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Das im Theiss-Verlag erschienene Buch „Grenzen des Imperiums. Leben am römischen Limes“ von Margot Klee behandelt die Regionen an den Rändern des römischen Reiches und nimmt die Bedeutung des Limes für diese Gebiete in Augenschein. Der geographische Bogen spannt sich dabei vom Hadrians- und Antoninuswall in Großbritannien über die römischen Provinzen Mittel- und Osteuropas bis nach Kleinasien, die Levante und Nordafrika. Dabei werden in jedem Kapitel nicht allein die jeweiligen archäologisch nachgewiesenen Limesanlagen, sondern auch Kastelle, Brücken und Straßen entlang der Grenze untersucht und in kurzen Abschnitten dargestellt, um so einen möglichst breitflächigen Gesamteindruck der Anlage vermitteln zu können. ...
Otto Hufnagel war bis vor dem Ersten Weltkrieg ein typischer wilhelminischer Bildungsbürger. Er wurde 1885 als Sohn eines protestantischen Frankfurter Volksschullehrers und Veteranen des Kriegs von 1870 geboren, legte 1905 das Abitur ab und studierte in Heidelberg und Leipzig Geschichte, Deutsch und Latein. Während die kontroverse Bewertung seiner Dissertation zeigte, dass (nur) ein Teil der Leipziger Historiker in ihm ein wissenschaftliches Talent sah, waren auch die Skeptiker sicher, dass es sich bei Hufnagel Junior ebenfalls um einen vorbildlichen Lehrer handeln würde. Dieses Urteil bestätigte Hufnagel seit 1911 in der waldeckischen Hauptstadt Arolsen, wo er sich auch in der breiteren Öffentlichkeit der Residenzstadt hervortat: als glühender Bismarck-Verehrer, Marine-Apologet und Kriegsbefürworter. Das sollte sich erst ändern, als Hufnagel seit 1915 persönlich mit den Schrecken des Krieges konfrontiert wurde. Als er im Herbst 1918 in das einer relativ gemächlichen Revolution entgegenblickende Arolsen zurückkehrte, tat er dies als überzeugter Demokrat und Republikaner, der bald zu einer der führenden Persönlichkeiten der Waldeckschen DDP aufstieg. Als Mitglied des Landtages beschäftigte sich Hufnagel intensiv mit den besonderen Problemen der Waldeckschen Verfassung und ihrer Implikationen für eine Neuordnung der Beziehungen zwischen Bevölkerung, Fürst, Staat und Reich. Waldeck war 1866 von der preußischen Annexionswelle verschont geblieben, aber 1867 halb-freiwillig in die Rolle einer preußischen Dependance mit einem Monarch minderen Ranges gewechselt. Eine der beherrschenden Fragen der waldeckschen Landespolitik war daher - neben der Revolution - die Möglichkeit eines Anschlusses an Preußen (den Hufnagel befürwortete) und bereits vor 1926 die Frage nach dem Status des Vermögens eines Quasi-Monarchen (wo sich Hufnagel anspruchsvoll, aber kompromissbereit zeigte). Waldeck gehörte nach 1918 zunächst zu den deutschen Regionen, welche dem bürgerlichen Liberalismus besondere Möglichkeiten zu eröffnen schienen - dafür sprach bereits vor 1914 die Tatsache, dass Friedrich Naumann Reichstagsabgeordneter für Waldeck und Pyrmont gewesen war; nach dem Krieg kam das Wirken von ihrer Begeisterung für Kaiser und Reich abgekommenen Persönlichkeiten wie Hufnagel hinzu. Allerdings machte der weitere Verlauf der Ereignisse deutlich, dass auch in Waldeck der bürgerliche Liberalismus schwierigen Zeiten entgegenging. Zwar schien sich relativ lange die Chance zu bieten, alle liberalen Kräfte in einer Partei zu vereinigen oder zumindest im Landtag zu einer Fraktion zu schmieden, aber diese Hoffnung erwies sich als trügerisch. Die DDP wurde alsbald - trotz des politischen Geschicks Hufnagels - im bürgerlichen Lager von rechts