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Außer Streit steht die Existenz eines Literaturkanons, der durch sozialen Konsens ästhetische Wertungen bestimmt und vom herrschenden Kunstverständnis geprägt ist. Besonders in seinem selten umstrukturierten Kern ist der Literaturkanon eine implizite Auswahl der als normsetzend und zeitüberdauernd erachteten künstlerischen Werke. Diese gelten als vorbildhaft, zugleich meist in ihrer ästhetischen Qualität als unerreichbar. Abgesichert sind sie in den Urteilen meinungsbildender Gruppen, besonders durch Zirkel, die sich Mechanismen von Salon und Tafelrunde zu eigen gemacht haben. [...] Der Kanon bleibt nicht unverrückbar. Er ist, über einen längeren Zeitraum betrachtet, tatsächlich immer wieder in Bewegung gewesen. Die Prozesse der Kanonisierung, der Aufnahme oder des Ausschlusses verlaufen in direkten oder indirekten Zusammenhängen mit poetologischen Debatten, mit einem Wandel des Kunstbegriffes, mit kulturellen und gesellschaftlichen Veränderungen. [...] Verhandelt werden jeweils Identität und Differenz, Eingrenzung und Ausgrenzung. Eine kulturelle Macht verteilt symbolisches Kapital, auch materielle Güter. Im Kanon steckt ein Autoritätsanspruch, äußert sich ein hierarchisches Denken, das Kunst und Kunstbetrachtung in eine selbstgefällige Beziehung setzt.
Queertheorie bestimmt sich über Vorläufigkeit, die sich nicht als fixiertes System versteht, sondern als eines, das lediglich ein Instrumentarium zur Verfügung stellt, um die Logik der Spezifität von Machtbeziehungen und Machtkämpfen, etwa in literarischen Texten, zu analysieren. Insofern jeder kritischen Theorie die Verpflichtung aufgegeben ist, kritisch gegen sich selbst gewendet, auch die Möglichkeit zu denken, dass sie nicht immer da sein wird, gilt es, sich nicht im eigenen Moment einzurichten. So möchte ich im Sinne einer vorläufigen und zugleich einer strategischen Kanonisierung vorschlagen: Die germanistische Literaturwissenschaft sowohl mit postkolonialen Theorien als auch mit Gender- und Queertheorien momenthaft und gleichsam verschränkt zu perspektivieren, um dadurch neue Realisationen von Texten zum Entstehen zu bringen.