und diesen Roman nicht zu kennen auch wiederum zu wenig wäre, kann ruhig mit ihm der Anfang gemacht werden.
Nichts ist für die heutige Situation der fiktionalen Literatur bedeutsamer, nichts greift tiefer in ihr Verhältnis zur Realität ein als die Tatsache, daß von immer mehr Menschen Selbstzeugnisse erscheinen. Briefe, Tagebücher, Memoiren, Erlebnisberichte - was lange Zeit nur von Prominenten zugänglich war, erreicht uns heute zunehmend auch von Unbekannten. Wo aber die Erlebenden selbst und unverstellt von ihren Erlebnissen berichten, sind Fiktionen überflüssig bzw. müssen, um bestehen zu können, mehr sein als biographische Mimikry. Der Roman, soweit er 'Literatur' sein will, hat darauf auch längst reagiert. Mehr denn je betont er statt seines Mitteilungs- seinen Kunstcharakter, ersetzt also seinen Mangel an originärer Information durch den immer virtuoseren Gebrauch der erzählerischen Mittel. Ob diese Entwicklung wirklich so unbegrenzt weitergehen kann, wie man derzeit noch unterstellt, kann hier offen bleiben - allzu viele folgen jenen Erzähl-Experimenten ja schon heute nicht mehr. Nur der Zusammenhang als solcher sollte unstrittig sein, zumal man ihn jüngst noch einmal wie in einer Zeitraffer- Aufnahme an dem Bedeutungsverlust beobachten konnte, den gleichsam über Nacht die DDR-Literatur erlitten hat. Lange Zeit allein erzählberechtigt (und deshalb gern für einen höheren Kulturzustand in Anspruch genommen), ist mit der neuen Mündigkeit auch sie vom authentischen Erzählen eingeholt worden, und mit jedem weiteren Bericht, der über Flucht-, Stasi- und Wende-Schicksale jetzt erscheint, wird unwahrscheinlicher, daß Romane der alten Art zu solchen Schicksalen noch entstehen.
Im Frühjahr 1902 schreibt der noch wenig bekannte, eben erst mit den Buddenbrooks hervorgetretene Thomas Mann an ein "verehrtes Fräulein Hilde" in Dresden einen ungewöhnlichen Brief. Nachdem er ihr zunächst artig zum Geburtstag gratuliert und sich mit einer kleinen Plauderei hinreichend bei ihr eingeschmeichelt hat, rückt er unverhohlen mit etwas ganz anderem heraus. Es ist ein Mordfall, der sich in Dresden zugetragen hat. Vor einiger Zeit habe eine 'Dame der Gesellschaft' in der Dresdner Straßenbahn einen jungen Musiker erschossen, ob sie ihm nicht, mit den Beteiligten bekannt, mehr darüber berichten könne. Der Fall habe einen "ganz merkwürdig starken Eindruck" auf ihn gemacht, vielleicht, daß er sich seiner einmal zu einer "wundervoll melancholischen Liebesgeschichte" bedienen werde. Und dann gießt er einen wahren Sturzbach von Fragen über sie aus: nach der Dauer der Beziehung zwischen den beiden, nach den Familienverhältnissen der Täterin, ob sie Kinder habe, wie man gesellschaftlich miteinander umgegangen sei, was mit den Geschenken gewesen sei, die sie dem Geliebten gemacht haben solle, wie sich die Tat im einzelnen abgespielt habe und vieles mehr. In jedem Falle aber benötige er "Détails", sie vor allem seien ihm wichtig. Wenn sie also irgend könne, so möge sie ihm doch "bitte, bitte, bitte!" einmal alles "recht genau, recht eingehend, recht ausführlich erzählen.
