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Spreng-Sätze im Kulturspeicher : kleine Universalgeschichte der literarischen Gedächtniskritik
(1996)
Schon ordinäre Jahreswechsel werden gern als Anlässe zur Rückbesinnung genommen. Die bevorstehende Jahrhundert- und Jahrtausendwende stellt ein solches Vorhaben vor monumentale, ja mnemopathische Anforderungen. Doch unser vergehendes Millenium scheint davor nicht kapitulieren zu wollen. Mit einer Sammelwut ohnegleichen sprengt es immer wieder die Grenzen seiner Speicherkapazitäten, die trotz rasanter Weiterentwicklung der Packungsdichte vom Zustrom an Informationen stets überfordert sind. Dem gesellt sich in Deutschland das Spezifikum eines Gedenkeifers, der – wie jüngst die Vorschläge zum Berliner Holocaust-Mahnmal wieder bewiesen haben – ebenfalls neuen Rekorden entgegeneilt. "Es scheint", schrieb Henryk Broder dazu, "als wollten die Organisatoren und Teilnehmer des Wettbewerbs um das Denkmal für die ermordeten Juden Europas sagen: 'Den Holocaust macht uns keiner nach – seine Bewältigung auch nicht!'" Michael Bodemann spricht angesichts solcher Phänomene von Gedächtnistheater. ...
1. Dialogizität 1.1 Sprachtheoretische Voraussetzungen 1.2 Stilisierung und Hybridisierung 1.3 Karnevalisierung 1.4 Polyphonie 1.5 Chronotopos 1.6 Probleme der Dialogizitätstheorie 2.Intertextualität 2.1 Julia Kristeva und poststrukturalistische Intertextualitätskonzepte 2.2 Hermeneutische und strukturalistische Intertextualitätskonzepte 2.3 Harold Bloom 3. Gedächtnis
Als ich meinen achtjährigen Sohn wieder einmal in televisionärer Trance versunken fand und mir aus seinem verglasten Blick das ganze Elend unserer Infotainment-Kultur zu starren schien, verfiel ich auf eine fragwürdige pädagogische Maßnahme. Ich streute in den nächsten Werbeblock die Information, zu meinem bevorstehenden Geburtstag könne ich mir nichts Schöneres vorstellen, als daß er mir ein Gedicht aufsage. Freilich sind Gedächtnisaufgaben Routinesache für ihn. Tapfer schluckt er seine Schulspeisung an dem, was man für kindgerechte Lyrik hält und als Stärkungsmittel gegen den heutigen Bildungsverfall durch Bildkonsum verabreicht. Und auch mich hat er schon durch eine Rezitation von Goethes Gefunden beglückt, da sie die Anschaffung eines größeren Gameboy begünstigte. Mit meinem Geburtstagwunsch aber hatte ich den Ehrenpunkt berührt. Nun mußte er zeigen, was er aus intrinsischen Motiven zu memorieren bereit war. ...
Memorialforschung hat Konjunktur, und dass die lebens- und literaturgeschichtliche Erinnerung in den Werken Peter Handkes eine Rolle spielt, ist bekannt. Daß aber Handke seit den 70er Jahren vor allem eine Gedächtniskunst projektiert und in immer neuen Versuchen auf den Weg bringt, wurde bislang nicht beachtet und ist Gegenstand dieser Untersuchung. Die Handkeschen Protagonisten, die allesamt aus den bürgerlichen Zusammenhängen herausfallen, suchen im Kanon der Geschichten und Bilder nach Vorstellungen des Lebens. Orientierung bieten Texte (oder auch nur Aussprüche) Goethes, Stifters, Homers, ferner Gemälde Cézannes oder Hoppers, Filme, mythologische und biblische Erzählmuster. Handke wiederholt jedoch nichts Überkommenes, er experimentiert damit. Seit "Der kurze Brief zum langen Abschied" (1972) fügt er Elemente der Tradition zu immer neuen Zeit-Räumen und Selbstentwürfen zusammen. Spätestens aber ab "Das Gewicht der Welt" (1977) steht dahiner die formulierte Absicht, "ein Gedächtnis für alle anderen" werden zu wollen. Neben der rhetorischen Textanalyse sieht sich die Arbeit der komparativen Kulturwissenschaft verpflichtet. Damit nähert sie sich ihrem Gegenstand auf zwei unterschiedlich gepflasterten Wegen, um die in Handkes Oeuvre vielfältig ausgebreitete Gedächtnisthematik herauszuarbeiten.
"Wissen als Schauspiel" – nach den Möglichkeiten theatraler Formen von Wissensrepräsentation fragt Peter Matussek. Er beobachtet eine Wende vom "pictorial turn" zum "performative turn" und gibt uns einen historischen Abriss der wiederauflebenden Gedächtnistheater. Kann die theatrale Form der Wissensrepräsentation die Aufmerksamkeitsstörungen der Informationsgesellschaft kurieren, oder ist sie selbst das Symptom, das sie zu kurieren vorgibt? Matussek betont, welchen bisher weitgehend übersehenen Einfluss "The Art of Memory" von Frances Yates auf Wissensingenieure, Interface-Designer und Computerkünstler ausgeübt hat. Dabei gehe es nicht nur um die Anordnung, sondern auch um die Erfindung von Wissen und neuen Werkzeugen zur Systematisierung, Kontextualisierung, Visualisierung und Inszenierung von Information.
