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In unserer allmählich kleiner werdenden Welt und "in der Literatur und Wissenschaft, die auf einer Vielzahl von Ortsveränderungen beruhen" (Ette 2001: 21), ist "die Verortung des Fremden im Dialog der Kulturen" von einer großen Bedeutung. Der Dialog der Kulturen war schon längst ein Thema vieler Kulturarbeiten und der Humanwissenschaften, wobei mehrmals vergessen wurde, wo das Fremde in diesem Dialog liegt und wer für wen fremd ist. Meist spielt eine eurozentrische Betrachtungsweise eine wesentliche Rolle, um diesen interkulturellen Dialog zu definieren, auch wenn der Dialog sich zwischen zwei Elementen oder Personen gleicher Rechte in der sprachlichen, kulturellen und sozialen Repräsentation verwirklichen sollte, sonst geht der Dialog von vornherein verloren. "Es lohnt sich in der Tat zu fragen, inwieweit man wirklich bereits von einem global-gleichrangigen Dialog zwischen den Völkern sprechen kann, der nicht selten von verschiedenen Seiten beschworen wird" (Bräsel 1999: 77).
Der Artikel geht auf die Darstellung des kulturellen Engagements des Grafen Albert Joseph Hoditz (1706 - 1778) ein, das im Rosswalder Schloss und in dessen Garten entwickelt wurde. Die Rosswalder Gartenlandschaft wird im Bezug auf die europäische Literaturgeschichte vorgestellt. Darüber hinaus spiegelt sie künstlerische Interessen des Grafen Albert Joseph Hoditz wider und weist auf die Phänomenalität dieses an der Peripherie liegenden Dominiums hin.
Gesichter in Lyrik und Prosa verweisen auf vielfältige Techniken ihrer verbalen Kreation - und ihrer Auflösung. Anders als die Bildkunst, die Gesichter simultan evident macht, konstituiert sich das Verbalporträt (in der Regel) linear-sukzessiv. Es ist medial zur Fragmentierung des Motivs und zur Anordnung der semiotischen Einheiten in einer eindimensionalen Abfolge gezwungen: das heißt, die Zerlegung des darzustellenden Gesichts ist zwingend notwendig, ein Moment der Auflösung ist ihm seit jeher eingeschrieben. Daher experimentiert es aber auch seit jeher mit den Verfahren der Zusammenfügung (Re-Komposition) der Einzelteile. Diesbezüglich verzeichnet das poetische Porträt schon in der Renaissance erste spielerische Höhepunkte, die frappierende Ähnlichkeiten aufweisen mit den ungewöhnlichen, heute sehr bekannten Porträts des manieristischen Malers Giuseppe Arcimboldo, dessen Gesichter sich aus Blumen, Früchten, Büchern u.a. zusammensetzen und Kippfiguren zwischen Menschenähnlichkeit und Realitätsferne bilden, indem sie ihren Komposit-Charakter ostentativ zur Schau stellen. Die punktuelle Feststellung vergleichbarer Darstellungsprinzipien wirft notwendig die Frage auf, ob und inwiefern sich Auflösungserscheinungen in verbalen und pikturalen Porträts trotz ihrer Mediendifferenz stilhistorisch parallelisieren lassen – so lautet die Rahmenfrage, die erneut aufzugreifen ist nach einer Betrachtung verschiedener in Auflösung befindlicher Verbalporträts. Die einzelnen Werkanalysen sind konzise, zugunsten eines möglichst breiten Spektrums fazialer De-Kompositionen.
Polen als Niemandsland? Deutschland als Wunderland? In der zweisprachigen Anthologie Kindheit in Polen - Kindheit in Deutschland erzählen deutsche und polnische AutorInnen - aufgewachsen in Polen, in der DDR, in Westdeutschland - aus ihrer Kindheit. In ihren Texten spiegeln sich gesellschaftliche Umbrüche, Familie und Liebe, Flucht und Vertreibung, Religion und Ideologie, inter- und transkulturelle Erfahrungen sowie die Heimatsuche der Flüchtlingskinder. Die Erzählungen, Gedichte und Erinnerungen zeigen Unterschiedliches und Gemeinsames, sie fördern den Austausch über Grenzen hinweg. Die Auseinandersetzung mit Zentrum und Peripherie bezieht sich nicht nur auf Grenzregionen, sondern betrifft auch kulturelles und literarisches Erbe. Die gegenwärtige deutsche und polnische Literatur bewegt sich in Richtung unterschiedlicher Zentren, und ihre Autoren scheinen irgendwie 'zwischen' zwei oder sogar mehreren Sprachen und Kulturen zu leben. Die im vorliegenden Beitrag analysierte Anthologie scheint ein Buch der deutsch-polnischen Begegnungen zu sein. Sie baut eine Brücke für ein gegenseitiges Verstehen unserer Vergangenheit und Gegenwart.
"Was wäre ein Zeichen, das nicht zitiert werden könnte?", fragt Jacques Derrida in seinem 1972 erschienen Aufsatz 'Signature evenement contexte', um kurz darauf festzustellen: "Jedes Zeichen, sprachlich oder nicht, gesprochen oder geschrieben (im geläufigen Sinn dieser Opposition), als kleine oder große Einheit, kann zitiert – in Anführungszeichen gesetzt – werden; von dort aus kann es mit jedem gegebenen Kontext brechen und auf absolut nicht sättigbare Weise unendlich viele neue Kontexte zeugen." Zitieren wird hier als eine Bewegung des Herausnehmens aus einem Kontext und Einfügens in einen anderen Kontext beschrieben - und für diese doppelte Geste, die dem Akt des Zitierens zugrunde liegt, verwendet Derrida die Metapher der Pfropfung: "Auf dieser Möglichkeit möchte ich bestehen", heißt es in 'Signatur Ereignis Kontext': der "Möglichkeit des Herausnehmens und des zitathaften Aufpfropfens [greffe citationelle], die zur Struktur jedes gesprochenen oder geschriebenen Zeichens gehört". Damit wird die Pfropfung zu einer Figuration, zu einer Verkörperung dessen, was im Akt des Zitierens und durch den Akt des Zitierens geschieht, wobei den Anführungszeichen eine besondere Funktion zukommt: Sie signalisieren, dass das Zeichen oder die Zeichenkette, die zwischen Anführungszeichen gesetzt wurden, anders interpretiert werden soll als sie bisher interpretiert wurde. Anführungszeichen signalisieren also einen Wechsel des "Deutungsrahmens". Das gilt für einfache Anführungszeichen, die eine ironische Distanzierung signalisieren ebenso wie für die doppelten Anführungszeichen. Die doppelten Anführungszeichen zeigen nicht nur einen Wechsel des Deutungsrahmens an, sondern sie zeigen auch an, dass das, was zwischen die doppelten Anführungszeichen gesetzt wurde, nicht von dem stammt, der spricht oder schreibt. Sie zeigen ein 'von jemand anderem' an: sei es, um diesem anderen damit die Ehre der Urheberschaft zu geben und damit zugleich sein Copyright zu respektieren; sei es, um dem anderen die Verantwortung für das, was zwischen den Anführungszeichen steht, zuzuschreiben. Insofern zeigen doppelte Anführungszeichen zugleich die Distanz und die Differenz zwischen zitierendem Subjekt und zitiertem Subjekt an.