Daß die Fachbegriffe der Literaturwissenschaft so unterschiedlich klar sind, hat mir ihrer ganz verschiedenen Reichweite, ihrem ganz unterschiedlichen Gegenstandsumfang zu tun. Zwar wollen alle diese Begriffe Ordnungen in die Welt der literarischen Erscheinungen hineintragen, sie uns gliedern, sortieren, überschaubar machen, aber es ist nicht dasselbe, ob es sich dabei um einen Korpus bloß von Wörtern und Sätzen handelt, zwischen denen es offen zutage liegende Übereinstimmungen gibt, oder um einen Korpus von ganzen Werken, deren einzige sichere Gemeinsamkeit zunächst vielleicht nur die ist, daß sie dem gleichen Jahrhundert entstammen. Ist in dem einen Fall der Begriff nur der identifizierende Name für eine so oder so zu erkennende Gesetzmäßigkeit (weshalb hier auch oft für dieselbe Erscheinung gleichzeitig deutsche wie fremdsprachliche Ausdrücke zur Verfügung stehen), so ist er in dem anderen Fall so etwas wie das Summenzeichen eines weitläufigen und vielleicht nie ganz abgeschlossenen Erkenntnisprozesses, auf das man zum Zwecke der Verständigung gleichwohl nicht verzichten kann. Es nützt in diesem Falle deshalb auch nichts, wenn man sich bei Unklarheiten nur mit dem Begriff selbst beschäftigt. Der Versuch, ihn 'genauer zu definieren', wie es dann heißt, führt in der Regel nur dazu, daß er sich von diesem Erkenntnisprozeß ablöst und damit seine Signifikanz erst recht verliert. Gesichert werden kann ein solcher Begriff - soweit er sich überhaupt sichern läßt - nur dadurch, daß man die Ursachen der Unklarheit aufdeckt, daß man also in die Geschichte des Begriffes zurückgeht und noch einmal prüft, in welchen Grenzen seine Bedeutung festliegt und von wo an es mit dem Verständnis und Einverständnis schwierig wird.
Der Schelm, der nur noch gibt, was er hat : Adolph von Knigge und die Tradition des Schelmenromans
(1986)
Wenn jemand zum Ausdruck bringen möchte, daß er sich um eine Sache nach besten Kräften bemüht hat und mehr als das Geleistete redlicherweise nicht anbieten kann, so sagt er unter Umständen: "Ein Schelm gibt mehr, als er hat". Nachgewiesen ist diese Redensart bereits im 18. Jahrhundert, damals noch bevorzugt auf die Bewirtung von Gästen bezogen, von der aus sie sich aber bald auf andere Zusammenhänge übertragen findet. Daß es allgemein Schelmenart ist, mehr zu geben, als man hat, ist aber natürlich nicht erst mit dieser Redensart ruchbar geworden. Denn daß nicht alles Gold ist, was glänzt, oder daß manche einem ein X für ein U vormachen, daß die hohlsten Fasser am vollsten tönen oder die seichtesten Bäche am lautesten rauschen, hat man auch früher schon gewußt und sich vor den Schelmen eine Warnung sein lassen, mag es genutzt haben oder nicht. Und die Schelme ihrerseits? Die literarischen jedenfalls, von denen hier die Rede sein soll, scheinen sich in dieser Hinsicht auf den ersten Blick auch zumeist ganz sprichwörtlich zu verhalten, ihre Umwelt wirklich bevorzugt dadurch hereinzulegen, daß sie etwas vortäuschen, was nicht vorhanden ist. Doch bei genauerem Hinsehen kann man auch gewahr werden, daß dies nicht immer so ist oder daß der Zweck solcher Täuschung auch sein kann, im wesentlichen gerade nichts vorzutäuschen oder gar weniger zu scheinen, als man ist, und um eben diese Unterschiede, die letztlich eine Entwicklung des Schelmenromans aus sozialgeschichtlichen Ursachen bedeuten, soll es hier gehen.
Von einer Ballade wie Schillers Bürgschaft den Inhalt wiederzugeben, scheint eine unproblematische Aufgabe zu sein. Führt man sie kritisch und sachgenau aus, wie Schüler ja sollen, so können sich jedoch Fragen ergeben. die durchaus heikel sind. Es kann sich dann nämlich herausstellen, daß die drei lebensbedrohenden Prüfungen, die der zu Dionys, dem Tyrannen, zurückeilende Damon zu bestehen hat, für seine Freundestreue zwar ein leuchtendes, aber durchaus nicht auch ein einleuchtendes Zeugnis sind. Der 'unendliche Regen', der herniederzuströmen beginnt, bald nachdem er sich am dritten und letzten Tag von der Schwester, der nun ehelich versorgten, verabschiedet und den Rückweg angetreten hat, mag in seinen Folgen noch hingehen: der zu überquerende Fluß schwillt binnen kurzem so an, daß die einzige Brücke weggerissen und der zur Eile Verpflichtete jäh aufgehalten wird. Aber warum tut er nun nichts anderes, als hilflos am Ufer auf und ab zu laufen und über den tosenden Strom hinweg nach einem Fährmann zu rufen? 'Stunde an Stunde' läßt er so verrinnen, obwohl er sieht, daß das Wasser ständig ansteigt, bis daß er sich endlich - es ist längst Nachmittag - ein Herz faßt und den mittlerweile zum 'Meer' gewordenen Fluß mit 'gewaltigen Armen' durchschwimmt. Warum dann also nicht gleich?
