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André Gide, Rainer Maria Rilke, Franz Kafka und Robert Walser haben den verlorenen Sohn literarisch in der Moderne beheimatet: Gides "Le retour de l’enfant prodigue" erschien 1907, Rilkes "Legende vom verlorenen Sohn" 1909/10 als Schlusskapitel des "Malte Laurids Brigge" im Vorabdruck in der "Neuen Rundschau". Dort las Kafka den Text noch bevor der Roman im Mai 1910 im Inselverlag vorlag und ehe auch Rilkes Übersetzung von Gides "Rückkehr des verlorenen Sohns" 1913 erschien. Kafkas "Heimkehr" entstand im Winter 1923/24 in Berlin, blieb allerdings unpubliziert im Nachlass. Von Robert Walser sind zwei "Verlorene Söhne" überliefert: 1917
erschien eine "Geschichte vom verlorenen Sohn" in der "Neuen Zürcher Zeitung", 1928 das Prosastück "Der verlorene Sohn" im "Berliner Tageblatt". All diesen Texten ist gemeinsam, dass sie das biblische Gleichnis (Lukas 15,11-32) neu erzählen. Sie lösen Erzählverlauf, Erzählsituation und Handlungskette auf und knüpfen sie neu. Damit errichten sie jeweils unterschiedliche, von der Vorlage ganz verschiedene Bezüge
des Subjekts im Verhältnis zu seiner Umwelt. Die Versionen von Gide, Walser und Rilke sollen im Folgenden vergleichend betrachtet werden.
Dem Sternbild in Rilkes Sonetten an Orpheus soll im Folgenden sich über die Formel der "Rettung der Phänomene" genähert werden. Das Motiv der Sterne sowie des Weltraums findet sich an zentralen Stellen innerhalb des Zyklus. Der Anordnung der Sterne zur Konstellation kommt dabei eine besondere Bedeutung zu. In Rückbezug auf die antike Direktive der Rettung der Phänomene lassen sich so das erkenntniskritische Potenzial von Konstellationen sowie deren geschichtliche und poetologische Relevanz innerhalb der Sonette aufzeigen. Die Theorie Walter Benjamins wird hierfür die entscheidenden Termini bieten.
Die Bedeutung dieser Gegenstände ist an ihre Besitzerin geknüpft, nach ihrem Tod sind sie wertlos geworden. Malte setzt sich mit der für ihn schmerzlichen Notwendigkeit auseinander, dass sich demgegenüber das, was er schreibt, mit neuen Bedeutungen füllen wird, weil es etwas "Großes" ist, ein zusammenhängender Text, ein "Gewebe". Er selbst fühlt sich bei dieser Vorstellung "zerbrochen", denn dauerhaft scheint er selbst kein fester Teil seines Werks zu sein.
Was lässt sich also vorerst über eine mögliche Rilke-Rezeption bei Thomas Bernhard sagen? Am ehesten kann man das Verhältnis der beiden Autoren darstellen, indem man Rilkes "Auftritte" in Bernhards Werk mit dem Dasein der verstorbenen Christine Brahe in Urnekloster vergleicht. Wäre er leibhaftig dort, er würde sich selbst sicherlich nicht in einem Spiegel erkennen, zu unterschiedlich sind Formen und Inhalte. Auch fehlt das Rilke-Portrait jedenfalls in Bernhards selbst gewählter Ahnengalerie. Es gibt allerdings einzelne Momente in den Texten, bei denen man vermeint, Rilke durch eine an sich "stets verschlossene Türe" in Bernhards Werk hineinschreiten zu sehen, gemessenen Schrittes geht er an den Figuren vorbei und verschwindet fast durchsichtig, fast unbemerkt wieder. Nur ein Geist, in dieser Welt gestorben und nicht mehr verlässlich zuhaus, ein Nachhall von einem vergangenen Zustand, dadurch aber dennoch, zumindest zwischen den Buchstaben, Zeilen und Seiten, zwischen den Buchtiteln und Klappentexten, vorhanden.
Der Goldregen im Park von Ulsgaard ist nicht nur eine ("schön blühende, giftige") Pflanze. In der bildenden Kunst (Tizian, Rembrandt, van Dyck, Klimt) ist die auf Ovid zurückgehende Geschichte der Königstochter Danaë oft dargestellt worden.