Seit dem sogenannten 'spatial turn' hat die Reflexion unterschiedlicher Raumkonzepte in den Kulturwissenschaften Hochkonjunktur. Dabei wird immer wieder auf einen Aspekt verwiesen, der gleichwohl merkwürdig randständig bleibt: der Zwischenraum als materielle oder imaginäre Grenze. Sei es die häusliche Schwelle (Bachelard) oder der Schwellenritus (van Gennep), der postkoloniale 'in-between-space' (Bhabha), die paratextuelle 'zone intermediaire' (Genette) oder eine assoziative Ikonologie des Zwischenraums (Warburg). All diese Aspekte verweisen auf ein besonderes Feld von Praktiken im Raum, die in einem Zwischenbereich stattfinden, nämlich die Bewegungen im Zwischenraum. Ausgehend von den Hypothesen, dass erstens Räumlichkeit durch Bewegungen im Raum konstituiert und zweitens durch Zwischenräumlichkeit definiert wird, stellen sich die folgenden Fragen: Wie bewegt man sich im 'Dazwischen'? Gibt es spezifische 'zwischenräumliche Bewegungspraktiken' – und wie wirken sich diese sowohl auf die Konstitution des Raums als auch auf die Repräsentation des Zwischenraums aus?
Der Begriff des Rahmens hat in den letzten Jahrzehnten in unterschiedlichsten Kontexten Konjunkturen erlebt: in der Anthropologie und der Soziologie als kontextsensibler Handlungsrahmen, in den Theaterwissenschaften als Inszenierungsrahmen, in der Literaturwissenschaft als paratextuelle Rahmung, in der Linguistik als kognitiver Repräsentationsrahmen respektive als Skript – und, nicht zu vergessen, in der Kunstwissenschaft als Bildrahmen. Dabei steht jede "Aufmerksamkeit für Rahmungen" in einem Spannungsverhältnis zwischen einem Interesse für explizite, sprich: materielle und insofern sichtbare Formen der Rahmung einerseits und einem Interesse für implizite, konzeptionelle, sprich stillschweigend vorausgesetzte Interpretationsrahmen andererseits. Zugespitzt formuliert könnte man sagen: Das Problemfeld 'Rahmen' wird durch das Verhältnis von phänomenaler Rahmenwahrnehmung und funktionalem Rahmenwissen bestimmt, wobei sich in der Verhältnisbestimmung zugleich die Rahmenbedingungen von textuellen, theatralen, pikturalen und technischen Konfigurationen zeigen.
"Alle Museen, nur nicht die Kunstmuseen, sind Friedhöfe der Dinge", schreibt Boris Groys in seinem Buch 'Logik der Sammlung', denn was in Museen gesammelt wird, "ist seiner Lebensfunktion beraubt, also tot. Das Leben des Kunstwerks beginnt dagegen erst im Museum". Doch gilt dies auch für das literarische Kunstwerk? Offensichtlich nicht. Literarische Kunstwerke muss man lesend erfassen: unter einem Baum sitzend, auf einem Sofa liegend, im Stehen, während man auf den Bus wartet. Literatur kann man nicht betrachten wie ein Bild, wie eine Skulptur – sie besitzt als ein Objekt, das sich erst im Vollzug von Leseakten konstituiert, zunächst einmal überhaupt keinen Bildcharakter und mithin überhaupt keinen Ausstellungswert: Ein Buch, das man nur anschaut, bleibt tot. Erst wenn man es aufschlägt, darin blättert, darin liest, wird es lebendig. Mit einem Wort: Bei einem Text gibt es nichts zu sehen! Ein Umstand, der auch von einigen Ausstellungsmacherinnen schmerzlich bemerkt wird. [...] Umso dringlicher stellt sich die Frage, wie sich Literatur – sei es in Form von Büchern, sei es in Form von Texten, die vor, nach oder neben der Buchwerdung von Literatur existieren - im musealen Bühnenrahmen in Szene setzen lässt: Wie kann das Museum zu einem "Schauplatz" von Literatur werden?
Was zeigt man, wenn man 'Literatur' zeigt – und was zeigt sich im Rahmen dieser "Schau"?
Beirut und Berlin, die libanesische und die deutsche Hauptstadt, weisen – neben zahlreichen evidenten Unterschieden – eine Reihe von Parallelen auf, die im Zusammenhang mit Krieg und Teilung, Zerstörung und Wiederaufbau ihres Stadtzentrums stehen. Ähnlich wie die Gegend um den Potsdamer Platz in Berlin nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und in den Jahrzehnten der deutschen Teilung war das Beiruter Stadtzentrum im Laufe des Bürgerkriegs (1975−1990) zu einer Art Niemandsland geworden. Als Schauplatz heftiger Kämpfe war es bereits zu Beginn des Krieges weitgehend zerstört und in der Folge von Bewohnern wie Geschäftsleuten verlassen worden. [...] Im Anschluss an einen kurzen Exkurs zur Geschichte des Beiruter Stadtzentrums werden im Folgenden einige Ausschnitte aus der Debatte vorgestellt. Auf der einen Seite wird es um die Wiederaufbaupläne gehen, um die mit hohem Aufwand betriebene Medien-Kampagne und das Vorgehen der mit dem Wiederaufbau betrauten Immobilienfirma sowie um den Widerstand, den dies hervorrief. Auf der anderen Seite werden künstlerische Positionen, Einwände und Gegenentwürfe vorgestellt: Am Beispiel zweier in den 1990er Jahren erschienener Romane wird illustriert, wie das Beiruter Stadtzentrum als Schauplatz für Debatten dient, in denen Fragen von Identität, Erinnerung und Verantwortung verhandelt werden.
Komplikationen von Zeitreisen sind nicht unvertraut. Entfaltet werden sie in einem eigenen Genre von Geschichten. Die erste namhafte Erzählung, in der eine Zeitreise mit Hilfe einer Zeitmaschine unternommen wird, ist schon dem Titel nach einschlägig, ja ikonisch: 'The Time Machine', 1895 verfasst von H.G. Wells. Dabei handelt es sich um einen Urtext der Science Fiction, wofür besonders wichtig ist, dass hier die Reise in eine äußerst ferne Zukunft führt. Bevor ich mich diesem Text ausführlicher zuwende, schicke ich einige Bemerkungen zur wissenschaftlichen Denkbarkeit und technischen Machbarkeit von Zeitreisen voraus. Im Anschluss an Wells’ klassisch-modernes Modell der Zukunftsreise werde ich dann zwei Romane aus den 1990er Jahren besprechen, in denen Zeitreisen in die Vergangenheit führen: 'Timeline' von Michael Crichton (1999) und 'Making History' von Stephen Fry (1996). In diesen Geschichten zeigt sich eine für das späte zwanzigste – und auch noch für das beginnende einundzwanzigste – Jahrhundert charakteristische, wohl mit Recht als 'postmodern' zu charakterisierende Fixierung auf Vergangenheit und Historizität. Ähnliches gilt für Robert Zemeckis’ Filmtrilogie 'Back to the Future' (1985–1990), die ich abschließend erörtern werde. Hier wird auf virtuos selbstbezügliche Weise ein zugleich spannendes und komisches Hin und Her zwischen den Zeitformen inszeniert und ins bewegte Bild gesetzt.
Dinge in Texten haben maßgeblich an der Konstruktion imaginärer Welten teil. Sie kommen zu allen Zeiten und in allen literarischen Gattungen vor, in der Heldenepik ebenso wie in Aphorismen, im Mittelalter wie in der Moderne. Dinge treiben Handlungen voran, stören, wenn sie nicht funktionieren, und sie schaffen und zerstören Ordnungen - auch solche der Worte. Im Gegensatz zur Ethnologie oder Museologie hat es die Literaturwissenschaft stets mit Zeichen zu tun - es stellt sich also die Frage, wie das Verhältnis von res und verba analysiert und beschrieben werden kann. Der vorliegende Band versammelt Beiträge, die sich, angefangen bei der antiken Rhetorik über mittelalterliche Literatur bis hin zum 20. Jahrhundert, mit Dingen in und neben Texten beschäftigen.
