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Als Ausgangspunkt dieser Arbeit dienen Ansätze, die eine narrative Perspektive für das Verständnis von Psychopathologie und die psychotherapeutische Praxis vorschlagen. Im Hinblick auf die Fragen, welche Vorteile die Analyse von Patient*innenerzählungen bieten kann, und durch welche Merkmale psychopathologische Narrative sich auszeichnen, wird ein Überblick über ausgewählte Fallberichte, empirische Untersuchungen und theoretische Überlegungen gegeben. Diese werden unter den drei Kategorien Kohärenz, „Agency“ und Perspektiven beschrieben. Die Arbeit mag einen Impuls geben, ein tieferes Verständnis für narrative Dysfunktionen zu entwickeln und ihre Ursprünge sowie ihre Bedeutung für psychische Störungen und deren Behandlung vermitteln.
"Economy of the Unlost. (Reading Simonides of Keos with Paul Celan)", so nennt die Schriftstellerin, Theatermacherin, Buchgestalterin und Altphilologin Anne Carson eine 1999 erschienene längere Abhandlung. Die Formulierung des eingeklammerten Untertitels suggeriert eine ungewöhnliche Perspektive: Celan soll offenbar dabei helfen, Simonides zu lesen, der moderne Dichter in den Dienst einer Annäherung an den antiken Dichter treten - und nicht etwa umgekehrt der antike Dichter als Vorläufer und Wegbereiter Celans interpretiert werden. [...] Mit Simonides werden in Carsons Abhandlung verschiedene Themen assoziiert: eine Ökonomie der (poetischen) Mittel - unter anderem im Sinn eines 'Transports' von Kontrafaktischem zugleich mit Faktischem, also eines Sprechens mit gedoppelter Aussage - sowie eine poetische Kunst des Erinnerns. Von beiden Themen her stellt Carson Beziehungen zu Celan her, nicht unbedingt direkte Analogien, aber doch Korrespondenzen hinsichtlich der Poetik und der Auffassung über die Funktionen von Dichtung. Sie liest, hierin einer breiten Rezeptionsspur folgend, Celans Gedichte als Auseinandersetzung mit dem Tod und den Toten im Zeichen der Holocausterfahrung und des Wunsches nach Gedenken. Carson betrachtet auch Celan als einen 'ökonomischen' Dichter, ausgehend vom Bild des Sprachgitters, von Konzepten der Reinigung, Verknappung, Kondensierung. Auch Celan verbindet das Faktische mit dem Kontrafaktischen. [...] Carson präpariert aus poetischen Texten der von ihr kommentierten Dichter vor allem Sprachbilder heraus, um sie zu kommentieren, und sie denkt selbst dabei gern am Leitfaden von Sprachbildern. Welche Art von Wissen aber vermittelt ihr im Stil einer wissenschaftlichen Abhandlung verfasster Text über Celan? Und über Simonides? Das Echo, das "Economy of the Unlost" in Fachkreisen gefunden hat, war geteilt: teils ausnehmend kritisch, teils anerkennend. [...] Wie auch immer man den Erkenntniswert, die Vermittlungsleistung, den hermeneutischen (oder eben posthermeneutischen) Ertrag des Essays bewertet - über einen Gegenstand gibt er doch in jedem Fall Aufschluss: über Carsons eigene Poetik. Er kann als prägnante Heranführung an ihr eigenes Werk, ihre eigene Poetik gelesen werden.
Autofiktion ist en vogue. Karl Ove Knausgårds sechsbändiges Werk "Mein Kampf", Annie Ernaux' "Die Jahre" oder "Der Platz", Rachel Cusks Trilogie "Outline", "Transit" und "Kudos", Ben Lerners "Die Topeka-Schule" - all das sind Werke, die der "Autofiktion" zugerechnet werden. Autobiographie, das war seit Augustinus' "Confessiones" und Rousseaus "Confessions" die Schilderung eines Lebens mit Bekenntnischarakter und einem Anspruch auf Wahrheit, also dem Ziel, "Dichtung und Wahrheit" so weit als möglich zur Deckung zu bringen und so größtmögliche Authentizität zu erzielen. Im Gegensatz dazu ist "Autofiktion" eine Erzähltechnik, in der sowohl die Grenzen zwischen Autobiographie, Essay und Roman als auch zwischen Fakt und Fiktion aufgehoben und autobiographische Elemente mit fiktionalen Handlungselementen verwoben werden. Daraus ergibt sich eine Art "Versteckspiel", das Lesepublikum, Autoren und Kritiker fasziniert: Autofiktion hat die traditionelle Autobiographie (scheinbar) abgelöst und beherrscht derzeit Buchmarkt und Feuilletons, Literatur, Literaturbetrieb und Literaturwissenschaft gleichermaßen. Worauf gründet diese Faszination? Und wie lässt sie sich erklären?