Zur semantischen Entwicklungsgeschichte von „wollen“ : Futurisches, Epistemisches und Verwandtes
(2000)
Wie hängen die verschiedenen Verwendungsweisen eines sprachlichen Ausdrucks miteinander zusammen? Diese Kernfrage der lexikalischen Semantik war schon immer ein praktisches Problem der Lexikographie und ein theoretisches Zentralthema der traditionellen Semasiologie (vgl. Paul 1894, 68ff.). In der neueren Semantik stand dieses theoretische Problem längere Zeit nicht im Vordergrund der Diskussion. Eine gewisse Stagnation in dieser Frage mag auf linguistischer Seite bedingt gewesen sein durch methodische Vorgaben strukturalistischer Bedeutungsauffassungen (vgl. Lyons 1977, 553; Heringer 1981, 109ff.) und auf philosophischer Seite u.a. durch das notorische Desinteresse der wahrheitsfunktionalen Semantik an lexikalischen Fragen.
Hundsnurscher (1996) hat mit einer umfangreichen Liste von Beispielen für Verwendungsmöglichkeiten des Verbs ziehen auf das bemerkenswerte Bedeutungsspektrum dieses Verbs aufmerksam gemacht und auch schon wichtige Hinweise auf Zusammenhänge zwischen diesen Verwendungsweisen gegeben. Der vorliegende Beitrag ist ein Gegenstück zu meiner Untersuchung des Verwendungsspektrums von schar/in Fritz (1995). Dort bin ich näher auf den bedeutungstheoretischen Status des Begriffs der Verwendungsweise und auf Probleme und Methoden der Unterscheidung von Verwendungsweisen eingegangen, so dass ich im vorliegenden Beitrag die dort explizierten theoretischen und methodischen Annahmen nur andeuten will (vgl. auch Fritz 1998, Ilff.).
Geschichte von Dialogformen
(1994)
Die Forschungslage zur Geschichte von Dialogformen muß differenziert beurteilt werden. Einerseits gibt es vielfältig verstreute Arbeiten zu einzelnen historischen Dialogen und Dialogformen, vor allem aus den Bereichen der Literaturgeschichte, der Rhetorikgeschichte und der Philosophiegeschichte. Diese sind aber kaum systematisch erfaßt, so daß es schwierig ist, einen allgemeinen Überblick über den Stand der Forschung in diesem Sektor zu gewinnen.
Die Hauptaufgabe einer Dialogtheorie ist die Beantwortung der folgenden Frage: Worin besteht die Fähigkeit von Dialogteilnehmern, Dialogzusammenhänge zu produzieren und zu verstehen? So einfach und selbstverständlich das dialogische Reden oft praktiziert wird, so komplex erscheinen dem Analysierenden die Mittel und Organisationsprinzipien, deren sich die Sprechenden bedienen, um in zusammenhängender Rede ihre kommunikativen Ziele zu verfolgen. Sie verwenden bestimmte Satzformen und Intonationsmuster , um hervorzuheben, worum es ihnen gerade besonders geht; sie benutzen bestimmte syntaktische und lexikalische Mittel, um Verknüpfungen zwischen Teilen längerer Äußerungen zu verdeutlichen; sie bereiten die Bezugnahme auf Gegenstände des Gesprächs vor, indem sie notwendiges Wissen sichern; sie entfernen sich in kleinen Schritten, fast unmerklich, von einem Hauptthema und steuern ein anderes an; sie kontrollieren ihre eigenen Dialogbeiträge und die ihrer Dialogpartner auf Relevanz und auf Widersprüche hin; sie klären Mißverständnisse auf; sie wählen aus alternativen Reaktionsmöglichkeiten virtuos diejenigen aus, die ihre Ziele zu fördern versprechen. Manchmal mißlingen allerdings auch Teile dieser komplexen Aktivität.
