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Von antiklassisch zu antimanieristisch : Walter Friedländers Neubewertung von Epochenbegriffen
(2023)
Ab 1921 bekleidete Friedländer eine außerordentliche Professur in Freiburg und arbeitete in dieser Zeit seine Vorstellungen über die Modifikation und Reinterpretation kanonisch gewordener Epochenbegriffe aus. In seiner Antrittsvorlesung widmete er sich als einer der Ersten der manieristischen Periode der italienischen Malerei. Sein Aufsatz "Die Entstehung des antiklassischen Stiles in der italienischen Malerei um 1520", der aus seinem Habilitationsvortrag hervorgegangen war, aber erst 1925 erschien, darf als Gründungsdokument einer Rehabilitierung des Manierismus gelten. Für Friedländers späteren Vortrag "Der antimanieristische Stil um 1590 und sein Verhältnis zum Übersinnlichen" in der Kulturwissenschaftlichen Bibliothek Warburg im Curriculum 1928 /29 ist dieser Aufsatz von großer Bedeutung, und deshalb muss auf seinen Versuch der Neubewertung dieser künstlerischen Strömung kurz eingegangen werden. 'Manierismus' wurde als Epochenbegriff im 19. Jahrhundert von Jacob Burckhardt eingeführt und sowohl von ihm wie auch von seinen Nachfolgern weitestgehend pejorativ verwendet. [...] Bis heute ist der 'Manierismus' als Stil- und Epochenbegriff ein polarisierendes Streitthema in der Kunstgeschichte geblieben: Der Auffassung, der Manierismus sei eine konsequente Weiterentwicklung oder Übersteigerung der Renaissance, die schließlich im Barock resultiere, steht eine andere Position gegenüber, zu deren Lesart auch Friedländers gehört. Sie erkennt den Manierismus als eine eigene Stilepoche an, die durch einen starken Bruch mit der Renaissance im ersten Drittel des 16. Jahrhunderts eingeläutet worden sei. [...] Um den negativ konnotierten Terminus des Manierismus mitsamt seiner ablehnenden Valenz zu umgehen und andererseits einen "neuen Stilwillen" zu betonen, wählt Friedländer den Begriff "antiklassisch". [...] Vier Jahre nach Erscheinen seines Aufsatzes zum Manierismus widmete sich Friedländer aus Anlass seines Vortrags an der Kulturwissenschaftlichen Bibliothek Warburg der Ablösung des antiklassischen Stils. Für die erneute Gegenbewegung der Kunst um 1590, die andere vor ihm unter den Epochenbegriff des Barock subsumiert hatten, schlägt er die Bezeichnung des antimanieristischen Stils vor. [...] Friedländer war weniger daran interessiert, sich als Begriffspräger in die Kunstgeschichte einzuschreiben, als vielmehr daran, homogenisierende Epochenbegriffe kritisch ins Visier zu nehmen. Eine Zusammenfassung unter einen "Generalnenner, etwa wie Barockzeitalter" lehnte er ebenso ab wie andere "ziemlich willkürlich gesetzte und definierte Termini" wie Gotik, Renaissance, Klassizismus etc. Friedländer plädierte auch in weiteren Abhandlungen für mehr Differenzierung und für eine Betrachtungsweise, die nicht in einem monolithischen Stildenken aufgeht, sondern eine Überlagerung der Generationen und ein Nebeneinander disparater Haltungen und Schulen berücksichtigt. Er hat dabei immer wieder darauf aufmerksam gemacht, dass die etablierten Epochenbezeichnungen der Kunstgeschichte oft einem Begriffsarsenal der Herabwürdigung früherer Epochen entsprang. [...] Was konnte Friedländer mit seinem Vortrag "Der antimanieristische Stil um 1590 und sein Verhältnis zum Übersinnlichen" zum Erreichen der Ziele der Kulturwissenschaftlichen Bibliothek Warburg beitragen? Welche methodischen Überschneidungen konnten sich möglicherweise ergeben, auch wenn theoretische und methodische Grundsatzdebatten so wenig die Sache von Friedländer wie von Warburg waren?
Organismus
(2022)
'Organismus' ist eine Form des Ganzen, in der Vielfalt mit Einheit zusammengedacht werden kann. Der Begriff bezeichnet sowohl ein abstraktes Prinzip als auch konkrete, in der sinnlichen Anschauung erfahrbare und der kausalen Analyse zugängliche Gegenstände. Daher wurde er zu einem der zentralen Modelle von Ganzheit, vor allem in den empirisch orientierten Naturwissenschaften. Zu einem eigenen Typ der Ganzheitsform wird der Organismus nicht, weil er eine bestimmte Gestalt im Räumlichen bezeichnen würde - die Morphologie von Organismen ist bekanntlich überaus vielfältig -, sondern weil er ein bestimmtes Muster der Abhängigkeit von kausalen Relationen auf den Begriff bringt. Dementsprechend werden Organismen als 'dynamische' oder 'funktionale' Ganzheiten bezeichnet und gelten geradezu als das Paradigma dieser Ganzheitsform: Sie sind "das eindringlichste Beispiel einer dynamisch geordneten Ganzheit" oder auch "das Paradebeispiel einer strukturell-funktionalen Ganzheit".
Der Text geht der Frage nach, inwieweit der Begriff des literarischen und künstlerischen Experiments heute zu einem beliebig vergebenen Etikett geworden ist. Dazu werden einige Stationen aus seiner Geschichte sowie sein Verhältnis zum naturwissenschaftlichen Experimentbegriff kurz erörtert; ebenso einige Beispiele experimenteller Arbeiten, die ihren Anfang und ihr Ende verschleiern.
Einleitung
(2020)
Wissenschaft
(2018)
Das Wort 'Wissenschaft' markiert eine lexikalische Lücke - im Englischen. Es ist für diese Sprache ein 'intraduisible'. Mindestens zwei Wörter braucht das Englische, um das Gemeinte zu bezeichnen: 'science' für die Naturwissenschaften und - symptomatisch in Pluralform und Variabilität - 'arts' oder 'humanities' für die Geistes- und Sozialwissenschaften. Die Einheit 'der Wissenschaft' lässt sich im Englischen und anderen Sprachen, die über das inklusive 'Wissenschaft' nicht verfügen, also nicht einfach ausdrücken.
Weltschmerz
(2018)
"Nur sein [Gottes] Auge sah alle die tausend Qualen der Menschen bei ihren Untergängen - Diesen Weltschmerz kann er, so zu sagen, nur aushalten durch den Anblick der Seligkeit, die nachher vergütet." Und so kommt er in die Welt, dieser eigentümliche Schmerz, der im Kontext seiner literarischen Geburt zunächst ein rein göttliches Befinden auszudrücken scheint, als 'Genitivus objectivus' vielleicht aber auch den Schmerz der Welt postuliert. Sein Schöpfer Jean Paul (1763−1825) hat den Begriff im Text nicht eigens markiert, ihn weder formal noch erklärend als Neuschöpfung konstituiert. Der Weltschmerz tritt eher beiläufig auf (das "so zu sagen" im Zitat bezieht sich auf das göttliche Aushalten desselben); er fügt sich in den Text, als wären Autor und Leser gleichermaßen vertraut mit ihm. Und tatsächlich wird der 'Weltschmerz' im Nachhinein als eine Art Begriffsvehikel für ein weitgehend älteres Befinden gedeutet - eine innere Zerrissenheit und Trauer über die Unzulänglichkeit der Welt -, das keiner zusätzlichen Erläuterung bedurfte und in der Spätromantik lediglich ein neues sprachliches Gewand erhielt.
Weltmusik
(2018)
Der Begriff der Weltmusik produziert Fremdheit. Die Erzählung seiner Geschichte beginnt üblicherweise mit der Verwendung durch den Musikwissenschaftler Georg Capellen, der 1905 für einen 'neuen exotischen Musikstil' plädiert: Waren 'exotische' Motive bislang nur als "Kuriosum" in der europäischen Musik vertreten, erhofft sich Capellen, "falls unsere Komponisten sich in die neuen Ausdrucksformen einzuleben und die fremdartige Nahrung in eignes Blut umzuwandeln vermögen", die Etablierung eines "exotisch-europäische[n] Mischstil[s] oder (um mich phantastisch auszudrücken) eine[r] 'Weltmusik'". Dabei spielt für Capellen keine Rolle, dass in dieser Reduktion auf die Harmoniestrukturen europäischer Kunstmusik gerade die Charakteristika zahlreicher außereuropäischer Musiken ausgestrichen bleiben müssen; zu schweigen von der Inkommensurabilität der europäischen Taktordnung mit anderen Formen der Rhythmik. Bereits 1902 verweist Friedrich Spiro indes auf eine verwickelte Geschichte des Begriffs.
Die Begriffsgeschichte ist vom Singular besessen. Pluralformen kommen nur unsystematisch und am Rande vor. Darin gleichen die mehrbändigen Lexika, Gumbrechts "Pyramiden des Geistes", den allgemeinen Wörterbüchern, in denen der Plural gemeinhin nur abgekürzt und kodiert zwischen Klammern vorkommt: "(-en, ‑en)". Der Obergrundbegriff ist für Koselleck bezeichnenderweise der "Kollektivsingular", ein Wort, das die Fähigkeit verloren hat, einen Plural zu bilden. Begriffe wie 'Geschichte' und 'Fortschritt' sind im Plural vorgekommen und haben damit verschiedene Prozesse und Zeitverläufe beschreiben können. Aber im Laufe des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts haben eine Verengung und eine Vereinheitlichung stattgefunden, die zur Verdrängung der Pluralbildungen führten. Plötzlich haben sie nicht mehr die Kraft, distributive Pluralformen in die Welt zu bringen, 'Geschichten' und 'Fortschritte', die eine mehrzeitige Welt voraussetzen. Nunmehr treten sie nur im Singular, mit kollektivem Subjekt auf. 'Fortschritt' heißt jetzt immer Fortschritt der Menschheit. Ein für alle Mal grenzt die Begriffsgeschichte Parallelwelten, Multiversen, die Realität der Quantenphysik aus der Semantik der Begriffe aus, im selben Moment, als sie zu "unseren Begriffen", so Koselleck, werden. Um dieser Tendenz entgegenzuwirken, sollte über ein Lexikon des Plurals, der Pluralbildungen nachgedacht werden, ein Lexikon "Geschichtliche Grundbegriffe 'pluralis'", oder "Geschichtliche Grundpluralbildungen".