Este artigo propõe-se a analisar a trajetória do escritor austríaco Fritz Kalmar e seu conto "Der Austrospinner" ("O austro-louco"), incluído na antologia "Das Herz europaschwer", de 1997, à luz das identidades surgidas no contexto da emancipação e da assimilação judaicas na Áustria. Georg von Winternitz, protagonista desta narrativa, encarna, em seu exílio boliviano, os fundamentos de uma identidade austríaca cultivada na velha Monarquia Habsburga, legatária do Sacro Império Romano Germânico, e organiza sua existência no novo país de acordo com valores éticos e com princípios católicos, humanistas e universalistas, cultivados, sobretudo, por literatos austríacos do fim do século XIX e do início do século XX, que se dedicaram à construção da identidade imperial austríaca. Esse sistema de valores, particularmente caro aos judeus austríacos da época do Kaiser Franz Josef, revela uma surpreendente sobrevida nos Andes bolivianos depois de 1938. Ao adotar um menino indígena que está em vias de tornar-se um ladrão, esse personagem não só pretende educá-lo como, sobretudo, pretende fazer dele "um austríaco", o que significa, para o personagem, nele instilar um sistema de valores vinculado à extinta Áustria imperial. A discussão sobre esse conceito, "o austríaco", presente na literatura austríaca do século XIX e do início do século XX, é trazida à tona para tentar compreender o que se encontra por trás deste projeto. Para além dessa questão surge, ao longo da narrativa, uma alusão ao fato de que tanto o narrador quanto o protagonista da narrativa são descendentes de judeus que também "se tornaram" austríacos. "Tornar-se austríaco", assim, e com isto o conceito de 'gelernter Österreicher', temas inextricavelmente ligados ao processo de emancipação e assimilação judaica na Áustria do século XIX, são questões que ressurgem, de forma distópica e anacrônica, na Bolívia dos anos 1950, na trajetória de Kalmar tanto quanto na de seu personagem.
In der Erinnerungskultur der Goethezeit spielt das haptische Erleben von Souvenirs eine entscheidende Rolle – im taktilen Umgang mit Andenken werden über Form, Materialität und Funktion Abwesende vergegenwärtigt, Erinnerungen und Gefühle evoziert. Nachvollziehbar wird die Kultivierung und Reflexion dieser Praktik der Erinnerungskultur in dem sehr gut überlieferten Nachlass von Johann Wolfgang von Goethe, der von der Klassik Stiftung Weimar bewahrt wird. Obwohl Goethe dem Tastsinn jegliche Erkenntnisfähigkeit abspricht und ihn als den niedersten der Sinne diskreditiert, werden das Berühren und Berührtwerden von Körpern und Dingen in seinen literarischen Werken sowie insbesondere in seinen privaten Korrespondenzen variantenreich verhandelt. Eingebettet in empfindsame Liebessemantik, assoziiert mit religiösen Praktiken und medizinischen Diskursen oder verknüpft mit erotischen Momenten ist die Berührung ein wiederkehrender Gegenstand expliziter und impliziter Auseinandersetzungen.
