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Es ist so bemerkenswert wie verständlich, daß kaum umfassendere Arbeiten vorliegen, die versuchen, Goethes Werk von der Aufklärung her zu verstehen. Wie sollte ausgerechnet der Klassiker, der die Epoche um 1800 so maßgeblich geprägt hat, daß wir sie heute Goethezeit nennen, selbst nachhaltig durch die vorausgehende Epoche beeinflußt worden sein? Andererseits: Zwei Programmschriften der deutschen Aufklärung, Lessings Drama "Nathan der Weise" und seine Abhandlung "Die Erziehung des Menschengeschlechts", erscheinen erst 1779 bzw. 1780. Goethe, der Lessing hochgeschätzt hat, ist da gerade 30 Jahre alt. In seiner Analyse moderner Subjektivität "Die Leiden des jungen Werthers" (1774) vergißt Goethe nicht, auf diese innere Verbindung zwischen der Problematik seines Briefromans und der Aufklärung hinzuweisen: Als man Werther nach seinem Selbstmord findet, wird registriert: "Emilia Galotti lag auf dem Pulte aufgeschlagen." Von Goethe selbst liegen jedoch wenige Äußerungen vor, die sich unmittelbar auf die Aufklärungsdebatten beziehen. Die Worte "aufklären" und "Aufklärung" – bei ihm vor allem für die Zeit nach 1800 belegt – gebraucht er meistens in einem sehr bildhaften, nicht theoretisch-reflexiven Sinn.
Goethes Erde zwischen Natur und Geschichte : Erfahrungen von Zeit in der "Italienischen Reise"
(1993)
Meine These ist: Goethe vollzieht die Temporalisierung der Naturgeschichte mit. Er tut es allerdings nicht primär zur Erweiterung des empirischen Wissens von der Erdentstehung. Statt sich infinit in steingraue Zeiten zu verlieren, versucht er, diese in sinnlichen Maßen unvorstellbaren, darum im Kantischen Sinn erhabenen Kognitionen zu verbinden mit der allerdings erfahrbaren Spannung zwischen unvordenklichem Seinsgrund und pathischer Existenz. Dafür setzt er den Granit nicht als wissenschaftliches Objekt, sondern als symbolische Form ein, nicht thesei, sondern physei, und bringt ihn derart zur ästhetischen Evidenz. In dieser dialektischen Spannung spiegelt sich bei Goethe die Konfiguration von Geschichte und Natur, von Zeitlichkeit und Seinsgrund, von Subjektivem und Objektivem.
Das gelehrte Übermenschentum bekam schon immer einen steifen Nacken, wenn es galt, auf die Niederungen des Gretchenschicksals hinabzublicken. Noch heute wissen die Faustforscher nicht so recht, worin er eigentlich besteht, der "tragische Gedanke". Sie ahnen nur, daß die alten Erklärungen überholungsbedürftig sind – Erklärungen, die noch aus der Zeit des kalten Geschlechterkrieges stammen. Auch in diesem Krieg war Deutschland geteilt. ...
Unter den Werken Goethes sind insbesondere die "Wanderjahre" und der "Faust II" immer wieder als Ratgeber für das rechte Fortschrittsbewußtsein herangezogen worden. So etwa vom ersten deutschen Reichspräsidenten in seinem Plädoyer für einen demokratischen Neubeginn: Nach dem Ersten Weltkrieg beschwor Friedrich Ebert den "Geist von Weimar", der "die großen Gesellschaftsprobleme" so behandeln müsse, wie "Goethe sie im zweiten Teil des Faust und in Wilhelm Meisters Wanderjahren erfaßt" habe; d.h. nach der Devise: "mit klarem Blick und fester Hand ins praktische Leben hineingreifen!" ...