überholt, wobei die Tatsache, dass in Menks Darstellung die liberale Haltung zu sozialen Fragen stark in den Hintergrund tritt, eine mögliche Begründung erahnen lässt. Die Taktik der bürgerlichen Rechten, Hufnagel öffentlich an den Pranger zu stellen, etwa durch Verweis auf die Folgen seiner politischen Aktivität für Unterrichtsausfall an seiner Schule oder durch Berichte über vermeintliche Verfehlungen im Landtag (beispielsweise Protokollfälschung) endete in einer Prozesskette, aus der Hufnagel zwar siegreich hervorging, die ihn aber zermürbte und 1924 dazu bewog, ins liberale Frankfurt überzusiedeln. Folgt man dem Urteil Gerhard Menks, so wurde Waldeck sehr bald ein weiterer Staat, in dem eine demokratische politische Kultur bereits vor 1933 von innen ausgehöhlt wurde und wo für kritische Geister weniger Platz blieb als für Demagogen, die nach 1933 erfolgreich blieben. In Frankfurt betätigte sich Hufnagel vorwiegend als Lehrer und Wanderer, kaum noch als Politiker und politischer Publizist. Insofern bedeutete die Machtergreifung 1933 zwar eine Zäsur, aber keine unmittelbare politische Bedrohung; eine Entlassung des wenig exponierten Lehrers stand offenbar ebensowenig zur Debatte wie ernsthafte Sanktionen. Die Versetzung innerhalb Frankfurts konnte als Strafe oder Belohnung gedeutet werden. 1944 zog Hufnagel mit seiner Schule nach Westerburg, um den Folgen des Bombenkrieges zu entgehen, starb aber noch im selben Jahr. Hufnagel war gewiss kein Politiker der ersten Reihe. Der vorliegenden Biografie gelingt es aber, anhand der detaillierten Betrachtung einer - zugegebenermaßen spröden - Person ein liberales Milieu der 'Provinz', das entscheidend von Lehrern geprägt wurde, neu und in vielfacher Hinsicht erstmals zu beleuchten. Dies geschieht auf der Grundlage akribischer Recherchen, die durch den beinahe kompletten Verlust des Nachlasses Hufnagels erschwert wurden, sowie umfassender Kenntnisse der Landesgeschichte, die immer in den breiteren historischen Kontext eingebettet wird. Ein 776 Seiten umfassender Dokumentenanhang enthält publizierte Quellen zu Hufnagel, zur Geschichte der waldeckschen und Frankfurter DDP, zur Revolution von 1918 und zur allgemeinen Regionalgeschichte des späten Kaiserreichs und der Weimarer Republik. Während der Rezensent sich eine deutlich rigorosere Straffung des Manuskripts gewünscht hätte, das zu ausladenden, sich im Rahmen der Darstellung mehrfach wiederholenden Schilderungen neigt, so werden andere Nutzer des Buches die Tatsache begrüßen, dass der Autor auch mit der allgemeinen Historiografie der Epoche nicht vertraute Leserinnen und Leser an jeder Stelle in den allgemeinen Kontext seiner Betrachtungen einführt. Es handelt sich insgesamt um ein Produkt einer gründlichen, leidenschaftlichen Forschungsarbeit, welche die Geschichte des Weimarer Liberalismus um eine biografische und regionalgeschichtliche Dimension erweitert und damit die Frage nach den Gründen für sein Scheitern der Beantwortung ein Stück näher bringt. Redaktionelle Betreuung: Nils Freytag