Lange Zeit schien der Kolonialismus im Geschichtsbewusstsein der Deutschen eine nebengeordnete bzw. beiläufige Rolle zu spielen und die Beteiligung Deutschlands am Kolonialprozess wurde wenig Achtung geschenkt. Erst die Entstehung einer schwarzafrikanischen postkolonialen Literatur in Deutschland hat dazu beigetragen, die Kolonialerfahrung als gemeinsames Erbe zwischen Deutschen und Afrikanern sichtbar zu machen. Im Mittelpunkt von Texten afrikanischer Autoren in deutscher Sprache steht das Zurückschauen auf vergangene Ereignisse, die aus verschiedenen Perspektiven thematisiert werden. Der vorliegende Beitrag untersucht am Beispiel von zwei kamerunischen Texten die Erinnerung an die deutsche Kolonialvergangenheit. Diese postkoloniale Aufarbeitung der Kolonialerinnerung, wie sie von Daniel Mepin und Philomène Atyame dargestellt wird, kreist um Vergangenheitsbewältigung und gegenseitige Kulturannäherung. Um dieses Ziel zu erreichen, bieten Jan und Aleida Assmann mit dem Begriff "Kulturgedächtnis" theoretische Grundlagen, die meine Überlegung plausibler machen können.
Para Vilém Flusser as imagens técnicas são como "aspiradores de pó" que sugam toda a história: elas aceleram o tempo e transformam o todo em imagens congeladas. Trata-se para ele de uma imagem que contém a realização de uma redenção judaico-cristã. As imagens técnicas permitem a superação do que ele via como a clausura do mundo histórico, marcado pela textolatria. Elas permitem remontar ludicamente o universo a partir de sua decomposição imagética, como se as imagens (constituídas de "calculi", pixels) fossem pedras de lego. O trabalho apresenta essa escatologia mística judaica de Flusser sobre as imagens mágicas redentoras, levando em conta também o seu credo (que ele também considerava judaico), segundo o qual, ao invés de pensarmos na imortalidade das almas deveríamos apostar que "sobreviveremos na memória dos outros". Que memória seria essa e o que significaria sobreviver em um mundo pós-histórico, esvaziado de sua visão temporal, são algumas das questões que o texto desenvolve. Comparando com algumas ideias e conceitos de Walter Benjamin, o texto procura mostrar como Flusser procurou responder à demanda benjaminiana segundo a qual o surgimento de novas técnicas impõe-nos repensar o que a morte e o amor seriam hoje em dia.
Das Kanon-Motiv "Der Wanderer" im Denkraum Sarmatien, ausgehend von Johannes Bobrowskis Gedicht
(2015)
Nach Bobrowskis Statement ist auch der Kanon eine "Vorstellung", die "zuende" geht, dennoch liegt in diesem klaren Eingeständnis gleichzeitig für ihn die Verpflichtung zu einer "Überschau", zur Darstellung von "Bindungen" in einem 'tiefen Verständnis', zu einer Allgemein-'Gültigkeit' trotz vergangener und zukünftiger Verlusterfahrungen. Wenn Kanon, dann in diesem neuen Sinne, im Bewusstsein einer Herkunft und eines Weiterziehens in eine andere, fremde Zukunft, in der offenen Beweglichkeit von Lebensräumen im Plural, in einer Bereitschaft zum Gehen im Spannungsfeld der Beobachtung von 'Vergehendem' und 'Noch-nicht-ganz-Vergangen-Sein'. [...] der Kanon [erweist sich] in Form des Motivs "Wanderer" als gattungsübergreifendes – hier Lyrik und Prosa – Narrativ in klarer chronologisch-topographisch-logischer Struktur. Das Wandern als Bewegung in Zeit und Raum ist Modell für eine Wandlungsbereitschaft, die erst Orientierung für das Leben in der Zukunft bietet.
Autobiographisches Erinnern, so kann man bei Harald Welzer lesen, wird maßgeblich durch die Kategorien Raum, Zeit und Selbst beeinflusst. Die Autobiographieforschung hat vor allem die letzten beiden Kategorien fokussiert, während der Relevanz von Räumlichkeit in autobiographischen Schriften erst seit dem spatial und topographical turn verstärkt Beachtung zukommt. Dabei hat bereits Immanuel Kant deutlich gemacht, dass Raum und Zeit für den Menschen von korrespondierender Bedeutung sind: Sie stellen das Apriori menschlicher Erkenntnis dar, so dass beide Kategorien die Wahrnehmung einer äußeren Umwelt erst ermöglichen. Ebenso wie die Zeit ist nach Kant der Raum ein kognitives Konzept, kein realweltliches. Das führt zu der Überlegung, dass für ein sich selbst schreibendes Ich sowohl die individuelle als auch die gesellschaftliche Codierung von Räumlichkeit relevant ist. Gaston Bachelard und Michel de Certeau stellen diesen gesellschaftlichen Codierungen individuelle Aneignungen von Raum und Räumlichkeit zur Seite, so dass die Codierungsarbeit als eine Aushandlung zwischen gesellschaftlichen Raumordnungen und individuellen Raumpraktiken verstanden werden muss. Dies führt zu der These, dass in Autobiographien ein Ich die gesellschaftlichen Raumordnungen verhandeln und sich zu ihnen in Bezug setzen muss, während der Raum das Ich dabei überhaupt erst konstituiert. Auf diese Weise erscheint das autobiographische Ich als eingebettet in die gesellschaftlichen Koordinaten seiner Zeit. Vor diesem theoretischen Hintergrund erweist sich Walter Benjamins Berliner Kindheit um neunzehnhundert als signifikanter Text. Es stellt sich die Frage, wie das Verhältnis von Raum, Zeit und Ich, das jeden autobiographischen Text prägt, in Benjamins Prosaminiaturen figuriert ist und inwiefern es die Texte konstituiert.