Formale Dialogspieltheorien
(1994)
Das Feld der Dialoganalyse umfaßt sehr unterschiedliche theoretische und methodische Ansätze, von der hermeneutischen Erschließung eines bestimmten Einzeldialogs über die quantitative Analyse bestimmter Typen von Dialogverläufen und die systematische Analyse der Grundstrukturen von Dialogformen bis hin zur formalen Theorie eines bestimmten Fragments einer Dialogform. Diese unterschiedlichen Ansätze können miteinander durchaus verträglich sein, insofern als sie unterschiedliche Aspekte des dialogischen Redens zum Gegenstand haben oder unterschiedliche Reichweite beanspruchen. Die in den bisherigen Artikeln dieses Handbuchs behandelten dialoganalytischen Ansätze erheben alle den Anspruch auf Systematizität der Analyse, sind aber keine formalen Theorien im strengen Sinne. Das heißt allerdings nicht, daß sie nicht formalisierbar sind, wie etwa die Formalisierung der Sprechakttheorie in Searle/ Vanderveken (1985) und die formale Beschreibungssprache für Handlungen in Heringer (1974) zeigen.
Spätestens seit den gesellschaftlichen Modernisierungsschüben in den sechziger Jahren identifiziert auch die Germanistik Erkenntnis- und Wissenszuwachs, ja allgemeiner den "Fortschritt" ihres Fachs, mit Komplexitätserhöhung. Vor diesem Hintergrund erscheint es mir wenig plausibel, die seitdem erfolgten inneren Ausdifferenzierungen und interdisziplinären Grenzüberschreitungen als durch Identitätsverlust, Zerstreuung und Desintegration gekennzeichnete Niedergangsszenarien zu beschreiben. Die Veränderungen gehorchen der immanenten Logik germanistischer Forschung, einer "disziplinierten", auf Leistung ausgerichteten, an kooperativen Großforschungsvorhaben partizipierenden Wissensproduktion.
Alles nach Plan, alles im Griff : der diskursive Raum der DDR-Literatur in den Fünfziger Jahren
(2004)
Die DDR-Literatur gehört nicht mehr zu den bevorzugten Forschungsgebieten der Literaturwissenschaft. Die letzte umfassende Darstellung erschien 1996. Die Auslandsgermanistik allerdings ist von einem anhaltenden Interesse gekennzeichnet. Nahezu vergessen scheinen die fünfziger Jahre. Die folgenden Überlegungen möchten die These ins Spiel bringen, dass dies nicht zufällig so ist. Obwohl noch Ende der siebziger Jahre emphatisch von der Herausbildung einer sozialistischen Nationalliteratur gesprochen wurde, ist heute abzusehen, dass kein einziges Werk der DDR-Literatur aus den Fünfzigern in den Kanon der deutschen Nachkriegsliteratur eingehen wird, sieht man von Uwe Johnsons Roman "Mutmaßungen über Jakob" ab, der zwar in der DDR geschrieben wird, jedoch 1959 in der Bundesrepublik erscheint. Man muss ohnehin fast immer die Fernleihe des Bibliothekenverbunds bemühen, um diese Werke überhaupt noch in die Hand zu bekommen.
In Rückblicken auf die Germanistik der sechziger und siebziger Jahre des vorigen Jahrhunderts, in denen das Fach expandierte und so viele Studierende anzog wie kein anderes geisteswissenschaftliches, ist dennoch meist von "Krise" die Rede. Von der Bildungsöffentlichkeit wurde die Germanistik und das von ihr verbreitete Wissen als antiquiert wahrgenommen und mit einem Verfallsstempel versehen. Nicht nur der von der Literaturwissenschaft favorisierte Kanon literarischer Werke geriet in die Kritik, sondern ebenso das als gesichert geltende Fachwissen. Der Germanistik gegenüber wurden die Vorwürfe erhoben, eine Disziplin ohne ein Objekt im Sinne moderner Wissenschaft zu sein, das Wissen anderer Fächer nicht zur Kenntnis zu nehmen und die zeitgenössische Literatur zu ignorieren. Das Fach wurde so weit destabilisiert, dass seine Einheit zu zerbrechen drohte.