Jonathan Parry kann man als Biografen des englischen Liberalismus des 19. Jahrhunderts beschreiben, und zwar als einen Biografen, der sich seinem Gegenstand nicht chronologisch, sondern systematisch nähert. Das vorliegende Buch bildet den dritten Teil einer Trilogie, die mit einer Studie über Liberalismus und Religion begann und sich mit einer viel beachteten Diskussion von Ideologie und Praxis des regierenden Liberalismus fortsetzte. [1]. In seinem zweiten Werk hatte Parry die Vermutung geäußert, dass der britische Liberalismus zwar "superficially generous" gewirkt habe, im Kern aber "profoundly chauvinistic" gewesen sei. [2] In gewisser Weise ist sein drittes Buch der Ausführung und Differenzierung dieser These anhand außenpolitischer Debatten gewidmet. Wie es sich bei der Fortsetzung einer Reihe geziemt, die ein komplexes Argument präsentiert, beginnt das Werk mit einer ausführlichen Rekapitulation der ersten beiden 'Folgen' in zwei einleitenden Kapiteln, die der liberalen Verfassungsvorstellung einerseits, der Verbindung zwischen der spezifisch liberalen Vorstellung eines moralischen öffentlichen Lebens, einer britischen nationalen Identität und europäisch-globalen Mission andererseits gewidmet sind. Der Einleitungsmodus setzt sich zunächst im dritten Kapitel fort, das anhand einer Diskussion der in England behandelten außenpolitischen Themen der 1830er- und 1840er-Jahre den Rahmen der Debatte absteckt: dabei stehen zunächst nicht außenpolitische Fragen (wie etwa die Orientkrise) im Mittelpunkt, sondern prinzipielle Probleme der Wechselwirkung zwischen äußerer Politik und nationalen Angelegenheiten, wobei Irland und der Katholizismus, Freihandel, die Person Palmerston und Nonkonformismus breiten Raum einnehmen. Die folgenden vier Kapitel behandeln dann jeweils anhand entscheidender Episoden (der Revolution von 1848, der italienischen Nationalstaatsgründung, des deutsch-französischen Krieges und der orientalischen Frage) Kontinuitäten und Brüche, Schwerpunktsetzungen und Veränderungen des liberalen Diskurses. Dabei zeigt Parry, wie drei Themenkreise ineinander griffen: die außen- und verteidigungspolitische Haltung Großbritanniens, die in liberaler Sicht dazu dienen sollte, ein nach englischem Muster geformtes, durch Kern-Werte wie Freiheit und staatliche Zurückhaltung, aber auch Protestantismus und Moral geprägtes Verfassungssystem weltweit zu fördern; die innenpolitische Thematik der Ausgestaltung der Erziehung (protestantischer) britisch / englischer Staatsbürger vor dem Hintergrund internationaler (Bildungs-)Konkurrenz; schließlich die Folgen eventueller auswärtiger Engagements für das britische Staatsgefüge, vor allem für die Beziehung zwischen Monarchie, Regierung, Parlament und Öffentlichkeit. Parry argumentiert überzeugend, dass eine innenpolitische Interpretation des Siegeszugs des britischen Liberalismus zu kurz greife. Außenpolitische Debatten (oder besser gesagt, deren innenpolitische Deutung und Instrumentalisierung) hätten eine entscheidende Rolle in der breiteren Öffentlichkeit gespielt, und auch in diesem Bereich sei es Liberalen (fast) immer gelungen, überzeugendere Antworten zu bieten als ihre konservativen Gegner. Die große Ausnahme in dieser Hinsicht war der deutsch-französische Krieg von 1870; hier führte liberale außenpolitische Zurückhaltung zu einer entscheidenden Wahlniederlage. Ähnliches galt für das Dilemma der orientalischen und ägyptischen Verwicklungen der 1880er-Jahre, wo die Kritik allerdings weniger einhellig ausfiel und mit gewissen Auflösungserscheinungen der liberalen Hegemonie, die ihren Ausgang in der Innen- und Irlandpolitik nahmen, zusammenfiel. Das Buch, ein Werk stupender Gelehrsamkeit, das auf jeder Seite von einer souveränen Kenntnis der Schriften bekannter und weniger bekannter Autoren zeugt, lässt sich in unterschiedlichen Perspektiven lesen. Zunächst einmal bietet es den letzten, am weitesten ausgereiften Stand von Parrys Überlegungen zum spezifischen Charakter des britischen Liberalismus in seiner hegemonialen