Die Konstruiertheit und Unzuverlässigkeit der Erinnerung wird heute in der kulturwissenschaftlichen Gedächtnisforschung nicht bestritten. Aber in Rayk Wielands Roman Ich schlage vor, dass wir uns küssen ist die Erinnerung buchstäblich eine Erfindung oder, genauer gesagt, sie ist das Resultat einer phantasievollen Auslegung und "fehlgeleiteter Schnüffelphilologie" (Reents 2009). Der Träger des individuellen Gedächtnisses ist in diesem Fall nicht das individuelle Gehirn, sondern es sind die Stasi-Akten, und seine Stütze ist eine Erinnerungspolitik, die unbedingt Opfer und Heroen braucht, um ihre Vergangenheitsrekonstruktion zu legitimieren.
Mein Vortrag befasst sich mit Uwe Timms Roman Halbschatten (2008), eines der zahlreichen literarischen Werke, die vor allem die seit 1989 aufgekommene Tendenz der deutschsprachigen Autoren nachweisen, sich erneut, aber intensiver und in einer anderen, besonderen Art und Weise mit dem Nationalsozialismus auseinandersetzen. Mehrere gegenwärtige Literaturhistoriker und -kritiker versichern uns, dass mit dem Mauerfall und der Wiedervereinigung eine „Wende des Erinnerns“ (Beßlich et al. 2006, 7) in den deutschen literarischen Geschichtskonstruktionen eingetreten ist. In der Tat werfen die Autoren der sogenannten Berliner Republik oftmals neue, verstörende, ja geradezu irritierende Blicke auf die unangenehmsten Erfahrungen und Ereignisse der deutschen Vergangenheit. In der deutschsprachigen Geschichtsfiktion der Postmoderne, die sich mit der NS-Diktatur und dem Zweiten Weltkrieg beschäftigt, wird nicht mehr ausschließlich die Perspektive der Opfer und Außenseiter dargestellt, sondern es werden zunehmend auch (oder hauptsächlich) Mitläufer und Täter in den Vordergrund gestellt und beleuchtet. Uwe Timm ist einer der Autoren der mittleren Generation, der sich in den letzten Jahren bereits mehrmals der NS-Vergangenheit zugewendet hat, und zwar in geschichtsfiktionalen Erzähltexten, die zum Teil mit seiner eigenen Lebensgeschichte verwebt sind – man denke an die Novelle Die Entdeckung der Currywurst (1993), aber v.a. an die aufsehenerregende Doppelbiographie Am Beispiel meines Bruders (2003). Timm legte neulich in den Frankfurter Poetikvorlesungen, die unter dem Titel Von Anfang und Ende. Über die Lesbarkeit der Welt herausgegeben wurden, sein Verständnis des historischen Romans als „eine literarische Konstruktion von einem geschichtlichen Ereignis“ dar [...].
It is no accident that the figuration of rewriting as copying is an image from "One Way Street". This apparently casual assemblage of small, rather belletristic texts - still some of the least explored terrain in all of Benjamin - is in important ways the key to all of Benjamin’s later writing, and especially that writing based on the form of the "Denkbild" or figure of thought. In what follows, I will concentrate on one set of paired examples in order to demonstrate in a more focused way the practice of rewriting and its effects: on the relationship between "Berlin Childhood around 1900" and "One Way Street".
