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Paul Gilroy verweist in seinem "The Black Atlantic" auf Walter Benjamin, dessen Konzept der "Urgeschichte" der Moderne ihm insbesondere wegen aus der jüdischen Mystik übernommener Elemente für die Konstruktion einer Alternative zur Siegergeschichte geeignet erscheint. [...] Wie lässt sich ein notwendig diskretes mystisches Eingedenken gegen das unausweichlich dröhnende Triumphgeschrei der Sieger diskursiv umsetzen? So klar auch sein mag, dass die konstitutive Voraussetzung für die Konstruktion und das Schreiben der Geschichte der Unterdrückten nur darin liegen kann, den Namenlosen zuzuhören, bleibt gleichwohl die Frage nach der Möglichkeit der Darstellung einer Geschichte der Namenlosen. Lässt sich Geschichte überhaupt jenseits einer vermeintlich unentrinnbaren Dialektik von Siegern und Verlierern, mithin anders darstellen als in der Sprache und aus der Warte der Sieger? Um Missverständnissen vorzubeugen: Im Folgenden soll nicht Walter Benjamin zum Vordenker des Post-Kolonialismus stilisiert oder in aktuelle de-kolonialistische Debatten hineingezwängt werden. Stattdessen dient Gilroys intuitive Hinwendung zu Benjamin als Ausgangspunkt für die Suche nach einer Alternative zu der in Europa bis heute bestimmenden Geschichtsschreibung aus der Warte der Sieger.
In den hier skizzierten Kontext kollektiver Selbstverständigung zeitgenössischer Kulturdiagnostiker fügt sich auch das Mem-Konzept ein, dessen Urheber jedoch nicht im Entferntesten daran dachte, einen Beitrag zur Lösung kulturanthropologischer Grundprobleme zu leisten. Der englische Evolutionsbiologe Richard Dawkins, der den Neologismus "Mem" eingeführt hat, ist in einem ganz anderen Kontext beheimatet und verfolgt ganz andere Intentionen. Es war vor allem der Gedanke der Replikation, der Dawkins so fasziniert hat, dass er die Frage stellte, ob nicht auch die kulturelle Evolution als ein autoreproduktiver Replikationsprozess begriffen werden könnte. Aber wer oder was sollte sich replizieren? Ließ sich eine Struktureinheit mit einem variablen Komplexitätsgrad annehmen, die analog zum Gen als ein Replikator fungieren könnte? Die Antwort auf diese Frage war die Mem-Hypothese. Gene stellen als biologische Erbeinheiten eine Art von Grundbausteinen der belebten Materie dar. Daran anknüpfend führte Dawkins als Analogon zum Gen die Größe ein, die er Mem nannte. Er definierte Mem als die Einheit kultureller Vererbung, die sich dadurch auszeichnet, dass sie Kopien von sich herstellen kann. Aufgrund eines solchen Wirkungsvermögens können Meme als Quasiakteure der Replikation betrachtet werden, sie seien die Replikatoren, die die kulturelle Evolution in Gang hielten.
Erich Rothackers Projekt einer Begriffsgeschichte, wie er es 1927 in seiner Rezension von Rudolf Eislers "Wörterbuch der philosophischen Begriffe" in groben Zügen skizziert hat, wird nur vor dem Hintergrund der geisteswissenschaftlichen Grundlagendiskussion der 1920er Jahre verständlich. Darin liegt allerdings auch die zunächst vielleicht nicht vermutete Aktualität dieses Vorhabens. Die Genealogie der Begriffe ist bei Rothacker zugleich die Suche nach dem "Schema des produktiven Lebens selber", das er in der 1926 erschienenen "Logik und Systematik der Geisteswissenschaften", den Wissenschaften vom Menschen zugrundelegt. Mit dieser Fragestellung folgt er, wie unschwer zu erkennen ist, dem Anliegen von Wilhelm Diltheys Weltanschauungslehre. Mit seinen Studien zu einer "Genealogie des menschlichen Weltbewusstseins" hat Rothacker dieses Projekt nach dem 2. Weltkrieg wieder aufgenommen. Seine dazwischen liegenden geschichtsphilosophischen und kulturanthropologischen Arbeiten entfalten das Thema Produktivität als eine Art "Typologie der kognitiven Kräfte", wie sie Michael Landmann in einem ähnlichen Zusammenhang einmal bezeichnet hat.
Ziel des Beitrags ist die Nachzeichnung des Entwicklungsgangs der Kulturphilosophie Rothackers, die von der positivistisch geprägten Universalgeschichte und Völkerpsychologie seiner Zeit ausging, sich dann der 'historischen Bewegung' des 19. Jahrhunderts zuwandte, um diese im Sinne Diltheys für eine Philosophie der Geisteswissenschaften auszuwerten. Seit Ende der 1920er Jahre baute Rothacker über die Rezeption der entstehenden philosophischen Anthropologie (Scheler, Plessner) und relevanter biologischer Ansätze (Uexküll) den eigenen Historismus zu einer Kulturanthropologie aus, die er in der Nachkriegszeit durch eine Entwicklungstheorie des Bewusstseins abrundete. Diese vier charakteristischen Phasen seiner kulturphilosophischen Entwicklung werde ich im Folgenden zusammenfassend beschreiben. Im Verlauf der Betrachtung der einzelnen Phasen verweise ich auf relevante Bausteine für Rothackers Konzept der Begriffsgeschichte.
Der Begriff der Nationalliteratur fungiert bei Herder […] vor allem als eine Differenzkategorie, die in Frontstellung zu den Konzepten eines universalistischen Rationalismus :und einer durch ihn begründeten klassizistischen Ästhetik entworfen wird, weil in ihrem Horizont das Problem der kulturellen Differenz nicht gedacht werden kann. Herders Konzept ist daher primär zu lesen als ein solches, das nach Wegen sucht, die Frage kultureller Differenz sowohl in synchroner wie in diachroner Perspektive zu erfassen.