Weltanschauung
(2018)
In einem leicht zugeschnittenen Sinn kann die Einsicht, dass "Welt je schon übersetzt" ist, als gedanklicher Kern der im 19. Jahrhundert sich durchsetzenden 'Weltanschauung' betrachtet werden. Dass die Welt dem Menschen niemals gar nicht und niemals vollständig gegeben ist, dass sie immer schon da und doch immer neu zu perspektivieren ist, hat in diesem Wort Ausdruck gefunden. Dadurch wird nun allerdings weniger verständlich als umso verwirrender, dass auch 'Weltanschauung' den 'Untranslatables' angehört. Als lexikalische Instanz eines modernen Pluralismus kann dieses Wort in seiner einzelsprachlichen Unbeugsamkeit nicht recht überzeugen.
Welt, je schon übersetzt
(2018)
Zum Exportschlager, also zum Fremdwort in anderen Sprachen, wurde das Wort 'Welt' vor allem dank seiner Bedeutung VIII (in der bis XII reichenden Zählung des Artikels im "Deutschen Wörterbuch"), die Johannes Erben im einleitenden Teil des Artikels als "metaphorische anwendungen mannigfacher art" charakterisiert und so erläutert: "überall, wo der sprecher auf ein abgeschlossenes ganzes, auf universale fülle, welcher art auch immer, zielt, springt das wort welt als bezeichnung ein: für 'einen in sich geschlossenen bezirk verschiedener art, der in seiner eigenständigkeit und eigengesetzlichkeit gleichsam ein all im kleinen darstellt'". Gerade "metaphorische anwendungen" legen damit einen semantischen Kern frei, der sich auf verschiedenste räumliche Referenzbereiche beziehen kann (also etwa keineswegs, wie dies die heute vermutlich häufigste Verwendung insinuiert, mit "V. erdkreis" zu identifizieren ist). Dass die Bedeutung VIII zugleich diejenige ist, dank welcher aus einem Alltagswort ein philosophischer Begriff wird, bezeugt der entsprechende Artikel im "Historischen Wörterbuch der Philosophie".
Oυτοπία - Utopie
(2018)
Als der englische Lordkanzler Sir Thomas More im Jahr 1516 nach einem Titel für sein neuestes Werk suchte, war 'Utopia' nicht die erste Wahl. Altphilologen unter den Utopieforschern haben auf die bedenkliche Wortfügung 'Utopia' in der Bedeutung von 'Nicht-Ort' aufmerksam gemacht. Der bekannte klassische Philologe Bernhard Kytzler z. B. schrieb 1982: "'Utopia' ist eine wohl schlagende, aber sprachlich falsche Bildung." Aus dem griechischen τοπος ("Ort") und der verneinenden Vorsilbe ου zusammengesetzt, habe dies im Lateinischen ein Kunstwort ergeben, das nicht schlechthin grammatikalisch falsch, sondern vom Autor absichtsvoll in dieser Falschheit ausgestellt worden sei! Morus hätte wissen müssen, dass die griechische Sprache bei der Verneinung eines Substantivs die Vorsilbe a benutze, bekannt als ahistorisch, amusisch, anormal. "War sich Morus seines Fehlers gar nicht bewusst? Oder hatte er Gründe, die ihn bewogen, seine sprachlich schiefe Schöpfung beizubehalten?"
Ur
(2018)
Die Partikel 'Ur' gehört zu den unheimlichen 'intraduisibles' der deutschen Sprache. Die Wörter, denen sie vorsteht, erscheinen archaisch, allerdings auf eigentümlich standardisierte Weise. Sie geraten "ins barbarisch Wilde oder in industrielle Reklame" - so Theodor W. Adorno in einem kleinen Beitrag für die Süddeutsche Zeitung aus dem Jahr 1967. Dort bekundet er sein Erschrecken über das Wort 'Uromi' in einer Todesanzeige, das er nicht nur als "Grimasse" vermeintlicher Nähe, sondern sogar als "Maske von Unheil" kritisiert. Das Unheil liegt für ihn in einer schamlosen Familiarität, die sich der eigentlich gebotenen Trauer versagt. Gerade darin hat das unpassend platzierte Ur-Wort einen historischen Index, allerdings einen, der aus der Geschichte direkt in die Vorgeschichte weist: "Das Uromi ist ein prähistorisches Monstrum."
Troika
(2018)
Im (west-)europäischen politisch-administrativen Sprachgebrauch der Gegenwart finden sich kaum russische Wörter. Die Karriere des russischen 'Troika' ist so ein seltener Fall, der auch in Russland Aufmerksamkeit weckte. Ins öffentliche Bewusstsein gelangte der Begriff erst nach 2000, als die EU eine Dreiergruppe - die Troika - aus Vertretern der Europäischen Zentralbank, des Internationalen Währungsfonds und der Europäischen Kommission einsetzte, um die Sparmaßnahmen der griechischen Regierung während der Staatsschuldenkrise zu überwachen. Die begriffliche Assoziation zu den unter gleichem Namen bekannten außergerichtlichen Straftribunalen in der Sowjetunion der Stalinzeit war wohl zu offensichtlich, weshalb die EU auf Drängen Griechenlands die Bezeichnung 'Troika' später durch den neutralen Begriff 'Institution' ersetzte. Warum die EU einen politisch derart kompromittierten Begriff überhaupt in ihren Sprachgebrauch aufnahm, scheint nur schwer nachvollziehbar. Reduziert man allerdings die Begriffsgeschichte der 'Troika' allein auf die semantische Spur des Straftribunals, bleiben die Registerwechsel zwischen höchst unterschiedlichen kulturellen Bereichen im 20. Jahrhundert ausgeblendet.
Vielleicht denken derzeit die meisten zuerst an das Auto, wenn von 'Trabant' die Rede ist. Vielleicht sogar an dessen himmelblaue Ausführung, selbst wenn sie im Straßenbild inzwischen fremd geworden ist. Und wenn man 'fremd' mit 'unbekannt' übersetzt, dann trifft das den Trabanten nicht nur, weil der Begriff ein Fremdwort ist, sondern auch, weil unbekannt ist, aus welcher Fremde es stammt. Seine Herkunft ist nicht zweifelsfrei belegt. So hat man seinen Ursprung im Italienischen, im Deutschen oder im Türkisch-Persischen vermutet, von wo es über das Ungarische und Rumänische in die westeuropäischen Sprachen gelangt sein könnte. Im Grimm'schen Wörterbuch werden diese Annahmen jedoch samt und sonders als nicht stichhaltig verworfen. Umso wahrscheinlicher aber sei seine Herkunft aus dem Tschechischen, woher es zur Zeit der ersten Hussitenkriege entlehnt wurde, wobei dem dort schon im 15. Jahrhundert nachweisbaren 'dráb', dem 'fuszkrieger', im Deutschen die Endung '‑ant' hinzugefügt worden sei, ein Muster, wie es auch bei 'sarjant' oder 'brigant' verwendet worden war.
"Toughness has been rather out of fashion, as a masculine virtue", so William Gibson schon 2002. Die 'toughe Frau' scheint dagegen noch in aller Munde: zumindest im deutschsprachigen Raum gilt 'tough' als reflexartig einspringende Vokabel für die Kennzeichnung weiblicher Erfolgstypen: "kämpfende Amazone", "eiserne Lady" oder 'superwoman' bleiben als denkbare Synonyme ohne jede Chance. In hoffnungslos inflationärem Gebrauch schreiben die Titelzeilen der Lifestyle- und Frauenmagazine nahezu jeder in den Fokus gerückten Person das Epitheton zu, das zumindest in dieser Verwendung als unübersetzbar gelten muss, vielleicht aber auch gar keiner Übersetzung bedarf: handelt es sich doch - entgegen allem Anschein - um ein deutsches Wort, vermutlich so urdeutsch wie 'Handy'.
Synergie
(2018)
'Synergie', von griech. 'syn' ('mit', 'zusammen') und 'en-ergeia' ('Wirken'), beschreibt heute kooperative Effekte in der Natur, Wissenschaft und Gesellschaft, für die der aristotelische Satz "Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile" gilt. Doch 'Synergie' ist nicht nur ein Wort der Gegenwart. Mitte des 19. Jahrhunderts wird 'Synergie' (Adj. 'synergetisch') als Fremdwort in der deutschen Sprache mit der Bedeutung "Mitwirkung, Hilfe" angeführt. Bereits früher in die Bildungssprache eingegangen ist der 'Synergismus' (Adj. 'synergistisch'), die "Lehre von der freien Mitwirkung der Menschen zu ihrer Seeligkeit". Beide Einträge verweisen zunächst auf die Philosophie und christliche Theologie der Antike.
Der georgischen Sprache fehlt es nicht an mehr oder weniger alltäglich gebrauchten deutschen Fremdwörtern. Den meisten haftet ihr Umweg durch das Russische an, den sie während der kaiserlichen und späteren sowjetischen Herrschaft über Georgien gemacht haben. [...] Allerdings stößt man in dem prägenden sowjetgeorgischen Fremdwörterbuch, das zwischen 1964 und 1989 dreimal aufgelegt wurde, gerade beim Eintrag 'schtraikbrecheri' auf eine durchaus seltsame Bestimmung: "schtraikbrecher-i (dt. 'Streikbrecher') - in kapitalistischen Ländern: eine Person, die während des Streiks arbeitet und den Streik stört." Die stillschweigende Voraussetzung, Streikbrecher existierten nur "in kapitalistischen Ländern", weil es in den sozialistischen keine Streiks gebe, wirft in ihrer Verlogenheit erst recht die Frage nach der Vor- und Nachgeschichte dieses Begriffs auf.