O objetivo deste trabalho é analisar as configurações de história e memória em obras de Christa Wolf, relacionando-as com o período histórico que culminou com a queda do Muro de Berlim em 1989 e consequentemente com o fim do regime socialista na República Democrática Alemã (RDA). Levando em consideração os estudos sobre cultura da memória realizados por Aleida Assmann, pretende-se verificar aspectos concernentes aos limites e funções da memória em algumas obras de Christa Wolf, entre as quais "Was bleibt" e "Leibhaftig".
Wem gehört die Geschichte? : Fakten und Fiktionen in der neueren deutschen Erinnerungsliteratur
(2011)
This essay discusses the distinct features of memory fiction, a new genre that has emerged during the last two decades. It works through memories of the Nazi past and traumatic episodes of the Second World War within new literary frameworks. In this orientation towards the past the memory novel maintains distance from the research of historical reconstruction, as well as from the popular presentation of the past in the visual mass media. With respect to the new literary genre, various questions arise concerning its status and quality. One of these concerns the distinction anti interplay between fictional and documentary features in the new format. Another one has to do with the emphasis on biographical experience that in many cases has become an important trigger and source for the text, endowing it with the stamp of authenticity or moral authority. It is also true, however, that war-related experience, trauma and suffering can no longer be claimed by members of the second and third generation who either write their own lives into the chain of generations connected with the Second World War and the Holocaust, or create a new access to central events of the traumatic national history from the perspective of a fictional private family. In both ways they testify to the aftermath of the traumatic past which, as they show, is still part of the present.
Sprechen und Schweigen vor und nach der "Wende" : Analyse eines sprachbiografischen Interviews
(2010)
Am Anfang des Interviewprojekts stand ein noch relativ allgemeines Interesse an der Sprache und dem Sprechen in der DDR. Als Teil der Generation, die zwar noch in der DDR geboren wurde, sie aber kaum mehr bewusst erlebt hat, wollte ich von einem ehemaligen DDR-Bürger wissen, welche Erfahrungen er mit der Sprache und dem Sprechen vor 1989/90 gemacht hat. Ursprünglich zielte das Interview also nur auf eine Seite: den Sprachgebrauch und das Schweigen in der DDR. Unter welchen Bedingungen und mit welchen Folgen ist es möglich, in der DDR seine Meinung offen zu äußern? In welche Konflikte mit der Sprach- und Sprechregulierung in der DDR gerät einer, der sich selbst gar nicht als Staatsgegner, sondern als konstruktiver Kritiker und Verfechter dieser, wie er es im Interview nannte, "großartigen Idee" Sozialismus begreift? Wann wird geschwiegen und was bedeutet dieses Schweigen? Der Interviewte nahm jedoch im Verlauf der Gespräche immer wieder die Veränderungen in Sprech- und Schweigesituationen in den Blick, die er im Zuge des politischen Umbruchs 1989/1990 in seiner Sprachbiografie wahrnahm. So erschien eine Analyse mit einem verstärkten Fokus auf den Wandel des Sprachgebrauchs und der Bedeutungen des Schweigens vielversprechend.
Die Tatsache, dass Benjamins Schreiben in vielen Fällen zu keiner abgeschlossenen Gestalt geführt und sich nicht immer zu einem 'Text' gefügt hat, erfordert dringend eine produktionsästhetische Perspektive, die das Augenmerk mit Entschiedenheit auf die Entstehungsprozesse lenkt. In diesem Punkt kann die Benjamin-Forschung Neuland betreten. Was damit zudem zur Diskussion steht, ist nichts Geringeres als eine überlieferungsgeschichtliche Revision ihrer textuellen Grundlage. Was heute als Texte Benjamins gelesen werden kann, ist das Resultat von jahrzehntelanger Werkpolitik. Sie unterliegen einer editorisch hergestellten Suggestion von Abgeschlossenheit, die sie aber in der Logik von Benjamins Produktion häufig nicht besitzen. Alles, was aus dem Nachlass an Aufzeichnungen, Notizen, Entwürfen, Arbeitshandschriften überliefert ist und in den Archiven schlummert, ist vielmehr Zeuge eines infiniten 'work in progress', der sich nicht in ein werkästhetisches Korsett zwingen lässt. Im Folgenden wird an einer kleinen, aber prominenten Aufzeichnung Benjamins materiale Poetik des Schreibens exemplarisch veranschaulicht. Die Fragen nach den Implikationen und Konsequenzen für den interpretatorischen und überlieferungskritischen Umgang mit seinen nachgelassenen Schriften stehen dabei im Vordergrund.