Der bürgerliche Kalender des 19. Jahrhunderts schafft eine eigene Zeitordnung. Wer 25 Jahre sein Unternehmen durch den Zeitenwechsel bringt, darf diesen Zeitraum mit goldenem Lorbeer umrahmen, ebenso derjenige, der dem Staat als Beamter ein Vierteljahrhunderts gedient hat. Eine goldene Uhr wird ihn fortan daran erinnern. Für die Ehe gleicher Dauer muß man sich mit Silber begnügen, das Goldene Zeitalter beginnt in diesem Fall erst nach fünfzig Jahren. Nicht nur das Ereignis, auch der Zeitraum selbst wird, skaliert von 25 bis 1000, kulturell erinnerungswürdig und -fähig. Wer die Jahre zählt, läßt die Verbindung zum Vergangenen nicht abreißen. Vergangenheit erhält ihren Ort und ihren Tag im Alltag der Gegenwart. Die Erinnerung der Individuen wird an Jubel- und Gedenktagen durch ein kollektives Gedächtnis abgelöst. Der 1. Mai z.B will an etwas erinnern und läßt sich dennoch auf kein ursprüngliches Ereignis zurückführen. ‘Denkmal’ kann im 19. Jahrhundert fast alles werden, nicht nur Gebilde aus Stein und Bronze, auch Profanes wie Bierkrüge, Gläser, Teller, Zigarrenkisten, Hüte: das kollektive Gedächtnis muß an ihnen nur ausreichende Flächenhaftung finden oder sich eingravieren lassen.
Wie, so frage ich, soll man als Literaturhistoriker noch über Martin Walser schreiben, ohne unter Verdacht zu geraten, ihn für seine Friedenspreis-Rede mit einem Angriff auf sein literarisches Werk abzustrafen? Auf den Knien, wie Frank Schirrmacher oder auf dem Bauch, wie Franziska Augstein ? Muß man "zittern" wie der Geehrte, wenn nüchterne Analyse und nicht Huldigung das Ziel ist? Wird man zu den "Überführungsexperten (...) auf der Suche nach jenem letzten, allen Verdacht bestätigenden Beweis" gezählt, wenn man sich auf die philologische Suche nach den Quellen der Frankfurter Rede begibt?
In den neueren literaturtheoretischen Diskussionen wird die Arbeit des Interpretierens, zumal wenn es in kritischer oder ideologiekritischer Absicht erfolgt, radikal in Frage gestellt. Es scheint, als hätte die Literaturwissenschaft die von Susan Sontag vor nun fast dreißig Jahren in ihrem Essay Against Interpretation vorgeschlagene "Erotik der Kunst" zu guterletzt noch ernst genommen und zur Sündhaftigkeit gesteigert. Das wäre doch zu viel des Sinnlichen für Germanistik-Seminare. Zwar hat die Philologie seitdem bisweilen den Tugendpfad der Hermeneutik verlassen und sich auf textlinguistische, diskursanalytische oder systemtheoretische Pfade begeben, jedoch verbürgtermaßen niemals aus Lust am Text. Trotzdem wächst die Kritik an der unermüdlichen, manchmal schwerfälligen und oft mühseligen Arbeit der Interpretation, mehren sich die Stimmen, die das Objekt des sündhaften Begehrens, sie Literatur, vor den Interpreten schützen wollen. Und zunehmend sind es grundsätzliche, das theoretische Verständnis von Autor und Werk betreffende Einwände, die laut werden.
Die vielleicht bewegendste literarische Lebensgeschichte des 18. Jahrhunderts, Karl Philipp Moritz’ Anton Reiser (1785-1790), ist ein in vieler Hinsicht hybrider Text. Weder Liebes-, Familien- noch Bekehrungsgeschichte erzählt sie den ins Leere laufenden Bildungsweg eines Melancholikers. Eingeschrieben ist ihr eine Lektüre- und Autorbiographie, in der Lesenlernen und die Initiation in die Bücherwelt eine Schlüsselfunktion haben. Daß meine Darstellung dieser Initiation in einen so breiten Rahmen eingelassen ist, muß begründet werden. Er soll zeigen, wie die in den Vorreden geforderte Aufmerksamkeit für alltägliche Details über die Ordnung des Erzählens generiert wird; und zwar eines Erzählens, das Kontexten auf der Spur ist. Interessiert hat mich sowohl die Deskription wie auch die Konstruktion dieser Geschichte, und so ist mein Beitrag auf den Umfang von zweien angewachsen...