Die programmatische Allgegenwart des 'Sozialen' nährt den Verdacht, wir hätten es hier mit einem leeren und nichtssagenden Plastikwort zu tun, das vielleicht gebildete Dignität und moralisches Engagement vortäuscht, aber semantisch durchaus nicht zu fassen ist, weil es eben nichts Bestimmtes zu bedeuten vermag. Clemens Knoblochs These ist hingegen, dass 'sozial' in den Jahren um 1900 zu einer semantischen Chiffre wird, in der sich die Erfahrung reflexiv verdichtet, dass die dringlichsten Probleme der industriekapitalistischen Entwicklung diejenigen sind, die durch diese Entwicklung selbst erst hervorgebracht werden. Platt gesagt: die unbeabsichtigten Nebenfolgen des allgemeinen Fortschritts: Pauperisierung breiter Bevölkerungsschichten, Landflucht, Proletarisierung, Stockungen im Warenabsatz, Armuts- und Elendsseuchen, Analphabetismus etc. müssen sowohl 'staatlich' als auch 'gemeinschaftlich' bearbeitet werden. Mittels 'sozial' erhalten all diese (im Schlagwort der "sozialen Frage" resümierten) Probleme so etwas wie eine Adresse. Und fortan wird 'sozial' programmatischer Bezugspunkt all dessen, was sich auf die unerfreulichen Folgen und Begleiterscheinungen der kapitalistischen 'Entwicklung' bezieht. Es wird kompensatorisch, es wird (linguistisch gesprochen) nicht nur zum Relationsadjektiv, sondern zu einem pauschalen Verweis darauf, dass die qua 'sozial' modifizierten Nominalphrasen (bzw. das, was sie nennen) einen Bezug auf das Problem der gesellschaftlichen Kohäsion haben. Diese Facette fehlt naturgemäß völlig im lateinischen 'socialis', das die ausdrucksseitige Quelle des heute in vielen Sprachen vertretenen Internationalismus 'sozial' ist.
Software
(2018)
Software regiert die Welt. Software hat die alte Unterscheidung von Geist und Materie - aufgemischt. Im engeren, in der und durch die Informatik terminologisch gewordenen Sinn meint der Begriff die Programme, die auf Universalrechenmaschinen (als der Hardware) zum Laufen gebracht werden können. Aber auch deren Bedienungsanleitungen wurden weiland dazu gezählt. Ebenso sind auch die gemäß den Befehlen der Programme verarbeiteten Daten und Adressen nicht Hard-, sondern Software. Die ganze heutige Bilderwelt im Web und auf den Milliarden Handys, alle gestreamte und downgeloadete Musik, nicht anders als dieser Text hier (bevor er in Druck gegangen sein wird): Alles ist Software. Und nichts ist Software. Weil ja auch jenseits der Schrift auf Papier, der Spur im Vinyl, des Granulats von Silbersalzen, kurzum: im sogenannten Digitalen nichts ohne die physikalisch-elektrischen Zustände der es prozessierenden Schaltkreise geht. Insofern gilt: Es gibt keine Software. Es gibt nur das Milliardengeschäft der Illusion, dass alles Software sei. Vielleicht könnte man sagen, dass 'Software' zu nichts anderem ge- und erfunden wurde, als um genau diese 'coincidentia oppositorum' von Alles und Nichts zu bezeichnen - oder hinter ihrer Bezeichnung zu verstecken. Beide Seiten machen jedenfalls erklärlich, dass es ein eigenes Wort für die Sache brauchte. Als Fremdwort außerhalb des englischen Sprachraums kann die einmal etablierte Vokabel, ebenso Unklarheiten mit sich führen, wie sie als 'terminus technicus' (im Englischen wie in anderen Sprachen) auch für das genaue Gegenteil, nämlich wissenschaftliche Präzision, einstehen kann.
Theodor W. Adornos berühmt-berüchtigte Verteidigung des Fremdworts als "Exogamie der Sprache" wirft neben anderen Fragen auch die auf, ob denn hier Fremdsprache gleich Fremdsprache sei. [...] Immerhin lenkt Adornos Vergleich die Aufmerksamkeit auf einen in der Begriffsgeschichte unterschätzten Aspekt: Bedeutungsveränderungen, die eine Terminologie durchläuft, sind nicht selten mit sich wandelnden emotionalen Konnotationen verbunden. Begriffsgeschichte ist auch eine Geschichte der 'languages of emotion'. Besonders deutlich wird das an Begriffen wie 'Roboter'.
Rettungsschirm
(2018)
Macht sich die Zweideutigkeit des "Rettungsschirms" im Deutschen vor allem in Gestalt seiner visuellen und metaphorischen Figurationen bemerkbar, fällt sie im Englischen schon auf wörtlicher Ebene auf. Denn das Englische kennt zwei unterschiedliche Worte für die benannte Sache, sodass der Schirm entweder als 'umbrella' ("Regenschirm") oder als 'parachute' ("Fallschirm") auftreten muss. So finden sich denn auch beide Varianten in der englischsprachigen Berichterstattung über die Eurokrise. Die entsprechenden Formulierungen 'rescue umbrella' oder 'rescue parachute' lassen sich dabei in der Regel als Übersetzungsversuche aus dem Deutschen erkennen. Darüber hinaus finden sich beide Varianten häufig in englischsprachigen Einlassungen deutscher Krisenkommentatoren, die für diese Einrichtung werben oder sie kritisieren wollen. Viele englischsprachige Fachpublikationen, in denen explizit von 'rescue umbrella/parachute' die Rede ist, stammen auch aus der Feder deutscher Autorinnen und Autoren. Dieser Befund lässt die Vermutung zu, dass es sich bei dem Rettungsschirm um eine genuin deutsche Wortschöpfung handeln könnte. Die Vermutung lässt sich durch eine Reihe sprachwissenschaftlicher Untersuchungen bestätigen, die sich mit der Metaphorik der Finanzkrise beschäftigt haben. Das Gesamtbild der unterschiedlich angelegten empirischen Studien lässt recht klar erkennen, dass der Rettungsschirm eine der dominierenden Metaphern im deutschen Krisendiskurs und offenbar auch ein spezifisch deutsches Sprachgebilde ist.
Resilienz
(2018)
Im 'Posthistoire', so kann man wohl feststellen, wird die Aufgabe der Abblendung sozialer Risiken von Begriffen übernommen, die dem weiten Feld ökologischer Debatten entnommen sind. In diesem Sinne hat Norbert Bolz unlängst die inflationäre Rede von 'Nachhaltigkeit' oder 'sustainability' analysiert. [...] Die Übertragung des Begriffs der Nachhaltigkeit aus dem Bereich der Forstwirtschaft in den Bereich gesellschaftspolitischer Debatten hat ihren Grund in der utopischen Aufladung ökologischer Ansätze in den Natur- und Ingenieurswissenschaften seit den sechziger Jahren. Das von Bolz benannte Problem ist also nicht allein eines der politischen Rhetorik, sondern darüber hinaus das einer zunehmend undeutlicher werdenden epistemischen Differenz von Natur und Gesellschaft. Dies schlägt sich in der Verwendung von Begriffen nieder, die gleichermaßen natürliche und soziale Prozesse zu beschreiben vermögen und sich dabei zugleich als wirkmächtige Metaphern für die Programmatiken eines soziotechnisch ausgerichteten Regierens anbieten. Exemplarisch lässt sich dies am Begriff der 'Resilienz' studieren.
Trotz der sorgsam gepflegten Begriffsgeschichte (kaum ein geistes- oder sozialwissenschaftliches Fachwörterbuch ohne entsprechendes Lemma) scheint 'Religion' ein auffällig unkonkreter, im Grunde ungeklärter Begriff, der in Anbetracht dessen in seinem Alltagsverständnis erstaunlich wenig erklärungsbedürftig scheint. Das Problem der Religionswissenschaft, ihren Gegenstand zu bestimmen, - dies soll hier als Indiz für das Problem mit dem Begriff 'Religion' dienen - liegt vielsagenderweise u. a. darin, dass keine Definition in der Lage ist, alles, was man als Religion zu bezeichnen gewohnt ist, gleichzeitig abzudecken und jeder Definitionsversuch als einseitig und letztlich als voreingenommen abgelehnt wurde. Es gab nie und gibt bis heute keine konsensfähige Definition und einige Fachvertreter*innen geben gar zu bedenken, so etwas wie Religion gebe es im Grunde eigentlich gar nicht.
Proletarier
(2018)
Der These des Begriffshistorikers Werner Conze – enthalten schon im Titel seines Aufsatzes von 1954: "Vom 'Pöbel' zum 'Proletariat'. Sozialgeschichtliche Voraussetzungen für den Sozialismus in Deutschland" - hat der radikale Sozialhistoriker Ahlrich Meyer bescheinigt, im Gewand "neutraler" Begriffsgeschichte im nachhinein bloß ein sozial-eliminatorisches Programm zu sanktionieren, dessen letzte Konsequenzen erst die Nazis endgültig exekutiert hätten - mit tatkräftiger "wissenschaftlicher" Unterstützung von Historikern wie dem Conze-Freund Theodor Schieder oder eben Conze selbst. Die "postnazistische" westdeutsche Geschichtswissenschaft habe letztlich bloß das alte "nazistische Programm der staatlichen Integration der deutschen Kernarbeiterklasse auf die Geschichte projiziert". Wie dem auch sei - auch hier wird einmal mehr deutlich, dass Begriffsgeschichte von Begriffspolitik nicht zu trennen ist. Aber zurück zum Vormärz: Wie immer man die "Conze'sche Integrationsthese" (Meyer) einschätzen mag, mit dem 'Pöbel' und dem 'Proletariat' stehen sich zwei sozialhistorische Protagonisten gegenüber, deren Begriffsgeschichte im Deutschen allemal problematisch ist.