Phase. Weiterhin bietet es eine exemplarische Fallstudie zur Interaktion zwischen außenpolitischer Konkurrenzwahrnehmung und innenpolitischen Initiativen im 19. Jahrhundert. Schließlich bietet das Buch einen Leitfaden durch die britische Außenpolitik und ihre Motivation zwischen 1830 und 1890. Man sagt Biografen gelegentlich nach, dass sie mit der Zeit Eigenarten ihrer Subjekte übernehmen. Parry mag der Versuchung insoweit erlegen sein, als er sein Thema ganz im Rahmen des liberalen Paradigmas angeht, das er beschreibt: mit einem trotz des potenziell internationalen Themas klaren Fokus auf England (der sich in der beinahe exklusiven Rezeption englischsprachiger Forschung spiegelt) und mittels einer pragmatischen, flexiblen, aber nicht immer trennscharfen Definition dessen, was als liberale (im Gegensatz zu konservativen oder radikalen) Äußerungen gewertet werden kann. Das ist eine potenzielle Schwäche, zugleich aber auch eine potenzielle Stärke des Buches, denn nur so konnte ein zentrales Alleinstellungsmerkmal des britischen Liberalismus adäquat abgebildet werden. Parry macht deutlich, dass Chauvinismus im britischen Fall eine Verbindung zwischen Überlegenheitsgefühl und potenzieller Weltoffenheit bedeutete; ebenso, dass die unpräzisen Parteigrenzen es ermöglichten, gerade im Bereich der Außenpolitik eine Anziehungskraft zu entfalten, die über den Kernbereich einer im engeren Sinne liberalen Klientel weit hinausreichen konnte. Unabhängig davon, aus welcher Perspektive man es in der Hand nimmt: dies ist ein sehr lesenswertes, zudem sehr angenehm geschriebenes Buch. Anmerkungen: [1] Jonathan Parry: Democracy and Religion: Gladstone and the Liberal Party, Cambridge 1986. [2] Jonathan Parry: The Rise and Fall of Liberal Government in Victorian Britain, New Haven 1993. [3] Ebd., 16. Redaktionelle Betreuung: Peter Helmberger
Die politische Geschichte der Stadt London im 19. Jahrhundert ist in den letzten Jahren nicht besonders intensiv behandelt worden. Ähnlich wie die Geschichten anderer Metropolen in der Moderne legen neuere Überblicke und Spezialstudien [1] für diese Jahre den Schwerpunkt auf eine kultur- und gesellschaftshistorische Perspektive, die sich mit dem Ausbau städtischer Infrastruktur, der symbolischen Sprache bebauter Räume und der Stadterfahrung im weitesten Sinne beschäftigt. Das hat eine historiografische Lücke hinterlassen, zu deren Schließung der vorliegende Band einen gewichtigen Beitrag leistet. Die Politik Londons zu beschreiben setzt allerdings voraus, dass es gelingt, londonspezifische Strukturierungsprobleme zumindest in den Griff zu bekommen. Wie das englische politische System insgesamt, so war auch der politische Raum London durch eine gewisse Unübersichtlichkeit geprägt, die es schwer macht, eine politische Gesamtgeschichte zu identifizieren, geschweige denn, einfach so zu erzählen. Im ausgehenden 18. und frühen 19. Jahrhundert zerfiel London in die Parlamentswahlkreise Westminster, City of London, Southwark und Middlesex; der Einfluss der Metropole strahlte allerdings auch nach Kent und Essex aus. Die Wahlrechtsreform von 1832 erweiterte die Zahl der Londoner Wahlkreise erheblich. Mit den Reformen der Lokalverwaltung Ende des 19. Jahrhunderts und dem weitestgehenden Übergang zu Ein-Mann-Wahlkreisen 1885 kamen neben den neuen Wahlbezirken eine Londoner Gesamtverwaltung, die Gemeinden innerhalb der Grenzen der Metropole (boroughs) und formal unabhängige Städte wie Walthamstow in Greater London hinzu, welche die bisherige Mischung aus Gemeindeverwaltung (vestries) und Gremien für spezifische Zwecke (vornehmlich das für die Infrastruktur zuständige Metropolitan Board of Works) ablösten. Jeder Wahlkreis und jede Institution der Lokalverwaltung hat eine eigene, komplexe Geschichte; gerade diese Vielfalt trug entscheidendes zur politischen Vitalität Londons bei und stellt daher auch eine unverzichtbare Facette des Gesamtbilds dar. Der Sammelband strebt vor diesem Hintergrund nicht an, eine politische Geschichte der Gesamtmetropole zu skizzieren, sondern liefert in zehn Artikeln, die von einer ausführlichen Einleitung und einem Schlusskapitel, in dem weitere Forschungsperspektiven skizziert werden, eingerahmt sind, erste methodische und inhaltliche Annährungen an zentrale Fragen, welche eine solche Gesamtgeschichte behandeln müsste. Ein großes Thema des Bandes sind die Eigenarten, der Aufstieg und der Niedergang des Londoner Radikalismus. Matthew McCormick argumentiert, dass es weniger Sinn mache, von einem kohärenten radikalen Programm zu sprechen, als von einer Rhetorik der "Unabhängigkeit", die sich (nur) in der Gegnerschaft gegenüber den Zumutungen des Staates überschnitt. David A. Campion widmet sich der Frage, wie die Metropolitan Police zu der relativ zivilen, auf Deeskalation von Konflikten eingestellte Polizeikraft werden konnte, als die sie sich im späteren 19. Jahrhundert zumeist präsentiert. Er stellt klar, dass dies zum Zeitpunkt der Gründung keineswegs feststand, sondern Folge der Untersuchung von Missbräuchen durch die parlamentarische und breitere Öffentlichkeit im Rahmen von zwei 1833 eingerichteten Untersuchungskommissionen war, welche die Polizei von eher autoritären Wurzeln aus liberalisierten. Drei Aufsätze beschäftigen sich mit der viel diskutierten Frage, ob und wenn ja warum der Londoner Radikalismus im Laufe des 19. Jahrhunderts an Unterstützung verlor. Ben Weinstein dokumentiert, dass das Russel'sche Sozialreformprogramm in London durchaus auf breite Sympathie stieß. Anthony Taylor präsentiert die andauernde Vitalität Chartistischer Vereine in London nach 1848, während David Nash ein Panorama säkularistischer Vereine entwirft. Es scheint also, dass ein abschließendes Urteil in dieser Frage noch weiterer Forschungen bedarf. Eine globalere Perspektive zeichnet die Beiträge von Detlev Mares und Marc Baer aus. Mares diskutiert die Beziehungen und Spannungen zwischen der liberal-radikalen "Opposition" in London und der Provinz. Dabei werden die Gründe für die Vitalität der Opposition in London besonders deutlich, die sich auf ein breites Publikum, eine vitale Presse und symbolische Orte wie die königlichen Parks stützen konnte. Diese Vormachtstellung wurde zwar in der Provinz gelegentlich kritisiert, aber im Allgemeinen doch anerkannt. Baers Beitrag schildert die Londoner Wende zum Konservatismus am Beispiel des Wahlkreises Westminster in einer längeren Perspektive, die gewisse konservative potenziale bereits in Paradoxien des Radikalismus um 1800 angelegt sieht. Die abschließenden Beiträge widmen sich dem Konservatismus, der London im späten 19. Jahrhundert anerkanntermaßen weitgehend dominierte. Marc Brodies Studie des konservativen Wahlerfolgs in Londoner "Slums" macht deutlich, dass die konservativen Basen im East End eher durch relativ großen Wohlstand als durch Armut gezeichnet waren, und dass religiöse Bindungen oft die entscheidende, allerdings in ihrer parteipolitischen Ausrichtung von Bezirk zu Bezirk variierende, Rolle spielten. Alex Windscheffel beschäftigt sich anhand konkreter