Der Politologe Rudoph J. Rummel hat 1994 und 1997 in zwei Bänden eine breit angelegte Untersuchung von staatlich verantworteten Massenmorden im 20. Jahrhundert vorgelegt: Death by Government und Statistics of Democide. Danach werden an jedem der 36 500 Tage dieses Jahrhunderts, nach vorsichtigen Berechnungen, eta 4650 Menschen pro Tag gewaltsam zu Tode gebracht. Bis zum erfaßten Jahr 1987 sind dies 161.782.000 Terrortote, nach anderen Berechnungen 341.076.000 Tote, also etwa 9.400 am Tag. Nicht eingerechnet sind ungezählte Opfer, die Gewalthandlungen überlebt haben, doch verletzt, verstümmelt, vergewaltigt, ausgeraubt, dauerhaft traumatisiert, verfolgt, demarkiert, verelendet oder vertrieben wurden. In der Untersuchung Rummels geht es ausdrücklich nicht um quasi-legale Kriegstote, nicht um außerstaatliche Gewalt, nicht um Einzelfälle des staatlichen Terrors, sondern allein um die massenhafte Ermordung von wehrlosen Menschen in staatlicher Verantwortung. ...
Schon Platon nutzte die intertextuellen Fähigkeiten des literarischen Schreibens zur Subversion der lähmenden Wirkung von Aufzeichnungen im Sinne der Gedächtnisstützen, der Hypomnemata, um den anders gearteten Erinnerungsprozeß der Anamnesis zur Geltung zu bringen. Ironischerweise basiert aber ausgerechnet eines der avanciertesten Hypomnemata unserer Tage auf einer dezentralen, nichtlinearen Struktur, wie sie für das Phänomen der Intertextualität kennzeichnend ist. Die — in der Tat von vielen Theoretikern des neuen Mediums angestrengte — Vermutung liegt also nahe, daß wir es hier mit einer virtuellen Steigerung der Potentiale literarischen Erinnerns im Sinne der Anamnesis Platons zu tun haben. Der Heftbeitrag vertritt die Auffassung, daß eher das Gegenteil zutrifft. Eine intertextuelle Dynamik kann nur aus der Rezeptionserfahrung des Kontrastes zu einer vorgegebenen statischen Textur hervorgehen. Mit jedem seiner Schritte durch das Gewebe eines Hypertextes dekomponiert der Leser diesen illuminierenden Kontrasteffekt. Diese Beobachtung führt zu der Feststellung, daß eine Poetik des Hypertextes, die als literarische Erinnerungstechnik ernst genommen werden könnte, erst noch zu entwickeln wäre.
Spreng-Sätze im Kulturspeicher : kleine Universalgeschichte der literarischen Gedächtniskritik
(1996)
Schon ordinäre Jahreswechsel werden gern als Anlässe zur Rückbesinnung genommen. Die bevorstehende Jahrhundert- und Jahrtausendwende stellt ein solches Vorhaben vor monumentale, ja mnemopathische Anforderungen. Doch unser vergehendes Millenium scheint davor nicht kapitulieren zu wollen. Mit einer Sammelwut ohnegleichen sprengt es immer wieder die Grenzen seiner Speicherkapazitäten, die trotz rasanter Weiterentwicklung der Packungsdichte vom Zustrom an Informationen stets überfordert sind. Dem gesellt sich in Deutschland das Spezifikum eines Gedenkeifers, der – wie jüngst die Vorschläge zum Berliner Holocaust-Mahnmal wieder bewiesen haben – ebenfalls neuen Rekorden entgegeneilt. "Es scheint", schrieb Henryk Broder dazu, "als wollten die Organisatoren und Teilnehmer des Wettbewerbs um das Denkmal für die ermordeten Juden Europas sagen: 'Den Holocaust macht uns keiner nach – seine Bewältigung auch nicht!'" Michael Bodemann spricht angesichts solcher Phänomene von Gedächtnistheater. ...