Lexika wie Zedlers Universal-Lexicon gehen von einer scharfen Trennung zwischen Objekt und Subjekt aus, Schreibwerkzeuge werden darin immer auf die Objektseite geschlagen. Sprechende und damit subjektivierte Federn gibt es hingegen schon, seit Federn in Gebrauch sind. Sie tun dies vor allem in literarischen Texten, wo sie als dingliche Objekte Subjektstatus einnehmen und dadurch die Dichotomie von Subjekt und Objekt unterlaufen. Wenn die Feder zum sprechenden Subjekt wird, werden die von ihr beschriebenen Menschen zum Objekt, wobei sich die Feder dann für Benachteiligte und Unterdrückte einsetzt und dadurch diese wiederum zu Subjekten erhebt. Innerhalb der It-Narratives nehmen erzählende Federn eine Sonderstellung ein, weil sie erstens die materielle Vorbedingung des Schreibens sind, weil sie zweitens den Schwellenraum von Mündlichkeit und Schriftlichkeit besetzen, indem sie paradoxerweise das, was sie sprechen, auch gleichzeitig ins Schriftliche transponieren und dort festschreiben, sowie weil sie drittens poetologisch das hinterfragen, was geschrieben wird und werden soll
Obwohl noch nicht ausreichend geklärt ist, wie belesen Schmidt im Bereich der literarischen Moderne eigentlich gewesen ist, als er um 1950 mit ersten literarischen Veröffentlichungen und um die Mitte der fünfziger Jahre sogar mit seinen ersten prosatheoretischen Entwürfen an die Öffentlichkeit trat, läßt sich seinen Äußerungen doch soviel entnehmen, daß wir seine Kenntnis der außerdeutschen europäischen Moderne wohl eher als sehr bescheiden und lückenhaft ansehen müssen. Die Quellenlage spricht dafür, daß außer Alfred Döblin, Hans Henny Jahnn, Hermann Hesse und, im Wortspielerischen, Expressionisten wie August Stramm nur wenige andere moderne Autoren ihm für sein Werk Pate gestanden haben, am wenigsten noch die großen Vertreter der europäischen Moderne. Schmidt, vom Faschismus samt der verabscheuten Wehrmachtszeit zu einem der zahlreichen 'transzendentalen Obdachlosen' der Nachkriegszeit transformiert, siedelte seine private literarische Ahnengalerie stattdessen vorzugsweise im 18. und 19. Jahrhundert an; Vorbilder waren ihm, dem selbst erklärten "Verirrten aus dem 18. Jahrhundert", unter anderem Wieland, Fouqué, Tieck, Poe, Dickens und Stifter.
Der Beitrag zeigt, dass sich die Etablierung des Phänomens der 'Prager deutschen Literatur' auf den beiden Konferenzen von Liblice von 1963 und 1965 ganz im Zeichen der Dichotomie von Zentrum und Peripherie vollzog. Diese fand vor allem in der wertenden Abgrenzung einer vermeintlich durchgängig humanistischen 'Prager deutschen Literatur' (als Zentrum) gegen eine umfassend nationalistische, ja präfaschistische sudetendeutsche Literatur (als Peripherie) Anwendung. Erstaunlicherweise findet sich jedoch sowohl im Beitrag zur Weltfreunde-Konferenz von Paul Reimann als auch dem von Eduard Goldstücker zudem ein Argumentationsmuster, in dem Prag als Peripherie zu den Hauptstädten vermeintlich 'welthistorischer Völker' (Reimann) oder zu Wien (als Hauptstadt Österreich-Ungarns bei Goldstücker) profiliert wird und die besondere Bedeutung der 'Prager deutschen Literatur' gerade aus dieser peripheren Lage abgeleitet wird. Insgesamt ergibt sich die Diagnose einer inkonsistenten Begründung der einen 'Prager deutschen Literatur', die nach einer Neukonzeption dieses Phänomens verlangt.
Sündenkleid und letztes Hemd
(2015)
Teufelsmaske, Nebelkappe, Narrenkleid, Panzer der Rebellion - die barocken Geistlichen und Dichter werden nicht müde, Synonyme für das zu finden, was der Gläubige auszuziehen hat, wie ja überhaupt Variation zu den Grundprinzipien barocker Dichtung gehört, welche die Sprache als 'Einkleidung' von Gedanken betrachtet und auf den Reichtum von Epitheta größten Wert legt - und in seinen Poetiken regelmäßig für 'Buße tun' auch die Umschreibung 'das Sündenkleid ablegen' vorführt.
Der Aufsatz beschäftigt sich mit der tschechischen Aufnahme der deutschsprachigen Literatur um 1900 und ihrem Anteil an der Profilierung des literarischen Experiments. Tschechische Übersetzungen und Buchausgaben dieser Zeit zeichneten sich der deutschen Literatur gegenüber durch einen traditionellen Zugang aus, durch den die eigentliche deutschsprachige Moderne eher ausgeschlossen wurde und die ausgewählten Werke im Geiste des Parnassismus interpretiert und modifiziert wurden.
Freud soll als Theoretiker des Gedächtnisses produktiv gemacht werden. Was sich seinem Bild Roms methodisch abgewinnen lässt, ist als Aufhebung zeitlicher Struktur auch deren Überführung in räumliche Schichten. Wenn alles simultan ist, so gibt es keine Abfolge, und die Analyse kann darum nicht von Entwicklungen, sondern von Schauplätzen sprechen. Diesen kommt in der kulturwissenschaftlichen Arbeit eine herausragende Bedeutung zu, auch die folgende Untersuchung zu Geschichten und Gestalten einer Märtyrerin: der Heiligen Cäcilie, zu ihren narrativen und pikturalen bzw. plastischen Figurationen wird Freuds Modell folgen. Auch bedingt dies eine Darstellungsweise, die - wie schon diese methodischen Überlegungen - über Umwege führt. Nicht zuletzt lässt Freuds implizite Idee einer häretischen Form der Auferstehung der Toten, die ins Bild der 'Ewigen Stadt' eingetragen ist, auch die väterlichen Heilsversprechen als labil erscheinen, sodass es nicht ausgemacht ist, was passiert, wenn die Toten ihre Gräber verlassen.
Im Folgenden werden zunächst punktuell symbolische und literarische Codierungen des Schwarzmeerraumes aus russischer bzw. sowjetischer Perspektive skizziert, um dann erneut auf Brodskys Entwurf einer mentalen Topographie in "Flucht aus Byzanz" zurückzukommen. Die (sowjet-)russischen Erfahrungen und Einschreibungen konnotieren den gesamten Essay. Brodskys antiöstliches Pathos erweist sich vor dem autobiographischen Hintergrund als eine antiimperiale Geste, als Abrechnung mit der Unfreiheit des Sowjetimperiums.