Petra Gehring greift nach einem Ausdruck, der erstens in der Sprache des Faches Philosophie zuweilen in semi-terminologisch wirkender Art und Weise vorkommt, der zweitens, wie man in der Metaphernforschung sagen würde: realsemantisch auf Ingenieurswissen verweist und der drittens auf vielversprechende Weise - was die konkrete Herkunft angeht - changiert: die "Plattform". Ohne in der Wirbelschleppe einer ganz bestimmten Thematik diskursfähig geworden zu sein, hat sich das Wort in der Arbeitssprache der Geisteswissenschaften jedenfalls so weit festgesetzt, dass man es als eingebürgert bezeichnen kann. Um einen "naturwissenschaftlichen" Term handelt es sich nicht, man wird vielmehr an eine begehbare Fläche, an eine Stützpfeilerkonstruktion, die Ausblicke eröffnet, und insofern zuerst und zu Recht an Bautechnik denken. Gleichwohl kennen wir inzwischen auch die Online-Plattform und überhaupt besteht da ein Anfangsverdacht, der in Richtung Kommunikationstechnik weist.
Panisch / Panik
(2018)
Georg Wilhelm Friedrich Hegel, der letzte große Systemphilosoph des deutschen Idealismus, tat sich nicht leicht, die Ursprünge und die Anfänge der eigenen Philosophie zu erzählen. [...] In die Darstellung des griechischen Geistes flicht Hegel eine weitere Anfangserzählung seiner selbst ein, die man mit Fug und Recht "Die Geburt der Philosophie aus dem Geist der Panik" nennen könnte. Der zentrale Stellenwert dieser Geschichte wird schon daran ersichtlich, dass Hegel sie als Korrektiv oder zumindest als Komplement einer prominenten aristotelischen Gründungsfigur auszuweisen versucht. Habe Aristoteles den Anfang der Philosophie auf die "Verwunderung" verpflichtet, so könne allein die "griechische Naturanschauung" die Triftigkeit dieser Behauptung demonstrieren. In Griechenland habe der Geist nämlich zum ersten Mal gelernt, die Natur als eine Art geistig vermitteltes Phänomen zu begreifen, er bleibe im Rahmen solcher Bemühungen aber noch durch und durch ein Geist der "Mitte". [...] Es sind signifikanterweise die 'Panik' und der 'panische Schreck', in denen sich die 'Mitte' des griechischen Geistes gleichsam kondensieren. Denn für Hegel galt noch als selbstverständlich, was der spätere Begriffsgebrauch des 'Panischen' und der 'Panik' vergessen machte. 'Panik' geht auf den griechischen Gott Pan zurück, jenen Gott des Waldes und der Natur, der einen menschlichen Ober- und einen tierischen Unterkörper in Form eines Widders oder Ziegenbocks besitzt.
Messie
(2018)
Erst seit 2004 findet man im Duden zwischen 'Messias' und 'Messing' das neue Lemma 'Messie'. Es bezeichnet eine "Person mit chaotischer Unordnung in der Wohnung". Etwas später ist der Begriff auch in der Medizin zwar nicht gerade heimisch geworden, doch hat er sich zumindest eingenistet: Zwischen 'Mesmerismus' und 'Messung' verweist der "Pschyrembel Psychiatrie, klinische Psychologie, Psychotherapie" 2012 mit dem Lemma 'Messie-Syndrom' auf den Haupteintrag 'Vermüllungssyndrom': "Bez. für zwanghaftes Horten u. Sammeln z. T. wertloser Gegenstände (Sammelzwang) u. die Unfähigkeit, sich davon zu trennen; [...] Wohnungen bzw. Häuser sind kaum begehbar, z. T. entstehen hygienische Probleme (z. B. bei Sammeln v. Joghurtbechern)". Zwar leitet sich der Begriff 'Messie' vom englischen 'mess' - "Unordnung, Durcheinander, Chaos, unübersichtliche Situation" - ab, doch scheint es sich um einen Pseudoanglizismus wie 'Handy' oder 'Fitness-Studio' zu handeln [...] Aber auch wenn englische Muttersprachler den Begriff 'Messie' heute nicht sofort verstehen, stammt er eben doch aus dem Englischen, genauer gesagt, aus dem Amerikanischen.
משל [maschal] - Spruch, Gleichnis, Herrschaft, Prägung ... : über die Faszination einer Wurzel
(2018)
In dem 1792 veröffentlichten Aufsatz "Spruch und Bild, insonderheit bei den Morgenländern" entwickelt Johann Gottfried Herder eine Apologie der Spruchdichtung, die zwischen Poesie und Prosa, zwischen Volksdichtung und Kunstliteratur stehe und vor allem im 'Morgenland' - also bei den Persern, Arabern und Hebräern - in Blüte gestanden habe. [...] Dabei bezeichne jenes 'Wort' משל nicht nur Ursprung und Natur der Sprüche, sondern sogar den expressiven Charakter der menschlichen Sprache überhaupt, wie Herder mit einem Hamann-Zitat fortsetzt: "Poesie ist die Muttersprache des menschlichen Geschlechts [...]. Sinne und Leidenschaften verstehen nichts als Bilder." Sprüche, Bilder, Sinne, Leidenschaften - all das, so legt der Text nahe, bildet einen Zusammenhang, den Herder und auch andere gerne den des 'Ausdrucks' nennen, der hier aber "mit einem einzigen Wort" umrissen wird, eben mit dem Graphem משל, einem Ausdruck von 'Ausdruck'. Was 'bedeutet' dieser Ausdruck und was bedeutet es, diesen Ausdruck so in den Text einzufügen, wie Herder das tut?
Luftmenschen
(2018)
Wörter können zweifach bewegt werden: wie Erbschaften in der Zeit und wie Güter im Raum. Sie gedeihen nicht nur in ihrer eigenen Sprache, sondern auch in anderen, vor allem dann, wenn dort im Mündlichen oder in der Schriftsprache eine Art Bezeichnungs-"Vakuum" besteht: Wo immer sie dringend benötigt werden, dort haben sie potentiell auch Platz. Die Bewegung selbst erfolgt zuerst mit den Sprechern, und mit diesen bleiben Worte auch im Gebrauch lebendig; gehen sie dann in die Umgangs- oder sogar Hochsprache ein, weitet sich ihr linguistischer Einfluss aus, sie werden beständiger, erscheinen fest verknüpft mit ihrer neuen Umgebung. Mitunter ist dann ihre Herkunft im Rückblick nicht mehr so ohne weiteres zu eruieren. Trotzdem bleiben solche Begriffe Indikatoren für ein Milieu, das zu einer anderen Zeit an einem anderen Ort bestand und das ihnen ihre erste Ursprünglichkeit eingeschrieben hat. Die deutschen Lehnwörter im Hebräischen sind hierfür ein gutes Beispiel.
Kunz
(2018)
Die Verkäufer der Obdachlosenzeitschrift "Hinz&Kunzt" gehören auf Hamburgs Straßen wie Blechmusikanten in den Berliner Untergrund. [...] Die Verschmelzung von Kunz, dem austauschbaren Jedermann, und der Kunst als vielgestaltiger Vermittlerin von Freude und Leben, erzeugt durch das schlichte Anhängen eines Buchstabens, verweist auf mehr als ein phonetisches Wortspiel. Was aber macht die semantische Nähe dieser beiden Vokabeln aus? Aufschluss gibt womöglich ein drittes Wort, ein jiddisches Fremdwort, das, ganz egal, in welcher Sprache es gebraucht wird, unübersetzt bleibt und damit seine Fremdheit beibehält: 'kunz', genauer 'di kunz'. Herkommend vom deutschen "Kunst", bedeutet es keinesfalls "Kunst", sondern so viel wie "Trick", "Kunststück" oder "Einfallsreichtum" - etwas, was potenziell jeder hat oder kann.
Der Kitsch und sein Ernst
(2018)
Als der Schriftsteller Hermann Broch in den 1930ern den Kitsch als das "Böse im Wertsystem der Kunst" bezeichnete, als er formulierte, wer Kitsch hervorbringe, sei ein "ethisch Verworfener, ein Verbrecher, der das radikal Böse will", ja, er sei "ein Schwein", da war der Begriff bereits ein halbes Jahrhundert im deutschen Sprachraum im Umlauf und hatte gerade Hochkonjunktur. Die Tonlage des Österreichers in seinen berühmten Invektiven ist symptomatisch für die Debatten, die der Kitsch hervorgerufen hat - kaum ein Diskurs über einen ästhetischen Begriff hat diese bislang an Schärfe und Aggressivität überboten, und kaum ein Begriff hat sich als eine solch deutliche Grenzmarkierung zwischen anspruchsvoller Kunst und trivialer Massenkultur, zwischen dem guten und dem schlechten Geschmack etabliert.
Jargon
(2018)
Jargon ist nicht nur ein Wort aus der Fremde, sondern auch seiner Bedeutung nach mit dem Andersartigen und zugleich Vertrauten, dem Nicht-Identischen, teils Unübersetzbaren und nur Halbbekannten von Sprache(n) verbündet. Anders als Fremdwörter, deren Verständnis Bildung voraussetzt, wurden Jargons über lange Zeit hinweg marginalisierten gesellschaftlichen Gruppen, sogenannten 'Gaunern' und 'Vagabunden', zugeschrieben, wobei sie sich häufig auf Gegenstände des alltäglichen Lebens bezogen.