Die von ihrem Vater in einen Turm Verbannte wird von Zeus in Form eines Goldregens besucht und wird die Mutter des berühmten Helden Perseus. Rilkes Anlehnung an die mythische Tradition wird durch die kreative Anverwandlung besonders
gewinnend und die Begegnung der Liebenden erhält geradezu hintergründig eine erhebende Weihe. Der zurückhaltende Anschluss an den Mythos ist einer Erfahrung angemessen, die sprachlich allenfalls vergleichsweise ("wie"), im Kontrast ("nichts") oder als Möglichkeit ("vielleicht") fasslich erscheint. Die Begegnung von Mutter und Sohn am Fenster des Hauses in Ostia feiert Augustinus als Werk der göttlichen
Vorsehung, die Begegnung des Neffen und der Tante verklärt der Rilkesche Malte zu einem alle Erwartung übertreffenden aber willkommenen Glück: "Schöne, schöne Abelone." Die Deutung der Briefe als Liebesbriefe ergab sich für Malte nachträglich ("wie ich es jetzt sehe") und sie war die Konsequenz aus der Begegnung im Park schließlich.
"Heiter und verteilt" : zyklische Ordnung und metrische Metamorphose in den Sonetten an Orpheus
(2014)
Die Sonette an Orpheus bilden ein poetisches Universum für sich, wie es schon der bestimmte Artikel – "Die Sonette" – sagt: Es gibt diesen einen Sonetten-Zyklus, der an Orpheus gerichtet ist; es gibt keine anderen Sonette an Orpheus. Eine verbindliche Deutung der zyklischen Komposition dieser Gedichte scheint bisher nicht gelungen zu sein, auch wenn ein äußerer Rahmen unschwer festzustellen ist: Die Sonette an Orpheus, "[g]eschrieben als ein Grab-Mal" für die frühverstorbene Tänzerin Wera Oukama-Knoop, bestehen aus einer Reihe von 55 Gedichten, die sich in zwei Gruppen aufteilt: in einen ersten Teil zu 26 und in einen zweiten zu 29 Sonetten. Beide Teile lassen eine Rahmung erkennen.
Poetik der Gelassenheit. Zur mystischen und poetologischen Fundierung von Rilkes Armut-Konzeption
(2014)
Blickt man auf Rilkes Künstlerbild des armen und unbehausten Mystikers, Mönchs und Propheten, wird das Wechselspiel von Armut und Reichtum im übertragenen Sinn bestimmend: In der Nachfolge Nietzsches kennzeichnen den heiligen Künstler einerseits sein Arm- und Verlassen-Sein und seine Demutsgesten; andererseits
erfährt er gerade im Zustand der Armut den inspirativen Anstoß für ein kreatives Wirken und durch seine reichhaltige, gottgleiche Kunstproduktion eine Nobilitierung.
Die Gleichgültigkeit der Natur gegenüber der menschlichen Existenz wird bei Rainer Maria Rilke in seiner letzten Schaffensphase in der Schweiz mit einer ähnlichen Radikalität sprachlich-dichterisch kompensiert wie er früher das restlose Hineinbilden (nicht Abbilden!) der Welt in das Sprachkonstrukt nach den Vorbildern von Baudelaire, Rodin und Cézanne – um hier nur die wichtigsten zu nennen – vom eigenen Sprachinstrument forderte. Ich nehme an, daß Rilkes späteste Dichtung und Poetologie nur in engster Verbindung mit dem Konzept des Verzichts ausgelegt werden kann. Exemplarisch für die Poetik dieses lyrischen Ausgleichs im Kontext des spätesten Werkes ist die Sinnfigur der Fontäne, die Produktionsweise und Funktion der dichterischen Bilder illustriert und eine immanente Reflexion auf den Sinn und die Zielvorstellungen des dichterischen Schaffens enthält.
"Des Armen Haus ist wie des Kindes Hand". Gefäß und Getränk oder Leere und Fülle in Rilkes Dichtung
(2014)
Die Kinderhand als das Bild für das "allerleiseste Empfangen", für das Offensein für einen Anspruch, den niemand herausfordern und niemand erwarten kann, hat eine Tradition in Rilkes Werk, das vor dem Stunden-Buch entstanden ist und es spinnt sich bis ins Spätwerk hinein fort. Die Gleichzeitigkeit von Leere und Fülle als von Gefäß und Getränk immer zugleich ist wohl nirgends so spielerisch und daher dauernd umgesetzt wie in den Sonetten an Orpheus, wo Wein, Kelter und
derjenige, der trinkt, alle eins und in sich doch unterscheidbar sind. Im Bekenntnis zum Hier darf die Unterscheidung nicht aufgegeben werden. Diese lebt aber vom Ununterschiedenen: die Erfahrung des Ununterschiedenen
als eine Erfahrung der "inspiratio" fasst Rilke mit der Gefäß-Metapher.