Die offizielle Rhetorik der "unverbrüchlichen Freundschaft" ("nerušimaja družba") und der Brüderlichkeit zwischen den Völkern der Sowjetunion vermochte bereits zu Sowjetzeiten nur schwer zu verbergen, dass Konzept und Praxis der sowjetischen "Völkerfreundschaft" keineswegs identisch waren. Die angestauten Spannungen entluden sich nach dem Zerfall der Sowjetunion in Spannungen, die sogar den Charakter bewaffneter Auseinandersetzungen annehmen konnten. (Davon war im Beitrag von Giorgi Maisuradze die Rede.) Zur Ambivalenz der sowjetischen Nationalitätenpolitik gehörte, dass die nationalen Kulturen durchaus eine Förderung erfuhren, ihre Entfaltung jedoch den machtpolitischen Interessen und dem ideologischen Rahmen untergeordnet wurde. Und schließlich gab es eine reale Praxis des Zusammenlebens im Raum des Sowjetimperiums, die von vielen Menschen in ihrem Alltag als reale Freundschaft erlebt wurde. Der Zerfall der Sowjetunion wurde daher von vielen Sowjetmenschen als ein dramatischer Verlust erlebt. Es geht mir nachfolgend aber nicht darum, die Nachwirkungen des Konzepts der sowjetischen (in ihrem Kern stalinschen) "Völkerfreundschaft" oder Nationalitätenpolitik bis heute zu untersuchen. Vielmehr will ich an einem Text aus der russischen Literatur der 1970er - 80er Jahre und des vom gleichen Autor aus der postsowjetischen Perspektive und somit gleichsam als Postscriptum zu lesenden Textes untersuchen, auf welche Weise in beiden der traditionelle russisch (bzw. sowjetisch)-georgische literarische Freundschaftsdiskurs fortgeschrieben oder aber, im Gegenteil, unterlaufen wird. Bei dem Beispieltext handelt es sich um Andrej Bitovs "Georgisches Album" ("Gruzinskij al’bom") und den von ihm 2003 ursprünglich als Vorwort zur deutschen Ausgabe geschriebenen Essay "Wofür wir die Georgier geliebt haben" ("Za čto my ljubili gruzin").
Zum Repertoire sozialistischer Helden und Märtyrer gehört die Figur des Kindermärtyrers, die auch in der sowjetischen Kultur seit den 1920er und 1930er Jahren Hochkonjunktur hatte. In der Presse, der Literatur wie im Film wurden zahlreiche Geschichten über Kinder und Jugendliche erzählt, die an die 'lichte Zukunft des Kommunismus ' glaubten und bereit waren, selbstlos ihr Leben für diese zu opfern. Solche Geschichten über jugendliche Opfer zählten - wie traditionell in vielen Kulturen und Gesellschaften - zu den zentralen Gründungs- und Opfermythen des Sowjetsystems. Das Selbstverständnis der Sowjetmacht als Schöpferin einer neuen Weltordnung, das radikale Zerstörungspraktiken zu legitimieren schien, war mit einer Neuordnung des gesamten symbolischen Kapitals russischer Geschichte verbunden. Einerseits wurden tradierte Symbole den veränderten Bedingungen angepasst und semantisch umcodiert, andererseits wurden den Anforderungen der Ideologie entsprechende neue Zeichen und Symbole in Umlauf gebracht. Mit den realen wie fiktiven Märtyrerfiguren wurden insbesondere in den ersten beiden Jahrzehnten nach der Oktoberrevolution von 1917 wirkmächtige Symbole zur Regulierung der für die Menschen nahezu täglich spürbaren Gewalt bereitgestellt. Die Märtyrerfigur als kulturelles Deutungsmuster funktionierte offenbar weiterhin - ungeachtet der radikalen Absage der Sowjetmacht an die Religion - als propagandistisches Instrument und ermöglichte Verknüpfungen (wie z. B. von Gewalt und Kult, Tod und Verehrung, Opfer und Quasi-Sakralem).
Die Vogelperspektive lässt sich als ein experimenteller Standpunkt im Sinne des Erprobens eines den menschlichen Maßstäben nach ungewöhnlichen Blickes sowie eines Wagnisses fassen. Als solche hat sie sich nicht nur über weite Strecken der Literaturgeschichte, sondern auch für theoretische Annäherungen als Garant eines gesellschaftskritischen Standpunkts erwiesen, der ebenso dem Zirkus und v. a. seinen TrapezartistInnen und SeiltänzerInnen zugeschrieben wird. Durch Stichproben in Franz Kafkas, Erwin Herbert Rainalters und Milo Dors einschlägigen Texten wird im Beitrag diese kanonisierte Auffassung des 'Blicks von oben' auf den Prüfstand gestellt, und zwar wiederum im Sinne einer Versuchsanordnung.
"Tabu", "Verbot", "Grenze" - exakte definitorische Abgrenzungen der Begriffe erscheinen diffizil, ihre Übergänge dagegen mitunter fließend. Diese erste Bestandsaufnahme bedeutungsverwandter Wörter trifft die Frage nach der Konzeption des Tabus und seinem Gegenstandsbereich im Kern: Es geht um Grenzziehungen und um deren zeitgleiche Übertretungen, die in der Konzeption des Tabus - wie es im Folgenden konturiert werden soll - simultan angelegt sind. Leonie Süwolto gibt zur Definition des Begriffs zunächst über die Begriffsherkunft und -überlieferung Auskunft, bevor ein Überblick theoretischer Reflexionen des Tabus Aufschluss über seine Konzeption gibt. Ausgehend von der These, die im Verlauf des Textes entwickelt wird, dass Tabus als historisch und kulturell variable Grenzmarker Auskunft über gesellschaftliche Wertesysteme und ihren Wandel geben können und somit immenses kulturdiagnostisches Potential bergen, denkt Süwolto außerdem über ihre Bedeutung in der Gegenwartsgesellschaft und nicht zuletzt über das Verhältnis von Literatur, Kunst, Medien und dem Phänomen Tabu bzw. Tabubruch nach.
Die vorliegende Arbeit untersucht die Motivation des Wechsels von der Lyrik zur Prosa im Frühwerk von Thomas Bernhard und bemüht sich zu zeigen, wie sich die 'neue' Gattung als Experimentierraum sprachlicher Konstruierbarkeit einer literarischen Wirklichkeit und die Existenzialphilosophie als neues Ausdrucksmittel des leidenden Subjekts erweist. Beide bilden die Voraussetzungen für den neuen Bernhard'schen Ton, der sich im Roman 'Frost' (1963) zum ersten Mal zeigt. Das Experimentelle im Romanerstling Bernhards ist soziologisch motiviert und äußert sich sowohl erzähltechnisch als auch konzeptuell in der 'experimentellen Sprache' des Malers Strauch.
‚Institutionalität’ als leitender Konzeptbegriff zielt in dem hier gemeinten Sinn nicht auf eine Analyse von ‚Institutionen’ als historische Entitäten im Sinne von einzelnen ‚Organisationen’, ‚Körperschaften’, ‚Anstalten’. Es geht vielmehr um etwas, das sich das ‚Institutionelle’ an gesellschaftliche Strukturen des Kommunizierens und Handelns analysieren läßt: Formen der Geltungssicherheit und Stabilisierung, die in sozialen Ordnungen auch gewissermaßen ‚unterhalb’ der Ebene von durchgebildeten Organisationen oder Institutionen (im traditionellen Wortsinne) wie Ehe, Kirche, Staat, Universität usw. begegnen. (...)
Wenn man (...) fragte, welche Mechanismen es sind, die im Gegenzug zu (...) institutionellen Ungesichertheiten das Gelingen literarischer Kommunikation und die Wiederholbarkeit ästhetischer Rede am Hof gleichwohl möglich oder wahrscheinlich gemacht haben mochte, dann könnten jene Momente der Texte in den Vordergrund treten, von denen die folgenden Untersuchungen gleichfalls handeln: (...) [D]as [also], was (...) [Strohschneider] einmal die ‚Formiertheit’ höfischer Texte zu nennen versuchte. Gemeint sind Textmerkmale wie Schemata oder Topiken, welche die Rede gegenüber der Kontigenzen des Okkasionellen stabilisieren, welche kommunikative Wiederholbarkeit und Wahrscheinlichkeit von Dichtung dort produzieren, wo entsprechende außertextliche Institutionen noch fehlen.