Interphänomenalität
(2018)
'Interphänomenalität' ist ein neuartiges Kompositum aus zwei bekannten griechisch-lateinischen Termini - aus 'Phänomenon', in dem altgriechisch ein Etwas, eine Entität als "sich Zeigendes", als ein "Erscheinendes" aufgefasst ist, und aus dem Präfix 'Inter', das lateinisch das Verhältnis des "Zwischen", des "unter- und voreinander" von mindestens zwei Entitäten anspricht. Die Pointe der Begriffsfügung und ‑findung, seit 2009 im Umlauf, ist offensichtlich die Abwendung von der vertrauten Auffassung aller 'Phänomenologie' (Kant, Hegel, Husserl), dass die 'Phänomene' sich immer für uns, für unsere (sprich: menschliche) sinnliche Wahrnehmung zeigen, also als 'Phänomene' für ein Bewusstseinssubjekt "zur Erscheinung kommen". Der neue Kunstbegriff vollzieht die Abkehr von dieser klassischen Annahme im Subjekt-Objekt-Verhältnis hin zum eventuell aufschlussreichen Verhältnis, in dem die 'Phänomene' selbst als Phänomene voreinander bzw. untereinander sich zeigen - in einer Intersphäre, im Zwischenraum zwischen ihnen -, in einer quasi-kommunikativen Relation voreinander erscheinen, ungeachtet dessen, dass sie auch für ein menschliches Bewusstsein erscheinen können.
Intellectual history
(2018)
Kaum einer der ins Deutsche eingewanderten Termini ist von so vielen Nachbarn umgeben wie 'intellectual history': Ideengeschichte, 'history of ideas', intellektuelle Geschichte, Intellektuellengeschichte, Intellektualgeschichte, Geistesgeschichte, Philosophiegeschichte, Wissensgeschichte, Wissenschaftsgeschichte, Begriffsgeschichte, Diskursgeschichte, historisch-semantische Epistemologie und einige andere mehr. Das Terrain ist dicht besetzt und teilweise hart umkämpft, und gerade das prädestiniert den Begriff zur Aufnahme in einen Katalog der unübersetzbaren Ausdrücke. Denn einige der Nachbarn erheben Gebietsansprüche, andere grenzen sich ab und errichten Zäune, einige wenige lassen sich entspannt auf keine Grenzstreitigkeiten ein. Bei letzteren - der verlustfrei übersetzbaren 'History of ideas' sowie der Philosophiegeschichte - handelt es sich um alte Bekannte aus Kindertagen. Der Umstand, dass 'intellectual history' sich in einem solchen Umfeld behaupten kann, dass sie weder mittels Übersetzung assimiliert noch überhaupt verdrängt wird, hängt damit zusammen, dass der Ausdruck offenbar über eine spezifische Differenz zu möglichen Übersetzungen oder Kandidaten zur Besetzung seiner Stelle verfügt. Worin diese spezifische Differenz besteht, zeigt die Geschichte dieses begrifflichen Kompositums.
Empathie
(2018)
Die partielle Begriffsgeschichtsvergessenheit mit Blick auf Empathie scheint Effekt ihrer gelungenen Psychologisierung und Übernahme in naturwissenschaftlich orientierte Disziplinen zu sein. Eine Geschichte des Begriffs, die jene antike 'empatheia'-Tradition und die Empathie-Diskurse der letzten 110 Jahre nicht von vornherein separiert, wäre vielleicht eine Geschichte langsamer Affektkontrolle. Der Transfer ginge dann so: 'Empatheia' - mit Gefühl - Mitgefühl. Er beschriebe einen Wandel der Empathie in ein soziales, kommunikatives Geschäft und einen allmählichen 'emotional turn' innerhalb der Empathie-Begriffsgeschichte, der das Erfasstwerden von äußeren, gegebenenfalls dämonischen, Kräften dadurch bannen konnte, dass er aus dem radikalen Kontrollverlust, den die antike 'empatheia' hieß, zuerst ein - modern verinnerlichtes und eingehegtes - 'gefühlvoll' werden ließ. Im 20. Jahrhundert, angereichert mit ästhetischem Einfühlungswissen, gab Empathie, als Begriff und Gegenstand, nicht nur der Psychologie epistemologischen Halt. Sie wurde mit ihrer Vereinnahmung durch die 'psy sciences' zur vergötterten Gabe und menschlichen Natur. "[S]uper-empathizer" sind Idole der Gegenwart, und als pathologisch gilt das Empathie-Defizit. Heute ist Empathie, Gefühl zweiter Ordnung, Übergriff und "Erwartungserwartung", selbst ein Medium der Affektkontrolle.
Dialektik
(2018)
Was 'Dialektik' nun genau sei, darüber gibt es immer noch sehr verschiedene und auch einander ausschließende Auffassungen. Vor allem auch darüber, ob es eine Dialektik gebe oder geben könne, die sich noch besonders durch das Attribut 'materialistisch' empfehlen würde. Je näher wir hinsehen, desto mehr entschwindet uns der Begriff, der einmal so viele Gewissheiten trug. Vielleicht liegt das auch schon daran, dass sich im Begriff der Dialektik viele Bedeutungsdimensionen gleichsam sedimentiert haben; er trägt schwer an seiner Geschichte und kann sich gerade deshalb immer wieder von einseitigen Fixierungen zurückziehen.
Désinvolture
(2018)
Das Wort 'Désinvolture' hat Ernst Jünger erstmals mit gedanklicher und historischer Substanz gefüllt: Er hat aus dem in Deutschland kaum bekannten Fremdwort einen Begriff mit sozialanthropologischer Ausrichtung gemacht, um eine Haltung zu kennzeichnen, für die er offenbar kein angemessenes deutsches Wort finden konnte. Sonst hielt er sich mit der Verwendung von Fremdwörtern sehr zurück. Obwohl er die französische Variante wählte, hat das Wort eine Entsprechung im Italienischen, die er in einer seiner Explikationen erwähnt ('Desinvoltura'), und eine im Spanischen, die er in einer weiteren durch ein Bacon-Zitat mitteilt ('Desenvoltura'). Der Schwerpunkt liegt also in der Romania, in der die Haltung, auf die Jünger hinauswill, offensichtlich stärker ausgeprägt war als in anderen Sprachräumen.
Coming-out / Outing
(2018)
Im Deutschen hat sich ein Anglizismus eingebürgert, der aus zweien eins macht; die ursprüngliche Bedeutung von Coming-out wird dabei auf Outing übertragen. Das "Anglizismen-Wörterbuch" definiert 'outen' als "homosexuelle Personen, insbes. Prominente, gegen ihren Willen in der Öffentlichkeit bloßstellen, indem man ihre Homosexualität preisgibt"; 'Outing' als "Bloßstellen von homosexuellen Personen, insbes. von Prominenten, gegen deren Willen in der Öffentlichkeit". Während der Eintrag zu 'Coming out' im selben Wörterbuch gerade eben eine halbe Seite lang ist, finden sich zu 'outen' und 'Outing' mehr als anderthalb Seiten. So sehen Erfolgsgeschichten aus. Denn das Verb 'outen' hat lexikographisch signifikante Bedeutungserweiterungen erfahren, so dass gleich drei weitere Bedeutungen angegeben werden, "kleine Schwächen, Schönheitsfehler etc. von Prominenten gegen deren Willen öffentlich bekanntmachen", und schließlich: "von sich selbst (unfreiwillig) in der Öffentlichkeit zugeben, daß man in einem best. Bereich in seinem Lebenswandel von der Mehrheit abweicht, bes. Schwächen oder Vorlieben hat". Das Wörterbuch weiß um die Fährnisse des translingualen Verkehrs und fügt erläuternd hinzu, das outen als reflexives Verb in englischen Wörterbüchern nicht existiert, '*to out oneself' ist nicht möglich. Das intransitive 'to come out' lässt sich weder syntaktisch noch semantisch mit dem transitiven 'to out somebody' kurzschließen. Wenn 'outen' aber auch "von sich selbst in der Öffentlichkeit zugeben, daß man homosexuell, bisexuell etc. ist" bedeuten kann, dann wird es nicht mehr lange dauern, bis Outing Coming-out vollständig verdrängt haben wird. Mehr und mehr ist heute so auch schon von Selbst-Outing die Rede.
Charaktermaske
(2018)
Als Kompositum zweier Nomen erscheint der Ausdruck 'Charaktermaske', so wie etwa auch 'Begriffsgeschichte' oder 'Verblendungszusammenhang', "spezifisch deutsch". Aber auch im Deutschen wirkt er sperrig und fremdartig, weil die Bedeutungen der beiden zur Einheit gebrachten Substantive in Spannung zueinander stehen und sowohl historisch wie funktional auseinanderweisen. Marx macht sich in seiner Umwertung des Begriffs diese Spannungen zunutze. Der semantisch neu besetzte Ausdruck wird bei ihm zum "Träger von Dissonanz" und übernimmt damit Funktionen eines Fremdwortes, wie Adorno sie in seinem Aufsatz "Wörter aus der Fremde" beschrieben hat. Dazu gehört die Zerstörung des "Schein[s] der Naturwüchsigkeit", die Marx durch ein Verfahren der Verfremdung des vermeintlich Vertrauten bewirkt. Hergestellt wird sie durch einen frappierenden Terrainwechsel, nämlich die Übertragung aus der Sphäre des Theaters bzw. der Ästhetik in den Kontext der politischen Ökonomie. Die emphatische Metaphorisierung konstituiert eine Art "innersprachliches Ausland", das nicht nur Fremd-, sondern auch Muttersprachlern die Arbeit der 'Übersetzung' abverlangt, um sich den Begriff verständlich zu machen.
Begriffsgeschichte
(2018)
Die jüngeren Aufbrüche und Umbrüche haben den Begriff 'Begriffsgeschichte' nicht unberührt gelassen: "Als undogmatische Sammelbezeichnung für die Erforschung semantischer Veränderungsprozesse hat sich mittlerweile der Terminus historische Semantik interdisziplinär etabliert." Die Ausnüchterung des Begriffs im Terminus, der Begriffsgeschichte in der historischen Semantik, hilft bei der Abwehr prekärer und vielleicht auch gar nicht mehr zeitgemäßer Fragen, zumal der notorischen nach dem 'Begriff des Begriffs' der Begriffsgeschichte. Paradoxerweise drängen sie aber wieder, wenn sich die Begriffsgeschichte selbst historisch zu werden beginnt. Und da neben Interdisziplinarität und Internationalisierung auch Historisierung unabdingbar zum Ausweis wissenschaftlicher Geltung und Aktualität gehört, kommt Begriffsgeschichte um ihre Selbsthistorisierung gerade jetzt, zu Zeiten ihres späten Ruhmes, nicht herum.