Das Gedächtnis arbeitet nicht für Historiker. Es dient dem Leben, und dieses bedarf fließender Anpassungen des erworbenen Wissens an die Anforderungen der Gegenwart und Zukunft. Die Erkenntnisse der Hirnforschung fordern die Historiker heraus: Sie sollten nicht nur erforschen, wie es war, sondern wie Erinnerungskulturen funktionieren. Dazu bedürfen sie der Kooperation mit den Kognitionswissenschaften.
Wenn die Beschäftigung mit dem Thema Erinnerung heutzutage als Mode erscheint, so indiziert das nichts anderes, als dass das Erinnern in ein Stadium der Selbstreflexion eingetreten ist, das das Vergessen nicht vergessen lässt. Zugleich erscheint das Erinnern durch den Bezug auf das Vergessen in einer dynamisierten Form, insofern es nicht mehr über einen einzelnen Term, sondern über das Wechselspiel zweier Terme erklärt wird. Dieses dynamisierende Spiel mit zwei Termen beschränkt sich in der aktuellen Memoriaforschung keineswegs auf das Erinnern und Vergessen. Vielmehr erscheint es als Effekt des mittlerweile erreichten selbstreflexiven Niveaus der Erinnerung und bestimmt auch, wie im Folgenden angedeutet werden soll, den Gegensatz von außerwissenschaftlicher Erinnerungsarbeit und wissenschaftlicher Erinnerungsforschung; da Nebeneinander von transdisziplinärer und interdisziplinärer Erinnerungsforschung, das Verhältnis von raum- und zeitorientierten Erinnerungsmodellen, den Zusammenhang von individuellem und kollektivem Gedächtnis, sowie die Spannung zwischen einer national bzw. lokal verorteten und einer global entorteten Erinnerung.
Souvenir und Andenken
(2006)
Souvenir und Andenken sind [...] Mediatoren einer Umwegerinnerung: und dies, weil sie "mit dem ursprünglichen Sinneseindruck" metonymisch, d.h. als Fragment zusammenhängen. Charakteristisch für Souvenir und Andenken ist, dass sie, als Reststücke einer Person, eines Ortes, einer Situation, eines Erlebnisses, ein Versprechen enthalten, nämlich eine bislang im Rest-Fragment nur angedeutete Geschichte ganz zu erzählen, wiederzubeleben, wiederzuinszenieren. Dass dieses Versprechen nur sehr schwer und selten eingelöst werden kann, ist der Zwischenzeit geschuldet.
Die Gedächtnismetapher
(2006)
"Der Hypertext ist ein Dschungel, ein komplexes Netz aus Gedanken, in dem die Lesenden sich ihre eigenen Pfade suchen müssen und kein Pfad wie der andere ist. Hypertext – die griechische Vorsilbe "hyper" bedeutet "viel zu viel". Viel zu viel Text also? [...] Hypertext ist eine Folge der Wissensexplosion im 20. Jahrhundert und der damit einhergehenden Suche nach Formen, wie das sich rasend vermehrende Wissen und zunehmend komplexere Sachverhalte angemessen dargestellt werden können. Hypertexte sind wie Netze strukturiert, vielstimmig, dezentriert und durch Knoten oder Links verbunden [...] Hypertext ist der Vorstellung nach gebaut, wie Denken und Gedächtnis funktionieren.
Unser Denken ist - ein Selbstversuch von wenigen Sekunden bestätigt das - sprunghaft assoziativ und also nicht linear [...] Das WWW (World Wide Web) ist im Grunde ein aus Millionen von Hypertextdokumenten zusammengesetzter einziger monströser Hypertext, der sich ständig verändert [...] Anfang der neunziger Jahre war auf Arte eine Sendung zu sehen, in der ein Kritiker des Internets sagte, sich im World Wide Web informieren zu wollen sei dem Versuch vergleichbar, aus einem Feuerwehrschlauch Wasser zu trinken: Man bleibe dabei immer durstig [...] Was will ich? Wo bin ich? Wie komm ich da oder dort hin (und wie wieder zurück)? - nützliche Fragen, auch für Netznomaden."
Soweit www.rundumkultur.ch
Die griechische Präposition "hyper" bedeutet keineswegs "viel zu viel", sondern "über etwas hinaus, über etwas hinweg" und folglich auch "darüber, oberhalb, jenseits". Worüber hinaus also und jenseits wovon? Hypertext ist "vereinfacht gesagt eine Sammlung von verbundenen Textsegmenten. Diese Segmente sind miteinander durch sogenannte Links bzw. Hot-words verknüpft, markierte Wörter, die nach einem Mausklick zu dem Segment führen, dessen Adresse sie gespeichert haben. Da ein Textsegment mehrere Links aufweisen kann, [...] befinden sich die Segmente nicht in einer linearen Ordnung wie die Perlen einer Kette [...], sondern bilden die Form eines Netzes, das mehrere Wege von Knoten zu Knoten ermöglicht - der englische Terminus für ein Textsegment ist daher Node (Knoten)."