Es fällt auf, dass eine ganze Reihe von Bekehrungsgeschichten in der frühen koranischen Rezeptionsgeschichte die Dichter und ausgewiesen rhetorisch Versierte zu Protagonisten haben. Kaum eindringlicher konnte die überlegene "Höherentwicklung" des Koran gegenüber der bloßen Poesie vorgeführt werden als durch die plötzliche, widerstandslose conversio derjenigen, auf deren Leistung sich die völkische Gemeinschaft der Araber begründete und denen man, da sie die Kunstsprache der Poesie ('arabīya) in Vollendung beherrschten, gewaltige magische Kräfte zurechnete.
Macht man sich diese aus Perspektive des christlichen Abendlandes überaus erstaunliche ästhethische Qualität und klangbasierte Wirkmacht des islamischen Offenbarungsmediums deutlich, tritt die Differenz zum Wesen der christlichen Offenbarung und zu ihren Basisbegründungen für Wahrheit und Wahrhaftigkeit erst so recht deutlich hervor. Und es stellt sich sehr schnell die für die christliche Verkündung sich nicht unmittelbar aufdrängende Frage nach ihrem Verhältnis zur poetisch-ästhetischen Rede und überhaupt nach dem Zusammenhang zwischen ihrem medialen und sakralen Status.
Pfeilzeichen sind im Alltag des postmodernen Menschen mindestens ebenso präsent, wie es die Pfeile im Leben unserer jagenden Vorfahren gewesen sein dürften. Sie übernehmen wichtige Funktionen bei der Orientierung im Raum, bei der Bedienung von Geräten und bei der Tradierung von Wissen. Pfeilzeichen finden sich draußen wie drinnen, in gedruckten wie in digitalen Medien, sie sind Bestandteile von Bildern, Texten und mathematischen Formeln und vermitteln in vielfältiger Weise zwischen Text, Bild und Zahl. Im Laufe der Zeit hat sich das Pfeilzeichen zu einer hochflexiblen Zeichenfamilie mit einem breiten Spektrum an Formen, Bedeutungen und Funktionen entwickelt. Diese "semiotische Karriere" des Pfeilzeichens möchten wir im folgenden Abschnitt an ausgewählten Beispielen aus Kunst, Literatur und Alltag nachzeichnen, um uns anschließend der erneuten Ausdifferenzierung des semiotischen Potenzials in den neuen Medien zuzuwenden. Die Pfeilzeichen dienen uns dabei als Beispiel, um drei Thesen über Prozesse semiotischen Wandels zu belegen: 1. Neue Zeichenfunktionen und -bedeutungen bilden sich stets auf der Basis bereits vorhandener Funktionen und Bedeutungen heraus. Dabei werden alte Bedeutungen in den seltensten Fällen ersetzt; vielmehr handelt es sich um Prozesse semiotischer Ausdifferenzierung, bei der "ältere" Funktionen und Bedeutungen mit verändertem Stellenwert erhalten bleiben. 2. Die Ausdifferenzierung erhöht die potenzielle Ambiguität von Zeichen und Zeichenkomplexen, sodass deren Interpretation den Zeichenbenutzern immer mehr abverlangt. Gerade am Beispiel der Pfeilzeichen lässt sich sehr gut zeigen, dass deren Funktion und Bedeutung in hohem Maße kontext- und mediengebunden ist und in neuen Medien oft neu erlernt werden muss. 3. Grundlegend für die semiotische Ausdifferenzierung des Pfeilzeichens ist der Stellenwert des Pfeils in einem komplexen Handlungsrahmen, auf den wir mit dem Ausdruck "Pfeil-Szenario" Bezug nehmen. Darin dient der Pfeil als Geschoss einer Waffe, z. B. eines Pfeil-Bogens, seltener auch einer Armbrust oder eines Blasrohrs. Der Pfeil ist ein Element der gesamten Waffe, die sich aus Pfeilspitze, Schaft, Federn (und Ritze) zusammensetzt.
Carlos Spoerhase wendet sich dem Verhältnis von Teil und Ganzheit im Denken der literarischen Form zu. Für die Imagination ganzheitlicher Werke - als Paradebeispiel dient Spoerhase die Shakespeare-Apologie der Romantik - sei nicht allein die Vollständigkeit der Teile und ihr ausgewogener Bezug zum Ganzen, sondern auch die Beziehung der Teile untereinander zentral. Zwar erfolgten literarische Ganzheitsvisionen immer wieder über Analogien mit dem Menschen, der Architektur oder biologischen Systemen. In der Regel garantiere aber ein "nichtsinnliches Prinzip, das im Innern des Werkes situiert wird", erst dessen "ganzheitliche Formstiftung". Anders als es etwa die Prominenz der stabilen Unterscheidung zwischen 'System' (als Musterbeispiel geschlossener und einheitlicher Ganzheit) und 'Aggregat' (im Sinne einer lockeren Anhäufung) in der Dichtungstheorie um 1800 suggeriere, würden literarische Werke zwangsläufig keineswegs mit "maximalen Einheitlichkeitszuschreibungen" versehen. An Goethes Poetik etwa lasse sich das Bemühen um eine "Gradierung von Ganzheit" ablesen. Ganzheit ist demnach weniger eine den Teilen vorangehende oder übergestülpte Totalität. Vielmehr sind es die unterschiedlichen und vielfältigen Verknüpfungsweisen der Teile, die über Art und Konzeption der Ganzheit literarischer Werke entscheiden.
Im elften Buch seines Adelsspiegels (1591) kommt Cyriacus Spangenberg der Wigalois des Wirnt von Grafenberg in den Sinn, weil darin etlicher Ritter von der Tafelrunde gedacht werde, insbesondere des Herren Gwy von Galois, "sonst Ritter Wiglois vom Rade genandt", und eines "Grauen Hoiers von Manßfeldt des roten". Das alte Buch, das einst Herzog Albrecht von Braunschweig in Auftrag gegeben hatte, habe er von einer adeligen Witwe erhalten, später aber an die Grafen von Mansfeld weitergegeben, die sich sehr für die Rolle ihres Vorfahren in diesem Roman interessiert gezeigt hätten.
Das Werk der österreichischen Autorin Brigitta Falkner beruht auf einem unerschöpflichen Prozess der Grenzüberschreitung und der Hybridisierung. Daraus folgt u. a. eine Erweiterung der Grenzen des Literarischen: Biologie, Mathematik, Physik und andere Wissenschaften werden überraschende Akteurinnen in der neuen 'Ordnung der Dinge', die Falkner in ihren Produktionen verwirklicht.