Die Wendung 'avant la lettre' führt mitten ins Epizentrum jener Fragen, die sich mit den derzeitigen Öffnungen und Umbrüchen in den Methoden der Begriffsgeschichte stellen. Sie gehört ins Register des Unübersetzbaren, auch wenn man sie in Barbara Cassins "Dictionnaire des intraduisibles" (2004) vergeblich sucht. Denn sie wird im Deutschen oder Englischen gleichbedeutend verwendet wie im Französischen. Es handelt sich zudem um eine metaphorische Formulierung - ein Tatbestand, der allerdings oft hinter ihrem fremdsprachlichen Charakter zurücktritt. Denn es wird nicht vielen bekannt sein, dass die Formulierung in ihrer wörtlichen Bedeutung dem Bereich der Drucktechnik entstammt. Und schließlich verweisen Modus und Bedeutungsgehalt von 'avant la lettre' auf Fragen, die mit dem Vorbegrifflichen oder aber dem Unbegrifflichen zusammenhängen.
Autonomie
(2018)
Bei 'Autonomie' handelt es sich um einen alten Begriff mit altgriechischen und lateinischen Wurzeln, der in der Moderne zu einem politischen Schlüsselbegriff geworden ist. Parallelausdrücke wie 'Selbstbestimmung', 'Selbständigkeit', 'Eigengesetzlichkeit', 'Mündigkeit', 'Unabhängigkeit', 'Autarkie' sowie Komplementär- und Gegenbegriffe wie 'Heteronomie', 'Fremdbestimmung', 'Abhängigkeit', 'Bevormundung' verweisen auf ein weitverzweigtes Wortfeld ('Prädestination-Willkür', 'Determinismus' bzw. 'Naturalismus-Freiheit', 'Dogmatismus-Kritizismus', 'Realismus-Idealismus', 'Transzendentismus-Immanentismus', 'Autarkie-Interdependenz' bzw. 'Globalisierung') mit langer (Verflechtungs-)Geschichte. Der Begriff zirkuliert heute als Nomaden- und Grenzgängerbegriff in verschiedensten, einander gegenseitig befruchtenden Feldern (Politik, Pädagogik, Kunst, Kultur, Ökonomie, Medizin, Ökologie, Robotik etc.). Er interagiert als interdisziplinärer oder transversaler Verbundbegriff in seinen jeweiligen Vernetzungen mit anderen (wie z. B. Identität) und fördert wechselseitige Übertragungen zwischen ethisch-politischen und anderen Semantiken.
Apokalypse
(2018)
"Die Apokalypse" ist fester Bestandteil unserer Vorstellungswelt, wo sie landläufig für Katastrophen- und Untergangsszenarien aller Art steht oder schlicht für das "Ende der Welt". Als Bildungsgut, als kulturelles Kapital, gilt dagegen die Kenntnis, dass das griechische ἀποκάλυψις eigentlich "Offenbarung" bedeute. Genaugenommen bezeichnet es das Auf- (ἀπο) bzw. Hochheben eines Schleiers (καλύπτρα). Die Substantivierung des zugehörigen Verbs καλύπτειν, "verhüllen" ist κάλυψις. Die präziseste Übersetzung wäre also "Entschleierung" oder, wenn der abgeleitete abstrakte Sinn betont werden soll, "Enthüllung" - das lateinische 'revelatio'. [...] Seine biblisch-monotheistische Karriere beginnt das Wort in der Septuaginta, der ersten jüdischen Übersetzung der hebräischen Bibel ins Griechische, die auch für die Verfasser des Neuen Testaments der Standardtext wird.
Bei der exklusiven Alternative ist nur eines von beiden machbar. Diese Semantik, die nur eine von beiden Möglichkeiten zulässt, wird transparent in der lateinischen Ursprungsbedeutung 'alter' - der eine von beiden. Im Fremdwort 'alternieren' ist diese Bedeutung 'zwischen zwei abwechselnd' noch erkennbar, die im Prinzip allerdings zwei gleichwertige Lösungen impliziert. Die Wortprägung 'Alternative' - als Kompositum aus 'alter' ("der andere") und 'nativus' ("geboren, auf natürlichem Weg entstanden") - existiert im klassischen Latein noch nicht, sondern stellt eine relativ späte adjektivische Variante im Mittellateinischen dar und erscheint seit dem 15. Jahrhundert in deutschen Texten als Adverb 'alternative', mit beginnendem 18. Jahrhundert wurde dann das auslautende '‑e' aufgegeben und adjektivischer Gebrauch möglich. Umgangssprachlich wird der Ausdruck zwar häufiger unpräzise in einem vageren Sinne verwendet und meint dann nicht nur genau zwei, sondern ganz unbestimmt mehrere Möglichkeiten ("es gibt doch viele Alternativen"), aber in der politischen Rhetorik der Gegenwartssprache dominiert auch im Sprachgebrauch jene logisch, linguistisch und etymologisch fundierte Bedeutung des Terminus. Wenn also der Begriff im politischen Kontext auftaucht, zeigt er - sprachwissenschaftlich gesagt - diese binäre Opposition, und wenn er hier personalisiert, eignet ihm auch diese antagonistische Zuspitzung und kompromisslose Polarisierung.
Agent
(2018)
Seit einiger Zeit tümmeln sich Agenten in der deutschen Sprache, die dort eigentlich nichts zu suchen haben. Äußerst beunruhigend ist, dass sich dort sowohl 'virtuelle' als auch 'reale Agenten' finden, die in 'agentenbasierten Modellierungen' für die Simulierung der Interaktion in sozialen Netzwerken und als 'Bio-Agenten' in Form von Ameisen, deren Staaten 'Multiagentensysteme' repräsentieren, oder Schlauchpilzen (der Art 'Fusarium oxysporum') tätig sind, die Kokapflanzen noch bis tief in den Amazonas hinein verfolgen - und ganz unvermutet als 'Agenten des Wandels' im Ruhrgebiet wieder auftauchen, diesmal allerdings als Bezeichnung für eher harmlose Ökoprojekte. [...] Nach dem Beginn der Aufklärung hat sich der 'agent' bis ins einundzwanzigste Jahrhundert hinein auch noch in seinen verschiedenen Erscheinungsformen fast viral vermehrt.
Fremdwörter haben einen hohen epistemischen Stellenwert, denn sie lenken die Aufmerksamkeit auf die unhintergehbare Sprachlichkeit, Kulturgebundenheit und Historizität des Wissens. Ziel des Bandes ist es, begriffs- und übersetzungsgeschichtliche Aspekte der Zirkulation von Begriffen zwischen den Sprachen zusammenzuführen. 52 Fallstudien beschäftigen sich mit Wörtern, die in andere Sprachen gewandert sind und sich dort - aus ganz unterschiedlichen Gründen - festgesetzt haben.
Repetition
(2019)
Tabu als "travelling concept" : ein Versatzstück zu einer kulturwissenschaftlichen Tabu-Theorie
(2017)
In ihrem Beitrag "Tabu als travelling concept: Ein Versatzstück zu einer kulturwissenschaftlichen Tabu-Theorie" überprüft Ute Frietsch kritisch die Fruchtbarkeit des Tabu-Begriffs, dessen weit verzweigte begriffsgeschichtliche Entwicklung vom Sakralen zum Profanen führt, für die kulturwissenschaftliche Analyse. Sie schlägt vor, den Begriff mit Edward Saids Begriff der "traveling theory" bzw. mit Mieke Bals Begriff des "travelling concepts" als einen reisenden zu verstehen, um den Mehrdeutigkeiten, die sich begriffsgeschichtlich abbilden, Rechnung zu tragen. Frietsch vollzieht in diesem Sinne die 'Reise' des Begriffs von seinen polynesischen Ursprüngen bis zu seiner alltagssprachlichen Verwendung in Europa nach und legt dabei den Fokus auf die vielgestaltigen Wandlungsprozesse, denen das Tabu unterworfen ist.
[...] Archive sind nicht nur in der Mode angekommen, sie sind auch in Mode gekommen. Verlässt man das weite Feld von Lebenswelt und sozialer Alltäglichkeit, so scheint sich die Tendenz im Gebrauch des Wortes 'Archiv' zu bestätigen. Diesen Eindruck gewinnt, wer die gegenwärtige Praxis kulturwissenschaftlichen Arbeitens konsultiert. Das Archiv als Deutungsparadigma ist in den Kultur- und Literaturwissenschaften omnipräsent geworden, und diese Entwicklung wird in der Literatur unter dem Schlagwort von der "Entgrenzung" des Begriffes 'Archiv' diskutiert. Symptomatisch für die sogenannte "Entgrenzung" ist dabei die regelmäßige Suspendierung von Definitionsmerkmalen im Archivbegriff oder gar der Komplettausfall einer näheren Bestimmung dessen, was in diesem oder jenem Beitrag unter 'Archiv' zu verstehen sei. Der Befund ist paradox: Der Unübersichtlichkeit diverser frei flottierender Archivkonzeptionen korrespondiert eine hohe Selbstverständlichkeit in der Rede vom Archiv, die offenbar auch in wissenschaftlichen Zusammenhängen an ein intuitives Verständnis, man wisse schon, was gemeint sei, zu appellieren scheint. Der sogenannte "Archiv-Turn" scheint von einem fröhlichen Pluralismus unterschiedlichster Konzepte von Archiv getragen zu werden, mehr noch: Die Rede vom Archiv scheint zu einem Gemeinplatz geworden zu sein. Ob eine Bildersammlung, eine Bibliothek, die Anordnung von Dateien auf dem eigenen Computer oder eine irgendwie geordnete Ansammlung abgelegter Dinge gemeint ist: "Alles ist Archiv. Alles ist im Begriff, Archiv zu werden."