Beispiele mit der Rolle des Empire für konservative Wahlerfolge in London. Während er die spannende Wahl nicht-weißer, nicht in England geborener Parlamentsmitglieder in Londoner Wahlkreisen relativ kurz darstellt, er handelt er ausführlich von Wahlniederlage und Wahlsieg des Abenteurers und Entdeckers Henry Morton Stanley in Lambeth, die zeigen, wie umstritten das imperialistische Projekt auch in der Hauptstadt des Imperiums blieb. Timothy Cooper schließlich richtet den Blick noch einmal über die Stadtgrenzen hinaus, wenn er die politische Ausrichtung einer typischen Boom-Vorstadt wie Walthamstow in den Blick nimmt. Insgesamt handelt es sich bei dem Band um eine Sammlung konziser Aufsätze zu präzisen Themen der Londoner Stadtgeschichte (und darüber hinaus), welche die thematische und methodische Richtung - wie die entsprechenden Probleme - einer künftigen Londoner Politikgeschichte aufzeigen. Anmerkung: [1] Vgl. Francis Sheppard: London: A History. Oxford 1998; Peter Ackroyd: London: The Biography, London 2001; Jonathan Schneer: London 1900: The Imperial Metropolis, New Haven 2001. Redaktionelle Betreuung: Peter Helmberger
John Wilkes war eine der aufsehenerregendsten Figuren der englischen politischen Geschichte des ausgehenden 18. Jahrhunderts. 1725 wurde er als Sohn eines vom Nonkonformismus zum Anglikanismus konvertierten Londoner Unternehmers geboren. Es ist bezeichnend für das Streben der Familie nach sozialem Aufstieg, dass er zum Rechtsanwalt ausgebildet werden sollte; diesem Ziel diente auch ein Studienaufenthalt in Leiden. 1747 erwarb er durch die Heirat mit Mary Mead neben verstreutem Landbesitz ein Gut in Aylesbury, das ihm den Weg ins Parlament erleichterte, allerdings nicht verhindern konnte, dass er sich im Zuge des Wahlkampfs hoch verschuldete. Politisch stand er zunächst dem Kreis um William Pitt d. Ä. nahe, was dazu führte, dass er durch den Regierungswechsel, der Georgs III. Krönung folgte, Aussicht auf politische Ämter und das sich daraus ergebende Einkommen verlor. Stattdessen stellte er seine spitze Feder in den Dienst der Opposition, und seine Konflikte mit Regierung und Parlamentsmehrheit wurden bald zur Prinzipienfrage. Im Frühjahr 1763 wurde er wegen eines persönlichen Angriffs auf den ersten Minister des Königs, dem er ein Verhältnis mit der Königinmutter andichtete, erstmals verhaftet - was einen illegalen Eingriff in die parlamentarische Immunität darstellte, der Wilkes zunächst hohen Schadensersatz versprach. Im Herbst 1763 folgte allerdings eine formgerechte Anklage wegen Blasphemie, die sich auf einen pornographischen Text, den "Essay on Woman", bezog. Da seine Position aussichtslos schien, floh Wilkes nach Frankreich; seine Flucht zog die Ächtung nach sich, was wiederum bedeutete, dass er seine Schadensersatz-Forderungen vor Gericht nicht mehr geltend machen konnte. In Paris lebte Wilkes vor allem von mehr oder weniger geheimen Zuwendungen der wohlhabenden Mitglieder seiner 'Partei'. Die wachsende Schuldenlast und das Gefühl, von seinen Gönnern nicht hinreichend unterstützt zu werden, brachten Wilkes 1768 zurück nach England. Der Versuch, sich in den engeren Rat der Stadt London wählen zu lassen, scheiterte; allerdings gelang es Wilkes, sich - auch aus dem Gefängnis - drei Mal in Folge für den Wahlkreis Middlesex im Parlament wählen zu lassen. Die Wahl wurde dreimal annulliert, beim letzten Mal erkannte das Unterhaus den unterlegenen Kandidaten als rechtmäßig gewählt an. Vom unappetitlichen Propagandisten wurde Wilkes so zum Symbol für den