Wie Enzensberger […] verdeutlicht, eröffnen literarische Texte […] einen Raum, in dem unterschiedliche und kontroverse wissenschaftliche Theorien […] miteinander kollidieren, wodurch ihre Bedingtheit und Relativität erkennbar wird. Die modernistische […] Vorstellung, Literatur sei subversiv, stelle in Frage, was immer sich als absolute Wahrheit ausgebe, relativiere die Ordnungen des Wissens und insbesondere alle sich verbindlich gebenden Theorien über den Menschen und die natürliche Welt, hat an Aktualität nicht verloren. […] Philosophen und Literaturtheoretiker verschiedenster Denkrichtungen kommen […] darin überein, daß Literatur subversiv ist: Gegen falsche Sicherheiten und gegen die Illusion absoluter Wahrheit gerichtet, deutet sie auf die Vieldeutigkeit aller Dinge und die Vielzahl inkompatibler Betrachtungsperspektiven hin, indem sie selbst vieldeutige und multiple Welten erzeugt. In dieser Eigenschaft ist das literarische Schreiben durch keinen anderen Diskurs ersetzbar. Die ihr hier zugeschriebene subversive Rolle als Instanz kritischer Reflexion über Begriffe, Theoriebildungen und Wissenschaft kann die Literatur allerdings nur dann spielen, wenn sie in engem und dauerhaften Kontakt zu den Wissenschaften bleibt. Die Kritik an Wissensdiskursen setzt einen ständig zu aktualisierenden .Informationsstand voraus: über die jeweils dominanten wissenschaftlichen Paradigmen, Kernbegriffe und Moden, die Strategien wissenschaftlicher Konstruktion und Darstellung dessen, was ist.
Gegen meine Gewohnheit beginne ich mit einer Art von Vorbemerkung, wie ich sie sonst zu vemeiden suche: Ich muß zunächst sagen, was ich "nicht" leisten kann, was "nicht" von mir zu erwarten ist: Es wäre vemessen, wollte ich in einem kurzen Vortrag generell die Rolle nachzuzeichnen versuchen, die die NFG (also die Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten der klassischen deutschen Literatur in Weimar) in der Erbepflege der DDR spielen sollten und gespielt haben.[...] Es ist nicht meine Absicht, hierzu einen substantiellen Beitrag zu leisten. Was ich anbieten kann, sind einige unsystematische, bewußt subjektiv bestimmte Überlegungen, sind Gedanken und Erinnerungen eines Dabeigewesenen zum Thema "Gewinn und Verlust" dieser Epoche in der Archäologie unserer Stadt. [...] Jedem, der hier [in Ostdeutschland] vor und nach der Wende von 1989 gelebt hat und tätig war, ist selbstverständlich bewußt, daß es dabei Gewinn "und" Verlust zu registrieren gibt und daß beides vielfach in der gleichen Erscheinung zutage tritt. Das gilt natürlich auch im Falle der NFG, und es dürfte sich lohnen, hier einmal genauer und differenzierter über diese Bilanz nachzudenken. Ich bin weit davon entfernt, sofort den Saldo ziehen zu wollen. Als Vorarbeit dazu möchte ich lediglich den Blick auf einzelne Rechnungsposten legen, die mir besonders wichtig und interessant erscheinen. Ich erwarte dabei keine ungeteilte Zustimmung: für andere, ebenso Dabeigewesene wird sich in manchem Punkt ein anderes Bild ergeben. Ich nehme aber das Recht in Anspruch, die Maßstäbe zur Beurteilung aus den gegebenen Bedingungen des Lebens in der DDR zu nehmen.
Für eine Literatur, die sich im Interim von Territorien und kulturspezifischen Denkstilen bewegt, ist das verbindende Dazwischen von anthropologischen Themen wie Heimat, Geschlecht, Tod, Identität etc. ebenso von Bedeutung wie Reflexionen über ihre literarische Gestaltung. In dieser Hinsicht gehören die Romane der Schriftstellerin und Übersetzerin Esther Kinsky "Am Fluss" (2014) und "Hain: Geländeroman" (2018) sicherlich zu den aktuell sehr interessanten und facettenreichen Texten. Der River Lea wird in Esther Kinskys Roman "Am Fluss" zur Grenzmarkierung und zugleich zu einem Wegweiser für zahlreiche Erzähltraditionen. Gleiches gilt für die Kleinstadt Olevano, die die Ich-Erzählerin in "Hain: Geländeroman" bereist. Der Beitrag möchte der Frage nachgehen, worin in beiden Texten Anteile eines gestalteten sowie gestaltenden Schreibens im Zusammenhang von Migration als einem literarästhetischen Experimentierfeld zu suchen sind.
Schleppen und Schleifen
(2015)
Schleppen und Schleifen sind einander etymologisch verwandt. Seit dem 13. Jahrhundert soll die Ähnlichkeit von Schleppen und Schleifen bereits in der Deutschordensdichtung belegt sein; das Grimm'sche 'Wörterbuch' notiert, dass "die identität von schleppen und schleifen" um 1430 erkannt und erstmals in Wörterbüchern erfasst wurde. Nun sind Schleppen und Schleifen nicht nur Verben für den mehr oder weniger identischen Vorgang, etwas unter Mühe langsam, schwerfällig und mit großem Kraftaufwand am Boden entlang zu ziehen, sondern auch Pluralformen von Substantiven. Die Schleppe und die Schleife bezeichnen dabei geradezu das Gegenteil der verbalen Bedeutung: Anders als die Verben 'schleppen' und 'schleifen' sind sie nicht mit Mühe, Last und Erschöpfung konnotiert, sondern stehen vielmehr für Luxus und Verschwendung - für die unendliche Leichtigkeit des Seins.
Teilen Juden und Christen einen erheblichen Teil ihrer heiligen Texte, kommt das Abgrenzungsbedürfnis bei der Kommentierung dieser Texte umso stärker zum Tragen. Die rabbinische Bibelinterpretation der Spätantike scheint sich in der Methodik radikal von der christlichen Auslegungsweise zu unterscheiden. Neben inhaltlichen Unterschieden spielt dabei insbesondere die eigentümliche Methodik der rabbinischen Schriftauslegung eine Rolle, wie sie uns im Midrasch, der wichtigsten Gattung rabbinischer Bibelauslegung, begegnet. Obwohl es keine einheitlich christliche Auslegungsmethodik gibt, ist die Auslegung, die dem rabbinischen Midrasch für gewöhnlich gegenübergestellt wird, die Allegorie. Die aus der stoischen Interpretation Homers hervorgegangene Allegorese kommt als Methode der Bibelauslegung bereits in den Arbeiten des alexandrinischen Juden Philon zu ihrer ersten Blüte. Während die rabbinische Auslegungstradition allerdings Philon völlig unbeachtet lässt, wird er zum Vorbild der patristischen Bibelinterpretation.
Vorgänge der Kommunikation und solche der medialen Vermittlung sind an Prozessen von Marginalisierung oder auch Zentralisierung beteiligt. Die Neukonstruktion und Neukategorisierung des Raums wird daher an sprachlichen Zeugnissen (briefliche Selbstauskünfte, Lyrik, Publizistik) nachgezeichnet. Der Beitrag verfolgt die allmähliche kulturelle Entperipherisierung der pommerschen Insellandschaft und insbesondere Rügens, indem drei Phasen unterschieden und behandelt werden: 1. die mittelalterliche und frühneuzeitliche Abwertung oder Bewertung des Nordens unter dem Blickpunkt christlicher Mission und biblischer Ordnungsvorstellungen, 2. das Entstehen einer Kunstmythologie um 1800, die sich auf Shakespeare, Rousseau, Ossian sowie die germanisierte skandinavische Überlieferung berief und Pommern zur utopisch idyllischen wie zur unwirtlich-wilden, das heißt auch erhabenen Landschaft formte und 3. die Durchdringung Gesamtpommerns durch die Zentralitätsstruktur preußischer Institutionalisierungs- und Ordnungsprozesse nach 1815.
Die Beziehung von res und verba ist ihrem Grunde nach eine sprachphilosophische. Sie handelt von jenen Dingen, die überhaupt der Sprache zugänglich sind, bzw. von jenen Gegenständen, welche durch ihre Artikulation erst zu Dingen der Sprache werden. Der Fokus der Überlegungen konzentriert sich auf die Organisation des Verhältnisses von res und verba, für das über Jahrtausende hinweg in erster Linie die Rhetorik zuständig gewesen ist. Diesem liegen allerdings tatsächlich zwei sprachphilosophische Annahmen zugrunde, die von gegensätzlichen Voraussetzungen ausgehen.