Als das kontradiktorisch Andere des Lebens wird gewöhnlich der Tod oder auch das Unbelebte gesetzt. Eine Biologiegeschichte der Vergeschlechtlichungen von Lebenskonzepten kann aber noch ein weiteres, etwas schräg zu dieser Gegensatzachse angeordnetes Konzeptpaar herausstellen: die aus sich selbst zeugende Materie, die einer nicht selbst zeugungsfähigen, zu belebenden Materie gegenübersteht. Die erstgenannte Materieart kann mit dem gewohnten Terminus 'lebend' oder 'lebendig' bezeichnet werden, aber in Bezug auf den zweiten Modus von Materie passen Begriffe wie 'tot', 'unbelebt' oder 'lebendig' nicht. Dieser zweite Zustand wird vielmehr als ein zwischen Leben und Tod vermittelnder und changierender wissenschaftlich ausgestaltet, oder genauer: als ein Zustand zwischen Handlungsfreiheit und Naturverfallenheit. Dieses Konzeptpaar - nennen wir es hilfsweise zunächst das Lebendige und seine lebensfähige Ressource - steht außerdem weniger in einem polaren als eher in einem hierarchischen Verhältnis zueinander und durchläuft, so wird in einem kurzen Abriss zu zeigen sein, eine mit dem gesellschaftlichen Geschlechterverhältnis korrespondierende Kulturgeschichte.
Hufeland beginnt seinen Text über die Zeichen des Todes beim Menschen nicht mit dem Hinweis auf die Erfolge der sich konstituierenden Reanimationsmedizin, sondern mit einem Bericht über Felice Fontanas Experimente an ausgetrockneten Haarwürmern und Rädertierchen. Man könnte diesen Einstieg leicht als etwas kuriose Analogie überlesen und sich auf die vitalistischen Lebenskrafttheoreme konzentrieren, die diese Analogie rahmen, aber es lässt sich argumentieren, dass die Rede über die Unsicherheit der Zeichen des Todes und die Möglichkeit der Wiederbelebung, die seit der Mitte des 18. Jahrhunderts zu vernehmen ist, mit der Erforschung des Lebens mikroskopisch kleiner Organismen wie dem Rädertierchen nicht nur akzidentiell zu tun hat.
Wie muss man Religion fassen? Wo kann man sie im Individuum verorten, wenn man sie nicht primär in der Gesellschaft, im Kollektiven suchen will? Welche Perspektiven kann sie erschließen, wenn man die Einzelne oder den Einzelnen nicht von der Gesellschaft isolieren will? In einer phänomenologischen Analyse schlage ich vor, dafür drei Felder in den Blick zu nehmen. Zum Ersten: Wo stärkt sie die Handlungsfähigkeit des Einzelnen, seine Kompetenz und Kreativität im Umgang mit den täglichen, aber auch außeralltäglichen Problemen, wo erhöht sie die Wahrscheinlichkeit, dass er sich 'agency' zuschreibt oder diese in der situativen Konstellation zugeschrieben wird? Zum Zweiten: Wie trägt sie zur Ausbildung kollektiver Identitäten bei, die den Einzelnen als Teil einer Gruppe, eines sozialen Gebildes ganz unterschiedlicher Gestalt und Stärke handeln oder denken lassen? Und schließlich: Welche Rolle spielt Religion in der Kommunikation, wie verfestigt sie sich als Medium solcher Kommunikation, das dann weitere, vielleicht sogar unbeabsichtigte Kommunikationen anstößt und diese vorprägt?
Einer der berühmtesten Sätze Nietzsches lautet: "Was ist also Wahrheit? Ein bewegliches Heer von Metaphern, Metonymien, Anthropomorphismen kurz eine Summe von menschlichen Relationen, die, poetisch und rhetorisch gesteigert, übertragen, geschmückt wurden, und die nach langem Gebrauche einem Volke fest, canonisch und verbindlich dünken [...]". Der Satz wird immer wieder zitiert und aufgerufen, wenn es darum geht, Geltungsansprüche von Theorien in Frage zu stellen, Begriffe und normative Vorstellungen zu dekonstruieren oder den Anteil des Figurativen im Denken hervorzukehren. Dabei liegt der Akzent dann auf den dominanten Tropen Metapher und Metonymie, wenn nicht allein auf der Metapher. In jedem Fall aber ist es die Identifizierung von Wahrheit und Metapher, die in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit gerückt wird, von Wahrheit und Bild oder übertragener, 'uneigentlicher', verschobener Bedeutung, von Wahrheit und nicht fixierbarer, sondern in Bewegung befindlicher Bedeutung, und die Verschiebung kommt - dem Wortsinn entsprechend - durch Tropen zustande. Denn zumindest traditionelle Rhetorik definiert Tropen als diejenigen Figuren, bei denen sich die Bedeutung vom ursprünglichen Wortinhalt wegwendet (τρέπεσϑαι). Tropen sind Wendungen des Sinns. An Nietzsches berühmtem Satz soll hier das Augenmerk kurz auf zwei andere Aspekte gerichtet werden: zum einen auf die in dem Satz selbst enthaltene Metapher, die des Heeres, und zum anderen auf die Struktur des Satzes, d. h. darauf, dass die Prädizierung der Wahrheit als "Heer von Metaphern, Metonymien, Anthropomorphismen" ihrerseits eine rhetorische Figur darstellt, nämlich eine Aufzählung.
Ich werde zu zeigen versuchen, dass der Begriff 'Überleben' bei Foucault zwar nicht besonders auffallend ist, aber doch immerhin in einer signifikanten Weise verwendet wird, und ich werde argumentieren, dass die von Charles Darwin populär gemachte Spencersche Wendung 'survival of the fittest', die das Leben und Überleben-Wollen im Register der Biologie und damit im kalten Licht eines genealogisch-evolutionären Denkens bezeichnet - ich werde sie kurz diskutieren -, auch Foucaults Begriffsverwendung formatierte: Als ein kleiner, ambivalenter Index am Rand seiner Texte, der zum einen auf Theorien verweist, die Foucault als "Bio-Politik" kritisierte, der zum anderen aber die "kalte" Systematik der Diskursanalyse und ihre stille Verwandtschaft mit Theorien der Lebenswissenschaften anzeigt. In jedem Fall aber bezog Foucaults Begriffsverwendung sich auf einen Denkhorizont, der von Darwins schillerndem 'catchword' eröffnet wurde.
Im Folgenden möchte ich Aspekte der Dynamik des Überlebensbegriffs anhand der Untersuchung einiger kultureller Stränge verfolgen, die sich in der westdeutschen Survival-Bewegung der 1980er Jahre kreuzen. Da es keine umfassende Darstellung und auch keine akademische Literatur zum Thema gibt, möchte ich vor allem einen ersten Versuch der Eingrenzung und Lesart der Survival-Bewegung vorschlagen und untersuchen, welcher Überlebensbegriff hier zum Tragen kommt.
Jahr 2004 hat der katholische Theologie- und Politikwissenschaftler Hans Maier darauf hingewiesen, dass der Begriff des Märtyrers bemerkenswert "säkularisierungsresistent" sei. Nach Maier ist der Begriff des Märtyrers weiterhin religiösen Kontexten vorbehalten. Seine Meinung mag angesichts der Renaissance des Märtyrerbegriffs seit den Anschlägen vom 11. September 2001 vordergründig einleuchten. Im Folgenden soll dagegen gezeigt werden, warum Maiers These von der 'Säkularisierungsresistenz' des Märtyrers fragwürdig ist. Ich werde dabei weniger das an sich zu problematisierende Konzept der Säkularisierung diskutieren, sondern zu zeigen versuchen, dass Maiers These begriffsgeschichtlich ihre Tücken hat – zumindest wenn man bereit ist, zu akzeptieren, dass die Begriffsgeschichte von 'Märtyrer' nicht auf ihre antiken Ursprünge zu reduzieren ist. Vielleicht ließen sich Maiers Überlegungen zur 'Säkularisierungsresistenz' des Märtyrers im Hinblick auf die Ausdrucksseite des Begriffs bestätigen. Auch daran zweifle ich, kann und will dem hier aber nicht nachgehen. Stattdessen möchte ich exemplarisch zeigen, inwieweit Bertolt Brecht schon im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts in seinem Lehrstück 'Die Maßnahme' die Märtyrerfiguration säkularisiert hat - eine Technik, die gleichzeitig Modi der Sakralisierung kennt, deswegen auch als Dialektik begriffen werden kann und in der deutschen Dramengeschichte ihrerseits nicht neu ist. Brechts Säkularisierung berührt allerdings ausschließlich die Inhaltsseite des Begriffs 'Märtyrer', den Ausdruck selbst verwendet er nicht. Maier hat außerdem eine deutliche Politisierung des Märtyrerbegriffs in den letzten Jahren diagnostiziert. Auch dem möchte ich widersprechen. Schon Brechts Drama steht entschieden im Zeichen der Politisierung des Märtyrers. Dass zudem auch die personalisierte Politisierung des Märtyrertums keine neue Idee ist, werde ich im zweiten Teil mittels einer Untersuchung von Heiner Müllers 'Mauser' und seiner Büchner-Preisrede darlegen. Müller hat das messianische Potential der 'Maßnahme' mit 'Mauser' einerseits kritisiert. Das hat bei ihm andererseits aber nicht zu einem völligen Verzicht auf Märtyrerfigurationen geführt. Mitte der 1970er Jahre hat er zu einer Rekontextualisierung der Märtyrerfiguration angesetzt, indem er sie – im Unterschied zu Brecht - personalisierte und dadurch eine Art revolutionäre Hagiographie etablierte. Auch die Politisierung geht dementsprechend nicht auf die selbsternannten islamistischen Märtyrer zurück, sondern ist eine ältere Idee. Wie alt sie ist, kann im Rahmen dieser Studie nicht erörtert werden. Wahrscheinlich existierte sie schon in der christlichen Antike.