Widerstand gegen die politische Willkürherrschaft einer parlamentarischen Oligarchie, die danach strebte, die Zusammensetzung des Parlaments durch Kooptation zu bestimmen. Die Kritik von Wilkes' Anhängern deckte sich in diesem Punkt in mehrfacher Hinsicht mit der Begründung amerikanischer Forderungen nach politischer Unabhängigkeit; ganz weitreichende Interpretationen weisen ihm sogar eine entscheidende Rolle für den Ausbruch der amerikanischen Revolution zu. [1] Wilkes wurde zum Liebling eines radikalen Londoner Kleinbürgertums. Er wurde Londoner Stadtrat, Bürgermeister, Kämmerer und setzte durch juristische Winkelzüge 1774 das Recht durch, über die Debatten eines Parlaments öffentlich berichten zu dürfen, dem er seit 1782 wieder angehörte. Die letzten Jahre seines Lebens sind weniger aufregend und weniger bekannt. In vielerlei Hinsicht wurde Wilkes zum gemäßigten Konservativen, der die Französische Revolution kritisch betrachtete und sogar ein einigermaßen vertrautes Verhältnis zu dem - allerdings nicht mehr ganz bei Verstand befindlichen - Georg III. aufbaute. Von den radikalen Forderungen der 1770er Jahre blieb vor allem die Unterstützung der religiösen Toleranz übrig. Wilkes starb 1797. Das Leben von John Wilkes ist seit George Rudés klassischer Darstellung der Gegenstand einer ganzen Reihe von Monographien gewesen; eine weitere ist angekündigt. [2] Vor diesem Hintergrund geht es Sainsbury weniger darum, noch eine Biographie zu schreiben, sondern Paradoxien der öffentlichen Wirkung von Wilkes zu entschlüsseln. Er fragt etwa danach, wie ein chronisch zahlungsunfähiger und -unwilliger Patron ausgerechnet zum Idol der kaufmännisch orientierten Londoner Bevölkerung werden konnte oder welche Rolle Wilkes sexuelle Ausschreitungen für seine Popularität spielten. Daraus ergibt sich der thematische Aufbau des Buches, das in sechs Teile gegliedert ist: Familie, Ehrgeiz, Sex, Religion, Klasse, Geld. Wilkes erscheint in (fast) allen diesen Bereichen als Grenzverletzer, dem es gelang, seine ungewöhnlichen Verhaltensweisen (Trennung von seiner Frau; aristokratische Ambitionen und Volksnähe) als kalkulierte Provokation gegenüber 'denen da oben' zu präsentieren. Eine solche Strategie war in vielem prekär, da sie auf subtilen Bedeutungsunterschieden beruhte. So versuchten Wilkes' Verteidiger seine sexuellen Ausschweifungen als Zeichen einer Potenz darzustellen, die sich von den verweichlichten, bisexuellen Praktiken einer perversen Aristokratie abhob - obgleich Wilkes diesen später von ihm kritisierten Zirkeln angehört hatte. Auf einer ähnlich spitzfindigen Argumentation beruhte die Unterscheidung zwischen den unvermeidbaren Schulden einer politischen Figur wie Wilkes und der Kaufleute bedrückenden Zahlungsverweigerung sozialer Eliten. Sainsburys sehr lesenswerte Interpretation der vielen Gesichter des John Wilkes beruht auf einer außerordentlichen Kenntnis der Briefe, Flugschriften und Karikaturen der Zeit. Was ihm allerdings auch nicht gelingt, ist, die Jahre nach 1774 stärker in den Mittelpunkt zu stellen. Als es in der Öffentlichkeit Still um Wilkes wurde, verlor auch sein öffentliches Bild offenbar seine Konturen. Anmerkungen: [1] James Lander: A Tale of Two Hoaxes in Britain and France in 1775, in: Historical Journal 49, 2006, 995-1024. [2] Vgl. etwa George Rudé: Wilkes and Liberty: A Social Study of 1763 to 1774. Oxford 1962; Peter D. G. Thomas: John Wilkes: A Friend to Liberty. Oxford 1996; Arthur H. Cash: John Wilkes: The Scandalous Father of Modern Liberty. New Haven 2006.