In dieser Studie wird Ernst Jandls experimentelle Dichtung unter Einbeziehung seiner komplexen Sprachwelt und verschiedener Interpretationsansätze beschrieben. Um seine poetologischen Überlegungen und Schreibverfahren zu erfassen, werden einige zum Kanon gehörende Texte vorgeführt. Dabei wird von den selbstreferenziellen Positionen des Autors und den diversen Untersuchungen aus der Sekundärliteratur ausgegangen, die vordergründig die innovatorischen Qualitäten der Dichtungen hervorheben.
Der vorliegende Essay möchte die Verbindung von Philosophie und Religion näher ausführen und sie exemplifizieren anhand der Exegese der Bibel im 'Stern der Erlösung'. Hierfür sollen zunächst ein paar einleitende Worte zur Biographie Rosenzweigs angeführt werden, da bei diesem Denker, wie bei kaum einem zweiten der jüdischen Moderne, Leben und Werk eng aufeinander bezogen sind. Daran anschließend konzentriere ich mich auf den 'Stern', um herauszuarbeiten, wie Rosenzweig die Bibel benutzt, um gewisse für sein Denken zentrale philosophische Sachverhalte anhand von Bibelstellen zu erläutern.
Der folgende Beitrag will anhand der exemplarischen Lektüre zweier Aufsätze zeigen, was Lou Andreas-Salomés beschäftigte, wie und in welche Diskussionen sie sich einmischte und warum die Rezeption ihrer Texte schwierig ist; er will aber auch die Richtung andeuten, in der sich Fragen und Auseinandersetzungen Lou Andreas-Salomés bis in die Gegenwart fortgeschrieben haben. Am Beispiel der beiden beinahe zeitgleichen, thematisch so verschiedenen Texte "Grundformen der Kunst" (1898) und "Der Mensch als Weib" (1899) soll im folgenden Lou Andreas-Salomés Stimme, wie sie in der Polyphonie der Jahrhundertwende erklang, wieder zu Gehör gebracht werden. Daß die Aufsätze trotz ihres thematischen Unterschieds in denselben lebensbejahenden Versuch nach anthropologischer Selbstbestimmung münden, macht sie zu exemplarischen Texten für ihr Werk insgesamt.
"Übersetzt", "eingeleitet", "herausgegeben von Marie Herzfeld" - so oder ähnlich steht es auf zahlreichen Titelblättern der Jahrhundertwende. Was sich dahinter verbirgt, ist eine kleine Bibliothek literarischer und kulturhistorischer Texte aus verschiedenen Sprachen, welche die Schriftstellerin Marie Herzfeld (1855-1940) einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich gemacht hat; vornehmlich skandinavische Literatur und Texte der italienischen Renaissance. Wenn der Name Jacob Burckhardts für eine "große Erzählung" der Renaissance steht, so betreibt Herzfeld mit ihren "Quellentexten zur Geschichte der italienischen Kultur", zwischen 1910 und 1927 im Eugen Diederichs Verlag erschienen, eine Art kleine kulturgeschichtliche Archäologie. Sie präsentiert frühneuzeitliche Originale und bietet den Lesern einen unverstellten Blick auf deren Fremdheit; andererseits gibt sie Verständnishilfen, holt das Vergangene gleichsam zoomartig heran und "verlebendigt" es durch ihren Kommentar. Ihr Focus ist ein kulturwissenschaftlicher - auch im heutigen Sprachgebrauch. Die Spurensicherung dieser Imellektuellen ohne akademische Ausbildung im engeren Sinn und ohne institutionellen Status wirft die Frage auf, wie kulturwissenschaftliche Gegenstände von Positionen der Randständigkeit entstehen können. So gefragt, ist es weder naiv noch vermessen, Marie Herzfeld für die Anfänge der Kulturwissenschaften in den Dienst zu nehmen. Allerdings bleibt das Problem, mit einem Begriff hantieren zu müssen, der nicht nur unscharf ist, sondern auch oder gerade deswegen gegenwärtig beinahe inflationär gebraucht wird – ein Schicksal, das er mit dem der "Cultur" im "fin de siècle" teilt.
Trotz einiger vorliegender Arbeiten zu Hofmannsthals Kunstrezeption ist die Frage nach der spezifischen Art seiner Wahrnehmung von "Bildern" und deren Bedeutung für sein Werk noch weitgehend unbeantwortet. Hier setzen die folgenden Überlungungen ein. Hoffmannsthals Interesse an bildender Kunst zeigt sich schon zu Beginn seines literarischen Schaffens: in seinem Prosagedicht "Bilder" von 1891, den Ausstellungsbesprechungen und Rezensionen [...]; später dann in seinen Einleitungen zu Mappenwerken wie Ludwig von Hofmanns "Tänzen" (1905) oder den Handzeichnungen aus der Sammlung seines Rodauner Nachbarn Benno Geiger (1920). Auch in seine Versen zu "lebenden Bildern", in den lyrischen Dramen und den Libretti, sogar in einzelnen Gedichten ist eine besondere "ikonographische" Komponente erkennbar; sie gilt im besonderen Maße für die Balette, etwa den "Triumph der Zeit", was bislang noch kaum gesehen wurde. Schließlich spiegelt sich das vitale Interesse an Kunst in den Reiseaufsätzen, in Vorträgen, Briefen und Notizen. In vielen seiner persönlichen Beziehungen (von den deutschen Zeitgenossen insbesondere zu Harry Graf Kessler, Eberhard von Bodenhausen, Alfred Walter Heymel, Julius Meier-Graefe) ist die bildende Kunst ein wichtiges kommunikativ-verbindendes Element.
Judas Ischariot, hebr. יהודה אישׂ־קריות (Yəhûḏāh ʾΚ-qəriyyôt), der im Neuen Testament als einer der zwölf Nachfolger Jesu von Nazareth erscheint, die dieser persönlich als Apostel berief, ist in der europäischen Kultur- und Religionsgeschichte seit der Antike auf viele verschiedene Weisen betrachtet und dargestellt worden. Auf die vier kanonisch gewordenen Evangelien des Neuen Testaments und das apokryphe Judasevangelium folgen patristische Erklärungen und Präsentationen des Judas in der Malerei des Mittelalters und der frühen Neuzeit und schließlich eine Fülle literarischer, bildlicher und musikalischer Darstellungen in Moderne und Gegenwart.
Lesen wir diese Zeugnisse zusammen, erhebt sich uns aus der Vielzahl der Exegesen, Porträtierungen und Inszenierungen eine schillernde Gestalt, die in ihrer Widersprüchlichkeit faszinierender kaum sein kann: Der Jünger, der seinen Herrn um dreißig Silberlinge mit dem sprichwörtlich gewordenen 'Judaskuss' ausgeliefert und sich dann aus Reue über seine Tat erhängt haben soll, erscheint als stereotype Negativfigur, als Inkarnation des Bösen, als exemplarische Verkörperung des Verräters und wird zugleich in positivem oder zumindest weitaus günstigerem Licht präsentiert. Letztere Darstellungen füllen die Figur psychologisierend mit Leben, indem sie den Menschen mit Blick auf seine Tat transparent machen, ihm ein individuelles Gesicht geben und ihn individual- und sozialethisch zu rehabilitieren suchen. Sie deuten sein Handeln als notwendige Voraussetzung für die Erfüllung der Heilsgeschichte, exkulpieren es als Verzweiflungsakt eines enttäuschten Patrioten, der sich vom Messias Widerstand gegen die römischen Besatzer erwartet hatte, oder stilisieren es zur Heldentat. In jüngster Zeit wird Judas auch als der engste spirituelle Freund Jesu gehandelt. Seit 2006 mit erheblicher Medienpräsenz zu Ostern große Teile des aus dem Koptischen übersetzten Manuskripts des Judasevangeliums publiziert wurden, das bis vor kurzem als verschollen galt, konstruieren Literaten, Esoteriker und Verschwörungstheoretiker das Bild eines Vertrauten Jesu, den dieser in tiefste Geheimnisse eingeweiht habe: über Gott, die Schöpfung und darüber, wie geistliche Verwirklichung durch Hervorbringung des vollkommenen Menschen zu erreichen sei.