Der Ausdruck "Weltliteratur" ist eine der folgenreichsten Wortprägungen des späten Goethe: hat er sich doch nicht nur in der deutschsprachigen Literaturwissenschaft und -kritik rasch durchgesetzt, sondern inzwischen auch im Ausland seinen Niederschlag in Titeln wie J. T. Shipleys Dictionary of World Literature oder der im "Maksim-Gorkij-Institut für Weltliteratur" in Moskau entstehenden vielbändigen Istorija vsemirnoj literatury gefunden. Für den damit angestrebten enzyklopädischen Überblick über die verschiedensten Literaturen der Welt hat Goethe selbst in seinen Schriften zur Literatur ein beeindruckendes Beispiel gegeben; denn deren Spannweite reicht von den Literaturen des Nahen und Fernen Ostens über die Klassische Antike und das Mittelalter bis zu den zeitgenössischen europäischen Nationalliteraturen, ja selbst bis zu neugriechischen, serbischen, litauischen und anderen Volksdichtungen.
Im Sinne der "lectio difficilior" soll im folgenden die Spur der metaphora audax verfolgt und die These vertreten werden, die Parallelführung zwischen göttlichem und poetischem Schöpfungsakt gelte für die ganze Kosmogonie; sie impliziere damit auch zwei grundsätzlich verschiedene poetische Schaffenstypologien, und Goethe kontrastiere in Wiederfinden über die beiden Schöpfungsphasen der Weltwerdung den einen Typus des dichterischen Schaffensprozesses mitsamt dem ihm innewohnenden Leidensdruck mit seinem Gegentypus, der freilich deutlichen Wunschbildcharakter trage.
Seit über 150 Jahren ist Goethes Name ein >Symbol der Bildung<. Daran konnten die wiederholten Korrekturen des Goethebildes nichts ändern und ebensowenig die wachsende Unsicherheit, was es denn mit dem Begriff ›Bildung‹ eigentlich auf sich habe. Historiker, Soziologen, Pädagogen, Literaturwissenschaftler haben sich immer wieder um diesen Begriff bemüht. Eines ihrer Ergebnisse bestand in der seltsamen Feststellung, daß sich der Begriff, je genauer man ihn zu fassen suchte, um so mehr dem konkreten Zugriff und der präzisen Definition entzog. Man suchte nach dem kleinsten gemeinsamen Nenner der verschiedenen Verwendungen, reihte individuelle Bildungskonzeptionen aneinander oder näherte sich der Verwendungsgeschichte mit diskursanalytischem Inventar. All das förderte eine Menge von Einsichten zutage, ohne das Paradox von Vagheit bei gleichzeitiger Deutungsmacht erklären zu können. Aber gerade das war und ist erklärungsbedürftig, da die soziale Relevanz des Bildungsbegriffs insbesondere für das 19. Jahrhundert außer Frage steht. Seitdem die attraktiv einfache Antwort des allgemeinen Ideologieverdachts an Überzeugungskraft verloren hat, muß auch die Frage nach der genauen gesellschaftlichen Funktion des Begriffs wieder neu gestellt werden.
Goethe und die Renaissance
(1997)
Goethes Bewußtsein für die Modernität und Zeitbedingtheit des eigenen Ichentwurfes entsteht aus dem Spannungsverhältnis zwischen der Nähe einer als Bildungsprinzip verstandenen, normativen Antike und der Ferne ihres Wiederauflebens am Beginn der neuzeitlichen Periode, in der Goethe nach einem modernen Ichprinzip sucht. Goethe antwortet darauf mit der subjektgeschichtlichen Orientierung seines autobiographisch orientierten Bildungsgedankens. Die Genese von Epochenbegriffen und die Verzeitlichung des Subjektverständnisses erscheinen in seinem Werk aus heutiger Sicht als komplementäre Prozesse.
Eine lettische Sage, Die Rose von Turaida, erzählt von dem Mädchen Maija, das sich einem Gärtner versprochen hat und tapfer allen anderen Werbern widersteht. Als sie aber, von einem zudringlichen Ritter mit Hinterlist in eine Waldgrotte gelockt, diesem wehrlos ausgesetzt ist, wahrt sie ihre Integrität durch eine heroische Opferbereitschaft: Im Moment der Überwältigung gibt sie ein rotes Tuch, das sie um den Hals trägt, als Zaubermittel aus, das die Fähigkeit habe, unverwundbar zu machen, und sie fordert den Ritter auf, sich davon zu überzeugen, indem er nur einmal versuchen solle, ihr den Kopf abzuschlagen. Von seiner Machtlüsternheit verführt, tut der Ritter, wie ihm geheißen – und erhält eine traurige Lektion über die Macht der Treue. ...