Wir wissen nicht, was König Adolf von Schweden in seiner Satteltasche trug, als er im 30jährigen Krieg hoch zu Ross in die Schlacht zog. Angeblich soll es ein Exemplar des Buches "De iure belli ac pacis" gewesen sein, des völkerrechtlichen Hauptwerks von Hugo Grotius. Spätestens seit Louis Aubéry du Mauriers "Memoires pour servir a l’histoire de Hollande et des autres Provinces-unies" (1688) gehört diese Anekdote zum festen Bestandteil des Grotius- Mythos. Erzählt wird sie meist dann, wenn es um die Frage nach dem Verhältnis von Theorie und Praxis im Völkerrecht und ihrer Geschichte geht. Umdiese Frage dreht es sich auch in dermit Spannung erwarteten Arbeit von Martine Julia van Ittersum über die Verstrickungen des jungen Grotius in die Überseepolitik des ebenfalls noch jungen niederländischen Staates. ...
Das in der von KAI BRODERSEN, UWE A. OSTER, THOMAS SCHARFF und UTE SCHNEIDER herausgegebenen Reihe „Geschichte erzählt“ erschienene Werk erhebt bereits in der Einleitung (7-8) keinen geringen Anspruch: Einerseits will THOMAS GANSCHOW (fortan: G.) mit Blick auf verschiedene Aspekte kriegerischer Auseinandersetzungen in die Welt der Antike einführen. Zum anderen geht es ihm darum, „den Leser mit der Kriegspropaganda vergangener Zeiten vertraut [zu] machen und zum Nachdenken an[zu]regen, ob uns das Feindbild, das die Griechen und Römer von ihren Gegnern entwarfen, nicht irgendwie vertraut vorkommt“ (8). Dieses Ziel versucht G. in vier nur lose miteinander vernetzten thematischen Blöcken (10-48: „Feindbilder“; 50-106: „Vom mythischen Helden zur Berufsarmee“; 108-126: „Götter und Gesetze“; 128-153: „Der Preis des Krieges“) zu erreichen. Dabei richtet er sich, ganz offensichtlich auch den Zielvorstellungen der Gesamtreihe verpflichtet, an einen weiteren Kreis allgemein geschichtsinteressierter Leser. Da G. im Zuge seiner Darstellung jedoch naturgemäß auch aktuelle Fragestellungen der antiken Militär- und Kulturgeschichte sowie der bildwissenschaftlich orientierten Klassischen Archäologie berührt, soll sein ambitioniertes Projekt hier im Detail gewürdigt werden.
Wer sich mit der schillernden Gestalt des Kaiser Augustus auseinandersetzen möchte, dem mangelt es nicht an Literatur. Er könnte zu W. Ecks Büchlein “Augustus und seine Zeit” (München 1998) greifen oder sich umfangreicheren Werken zuwenden, etwa J. Bleickens “Augustus” (Berlin 1998), einer 800 Seiten starken Monographie, oder D. Kienasts “Augustus. Prinzeps und Monarch” (3. Aufl. Darmstadt 1999). Diesen Werken stellt Klaus Bringmann (hiernach B.) nun seine in der Reihe “Gestalten der Antike” erschienene Biographie an die Seite. Ziel der Reihe, so ihr Herausgeber Manfred Clauss im Vorwort, sei es “spannend, klar und informativ ein allgemein verständliches Bild der jeweiligen ‘Titelfigur’” zu zeichnen, ohne dem Leser Kontroversen der Forschung vorzuenthalten (S. 7). ...