"Das Leiden definieren" : Spiel-Räume und Sprach-Spiele in Ilse Aichingers "Die größere Hoffnung"
(2003)
Zehn Jahre nach dem Novemberpogrom, der sogenannten "Reichskristallnacht", drei Jahre nach Kriegsende, erschien mit Ilse Aichingers erstem und einzigen Roman "Die größere Hoffnung" eine der frühesten literarischen Auseinandersetzungen mit dieser schwärzesten Epoche deutsch-österreichischer Geschichte. Aichingers Roman erschien im Verlag Bermann-Fischers, der damals gerade nach Wien zurückgekehrt war, im Impressum aber noch Amsterdam angab. Der Roman ist einer der wichtigsten Gründungstexte für jenes inzwischen umfangreiche internationale Korpus der sogenannten 'Holocaust-Literatur', die sich mit der grundsätzlichen und vieldiskutierten Frage auseinanderzusetzen hatte, welche Formen der Darstellung und des Gedächtnisses gegenüber dem nationalsozialistischen Terror überhaupt literarisch angemessen sein könnten.
In seinem bemerkenswert frühen Versuch, die Wissenschaft zu beobachten, nennt Ernst Mach zwei starke Argumente für die neuen optischen Medien, insbesondere die Photographie: Sie bringen 1. neue Schaueffekte in die Welt, optimieren somit Unterhaltung; 2. liefern sie neues Material für die Wissenschaftler. Die Photographie schafft das, indem sie Unsichtbares sichtbar macht, zeigt, was sich "der natürlichen Anschauung" entzieht.
"Tell me where is fancie bred, / or in the heart or in the head." (III,2) Diese Elementarfrage des Kaufmanns von Venedig hat schon die Antike beschäftigt: Der griechische Arzt Alkmaion von Kroton lokalisierte im 6. Jahrhundert v. Chr. die Sinneswahrnehmungen, Gedächtnis und Vernunft im Gehirn, für andere war das Herz Zentralorgan der Gedanken oder das Zwerchfell. Wenn am Beginn des 21. Jahrhunderts das Gehirn als Prozessor aller unserer Verhaltensleistungen gilt, so scheint sich das Problem ein für alle Mal erledigt zu haben. "Wir gehen heute davon aus", schreibt Wolf Singer, "daß alle unsere Verhaltensleistungen, die höchsten kognitiven Funktionen und mentalen Prozesse eingeschlossen, auf neuronalen, also materiellen Prozessen in unseren Gehirnen beruhen." Glaube, Wille, Vorstellung, alles ehemals Innere des Ich, ist auf das Gesamtorgan des Gehirns verteilt.
Lassen sich Gedanken sagen? : Mimesis der inneren Rede in Arthurs Schnitzlers "Lieutenant Gustl"
(2009)
Am Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts entsteht ein Text, der die Frage nach der Sag- und Vernehmbarkeit von Gedanken scheinbar mühelos überspringt. Der Selbstbeobachter Arthur Schnitzler präsentiert uns die lückenlose, nur durch Schlaf unterbrochene Gedankenrede eines jungen Militärs zwischen Abend und Morgen. Damit befindet sich „Lieutenant Gustl“, erschienen am Weihnachtstag 1900 in der Wiener „Neuen Freien Presse“, im Fadenkreuz der Studier- und Konstruierbarkeit von ‚innerer Rede’. Im beinahe zeitungssprengenden Umfang von 24 halbseitigen Spalten auf 8 Seiten inszeniert Schnitzler das paradoxe Planspiel, wie es wäre, die Gedanken eines anderen unmittelbar und in situ vernehmen zu können. Es ist, dafür ist der Text in die Literaturgeschichte eingegangen, der erste konsequent durchgehaltene Innere Monolog in der deutschsprachigen Erzählliteratur.
Im elften Buch seines Adelsspiegels (1591) kommt Cyriacus Spangenberg der Wigalois des Wirnt von Grafenberg in den Sinn, weil darin etlicher Ritter von der Tafelrunde gedacht werde, insbesondere des Herren Gwy von Galois, "sonst Ritter Wiglois vom Rade genandt", und eines "Grauen Hoiers von Manßfeldt des roten". Das alte Buch, das einst Herzog Albrecht von Braunschweig in Auftrag gegeben hatte, habe er von einer adeligen Witwe erhalten, später aber an die Grafen von Mansfeld weitergegeben, die sich sehr für die Rolle ihres Vorfahren in diesem Roman interessiert gezeigt hätten.