Bilder von Gewalt, Krieg und Zerstörung steigen auf, wenn der Blick sich auf die arabische Welt richtet. Auch die arabische Literatur des 20. und 21. Jahrhunderts ist von diesen Themen geprägt. Nicht nur viele arabische Gegenwartsromane handeln von körperlicher und politischer Gewalt, von Zensur, Krieg, Verletzung der Menschenrechte und staatlichen Repressionen, auch in der zeitgenössischen arabischen Dichtung spielen diese Themen eine wichtige Rolle. Was hier auffällt, ist eine oft provokante Aufarbeitung von Krieg, Gewalt und Tod, in der das poetische Ich als pathetisch überhöhte Leidensfigur auftritt. "Leidend die Welt zu überwinden", dem erfahrenen Unrecht mit leidenschaftlichem "Gegenleiden" zu begegnen, diese von Erich Auerbach christlicher Weltfeindschaft zugeschriebene Lebenshaltung scheint auch das Motto vieler Gedichte arabischer Autoren zu sein. Die Qualen an sich und der Welt werden nicht selten apokalyptisch dramatisiert, das eigene tragische Ende erscheint als Selbstopfer und so letztlich als moralischer oder auch transzendentaler Sieg, bei dem der Autor sich als Christus am Kreuz, als Zarathustra oder Prophet und damit als Erlöserfigur imaginiert, umgeben von blutigen Horrorszenarien der Gewalt und Angst. Warum zeugen so viele zeitgenössische Gedichte, Romane und Dramen mit derart drastischen Bildern von Krieg, Gewalt und Tod, und welche Funktion haben diese Themen in der Literatur und in der Gesellschaft? Handelt es sich bei den oft pathetischen Selbststilisierungen um narzisstischen Manierismus und maßlose Selbstüberschätzung, oder sind sie vielleicht eine erschütternde, aber schlicht angemessene literarische Antwort auf eine kaum mehr zu ertragende, rücksichtslose und grausame Realität in der arabischen Welt? Um diesen heiklen Fragen auf den Grund zu gehen, sollen in diesem Beitrag einige Gedichte und einige literarische Grenzfiguren untersucht werden.
Aus den Elementen schuf die Göttin der Liebe, Aphrodite, unsere "unermüdlichen Augen", lehrt Empedokles. Und "das das Herz umströmende Blut ist dem Menschen die Denkkraft". Wie der Körper beschaffen ist, so wächst dem Menschen das Denken. Aristoteles berichtet, daß die alten Philosophen, ausdrücklich Empedokles, Denken und Wahrnehmen für dasselbe gehalten hätten. Aus Elementen sind wir gemischt wie die Dinge, und so nehmen wir die Dinge wahr im Maß, wie sie auf Verwandtes in uns treffen. Im Inneren des Auges ist Feuer, umgeben von Wasser, Erde, Luft. Aus dem Auge wird das Feuer als Sehstrahl auf die Dinge entsandt, und so entsteht das Sehen. Umgekehrt fließen von den Dingen feine Abdrücke ab: wenn sie auf die Poren der Sinnesorgane passen, so werden sie wahrgenommen; passen sie nicht, wird nichts wahrgenommen. So fließt zwischen Leib und Dingen nach der Passung der Poren ein ständiger Strom des Gleichen zum Gleichen. "Denn mit der Erde (in uns) sehen wir die Erde, mit dem Wasser das Wasser, mit der Luft die göttliche Luft, aber mit dem Feuer das vernichtende Feuer, mit der Liebe die Liebe, den Streit mit dem traurigen Streite." (Capelle, 236) Einem solchen Denken ist Personalität, Identität des Subjekts fremd. Zwischen Natur und Mensch besteht kein Bruch, sondern ein Strömen des Gleichen und Verwandten. Kein qualitativer Sprung zwischen Leib und Geist. "Denn wisse nur: alles hat Vernunft und Anteil am Denken" (Capelle, 239) - denn zwischen Göttern, Menschen und den "vernunftlosen" Tieren besteht eine "Gemeinschaft des Lebens und der gleichen Elemente", Verwandtschaft folglich durch jenen umfassend einzigen "Lebenshauch, der die ganze Welt durchdringe". ...
Wir alle kennen den Bestand der Szene: "ein schöner Augusttag des Jahres 1913", meteorologisch bestimmt; eine Stadt in der Physiognomie futuristischer und kubistischer Bilder; ein dynamisches Feld aus Geräuschen, Bewegungen, optischen Zeichen, Rhythmen, Verdichtungen, Bündelungen, Auflösungen, Serien und Sprüngen, Leerstellen und Häufungspunkten, Energieflüssen und Statiken; und darin plötzlich "eine quer schlagende Bewegung", der berühmte Unfall, eine Synkope in der diffusen Ordnung der Dinge, ein "Loch" ins Bodenlose oder ein aufflackernder Irrsinn; dann die Entsorgung des "verunfallten" Verkehrsteilnehmers durch die "Rettungsgesellschaft", die Schließung der Lücke, das Weiterfließen der augenblickslang unterbrochenen Energieströme. Und die Menschen? "Fußgängerdunkelheit bildete wolkige Schnüre", ein Kraftfahrer "grau wie Packpapier", ein "Mann, der wie tot dalag", ein flanierendes Paar, dessen Identifizierung als Personen versucht und sogleich storniert wird, ein Paar, gesichtslos wie Figuren auf Bildern August Mackes, Skizzen aus sozialen und sprachlichen Stereotypen; selbst die "feinen Unterschiede" (Bourdieu) sind differentielle Effekte des Feldes, nicht der Inkommensurabilität von Personen. Es scheint, "daß sich ein gesetzliches und ordnungsmäßiges Ereignis vollzogen habe". Es scheint so. ...
Es gehört zur Dialektik der Aufklärung bereits im 18. Jahrhundert, daß [die] Rationalisierungen des Leibes eine Fülle von sowohl ästhetischen wie medizinischen Kritiken und Alternativen hervortrieb, von denen hier ein Strang näher charakterisiert werden soll, nämlich die Leibkonzepte, die auf vormoderne Semiotiken des Körpers zurückgehen, auf hermetische medizinische Traditionen zumal. Kann man die mechanistische Medizin und moralische Disziplin als Strategien der "Entsemiotisierung" verstehen, so zeigen sich am Ende des Jahrhunderts und dann in der Romantik Spuren einer "Resemiotisierung" des Leibes. In heutiger Perspektive interessiert sie darum, weil, wie Thure von Uexküll vermutet, wir an die Grenze des naturwissenschaftlichen Paradigmas der Medizin gestoßen sind und uns in der Phase der Vorbereitung eines neuen, nämlich semiotischen Paradigmas befinden.
In der sehr alten Deutungsgeschichte der Melancholie gibt es um 1475 eine dramatische Szene, von der Panofsky/Saxl in ihren bahnbrechenden Forschungen zur "Melencolia" von Albrecht Dürer berichten: der hermetische Neuplatoniker Marsilio Ficino klagt in einem Brief seinem Freund Giovanni Calvacanti, daß er nicht ein noch aus wisse und verzweifelt sei; dies ginge auf die mächtigen und düsteren Einflüsse des Saturns auf seinen Geist und sein Gefühl zurück. Saturn - das ist hier der maligne Stern, der fernste des Planetensystems, der Gott des Dunklen, Kalten und Schweren; rätselhafte, schwer entzifferbare Gottheit der Zeit; uralter Flurgott oder auch der gestürzte und kastrierte Uranide. Viele, auch widersprüchliche Traditionen fließen in der Semantik des Saturns zusammen. Innerhalb der Astralmedizin ist der Saturn der Regent der schwarzen Galle, der Milz, der kalten, trockenen Erde. Diese Komplexion aus Astrologie, Elementenlehre, Anatomie und Humoralpathologie bildet den Typus des melancholischen Temperaments. ...
"Machet euch die Erde untertan! " (Gen I, 28) - damit wird keineswegs die heutige Form naturbeherrschender Technik durch Gott selbst schon vorab legitimiert. Die Agrarkultur, die dem Jahwisten bei diesem Satz vorschwebte, zielt nicht auf ein dominium terrae, gar auf despotische Herrschaft des Menschen über Natur. Auch bei den frühen christlichen Exegeten findet sich keine Stütze für einen christlichen Auftrag zur Naturbeherrschung im technischen Sinn. Die privilegierte Stellung des Menschen ruht weniger auf einem NaturAuftrag als auf seiner Einzeichnung in den heilsgeschichtlichen Plan Gottes. Auch der stoische Gedanke einer teleologisch auf das Wohl des Menschen hin eingerichteten Welt enthält keinen Schub zu einer technischen Entwicklung. Im Gegenteil: die Natur, wie sie ist, ist vollständig und bedarf nicht der technischen Umarbeitung zu ihrer Vervollkommnung. Bei Aristoteles wird die Mechanik gegenüber der Physik, die durchaus ein kontemplatives Verhältnis zur Natur beschreibt, deutlich abgewertet. Natürlich: man hatte Sklaven oder niedrige Handwerker, die die gesellschaftlich notwendige Arbeit auf einem gleichbleibenden Niveau der instrumentellen Technik erledigten. Für die antike Welt, deren theoretische und praktische Kenntnisse eine erste technische Revolution durchaus ermöglicht hätten, bleibt deshalb charakteristisch, was Hanns Sachs die "Verspätung des Maschinenzeitalters" genannt hat. ...
Ein Spaziergang im Wald: Die Baumkronen wiegen sich im Sommerwind, unser Weg ist in ein animierendes Wechselspiel von Licht und Schatten getaucht, dazu zwitschern die Vögel. Hier und dort treffen wir auf andere Spaziergänger, die ebenfalls der Stadt entflohen sind – zum Familien-Picknick in Waldlichtungen, zum verliebten Zwiegespräch, zum einsamen Grübeln. Auf unseren Gruß reagieren manche freundlich und offen, andere unwirsch. Hier werden wir zum Wein geladen und zum Versteckspiel mit den Kindern, dort fühlt man sich gestört, ja einmal werden wir sogar bedroht, weil man unsere Kontaktaufnahme als Einmischung in fremde Angelegenheiten mißversteht. ...