Das Spannungsverhältnis zwischen poetischer Einbildungskraft und positivistischer Wissenschaft, zwischen Imagination und Evidenz, wird wohl an keinem anderen literarischen Genre des 19. Jahrhunderts so augenfällig wie am historischen Roman. Schon in der Gattungsbezeichnung verbinden sich die Lizenzen der Fiktionalität, die der Roman gewährt, mit einem wie auch immer gearteten Anspruch auf historische Faktizität. Die unüberschaubare Menge der historischen Romane, die im 19. Jahrhundert entstand, spiegelt in den vielfältigen Sujets und Figuren nicht nur die Interessen- und Problemlagen ihrer Entstehungszeit wider, sondern liefert im Zeitalter des ästhetischen Historismus ganz unterschiedliche Beispiele von textuellen Verfahren, die das Verhältnis von Imagination und Evidenz sichtbar machen.
Die Rückseite einer Stickerei gilt gemeinhin nicht als vorzeigbar. Ungeachtet ihrer dreidimensionalen Textur ist die 'Nadelmalerei', wie man die Stickkunst schon in der Antike zu nennen pflegte, vielmehr ganz auf die Frontalseite ausgerichtet. In ihrer stark hierarchisierenden Fokussierung der zur Ansicht bestimmten kunstvollen 'Schau-' zuungunsten der meist ungestalten, dem Blick entzogenen 'Kehrseite' unterscheidet sie sich grundlegend von anderen Textilarten wie gefilzten oder gehäkelten Stoffen, deren Vorder- und Rückseite einander entweder gleichen oder aber symmetrisch sind. Anders als die konventionelle Leinwandmalerei wiederum ist die Stickerei konstitutiv mit ihrer Rückseite verbunden, insofern der stoffverzierende Faden "gleichzeitig zu seiner eigenen Befestigung auf der Unterlage dient."
Machen wir uns nichts vor. Auch wenn "Event" zum "PR-Wort der letzten Jahre" gekürt worden ist, wenn "Events auf die Besucher wie eine moderne Konsumdroge" wirken, wenn gar vom "Trend zum Event" gesprochen wird, von dem alle Bereiche der Gesellschaft längst so stark erfaßt sind, daß sich ihm nichts und niemand mehr entziehen kann – es bleibt dabei: Wann auch immer davon in Verbindung mit Kultur die Rede ist, da hat man es mit einem bösen Kampfbegriff zu tun. Mit "Eventisierung der Kultur" ist ihr steter Verfall gemeint. Und das Label "Eventkultur" gibt den Zustandsbegriff für eine Gesellschaft, die antrat, mit Kunst und Literatur die höchsten Höhen des Menschenmöglichen zu erreichen, und die nun ihr Bestes, Schönstes und Wahrstes bei einem Schaustellerwettbewerb auf dem Jahrmarkt verhökert. Event, das ist das "zur Sensation hoch inszenierte Nichtereignis, und die größte Kunst im Medienspiel ist das lauteste Krähen". Hier wird, so scheint es, "die Kunst zum bloßen Anlaß für den Konsum (...), zum Alibi", weil sie "in sonderbarer Perversion der alten Horazischen Ästhetik des 'utile cum dulci' und des 'prodesse et delectare', Zucker auf eine Sache streut, die sonst keinem mehr schmeckt." Und das passiert en masse: "Anschwellende Programmhefte, ausufernde Veranstaltungskalender, zunehmender Festivaltourismus, Boom der Multiplex-Kinos, Expo, Millenium Dome – was ist", so fragt sich da der kritische Betrachter mit Blick aufs Literarische, "was ist aus dem Erzählen geworden?" ...
Bereits ein kursorischer Überblick über die Publizistik der letzten zwei Jahrzehnte lässt keinen Zweifel aufkommen: Das öffentliche Interesse an der Religion wächst. Und so streitbar die gesellschaftliche Gesamtdiagnose einer 'Wiederkehr der Religion' auch sein mag, so offenkundig ist die Wiederentdeckung der Religion im wissenschaftlichen Diskurs, in dem zahlreiche Beiträge von Autoren wie Gianni Vattimo, Jacques Derrida, Jürgen Habermas, Richard Rorty, Charles Taylor oder Hilary Putnam beredtes Zeugnis vom jüngsten Aufstieg des Religiösen zu einem der prominentesten Themen theoretischer Debatten ablegen. Diese Konjunktur hat inzwischen auch die Literaturwissenschaft erreicht, in der Kult und Opfer, religiöse Sprache und sakrale Praktiken, Märtyrer, Heilige und Propheten wieder zu wichtigen Themen geworden sind, die nicht zuletzt durch die ihnen zugeschriebene 'Andersheit' gegenüber dem Normalbetrieb der Wissenschaft Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Damit rückt auch ein Gegenstand ins Zentrum des Interesses, der nun gar nicht fremd, neu oder anders ist, sondern eher als paradigmatischer Gegenstand literaturwissenschaftlicher Forschung erscheint: die Bibel, ihre Übersetzung, Rezeption, Kritik und ihr Gebrauch, ihre Stellung in der Textkultur der Gegenwart und Vergangenheit, ihre vielfältigen Beziehungen zu literarischen Texten. Offensichtlich handelt es sich um einen Phänomenbereich, der ins Zentrum literaturwissenschaftlicher Problemstellungen reicht, und zwar in historischer nicht weniger als in systematischer Hinsicht. Schließlich hat sich die Literatur in Europa unter ständigem Bezug auf und in kontinuierlicher Auseinandersetzung mit der Bibel als 'Buch der Bücher' und 'Heiliger Schrift' herausgebildet, hat diese als Vorbild und Orientierung, als Instrument zur Autorisierung des eigenen Geltungsanspruchs, als Buch gewordene Konkurrentin und als Vorläufermodell der Dichtung gleichermaßen in Gebrauch genommen. Und ohne Zahl sind die stofflichen, motivischen, thematischen, stilistischen und kompositorischen Referenzen literarischer Texte auf die Bibel, die dabei im selben Maße als kultureller Wissensspeicher wie als ästhetisches, religiöses und gesellschaftliches Reflexionsmedium sichtbar wird.
Der Beitrag widmet sich der Figurenanalyse als Bestandteil der Texterschließung im intersektional ausgerichteten Deutschunterricht und konzipiert ein konkretes methodisches Analyseverfahren, das intersektionale Fragestellungen bei der Figurenanalyse zu erarbeiten und darzustellen vermag. Über eine erste literaturdidaktische Fundierung der Figurenanalyse als Texterschließungsverfahren werden Anknüpfungspunkte zum Intersektionalitätsparadigma aufgezeigt Der Beitrag versteht sich als Vorschlag für eine mögliche kulturtheoretische Fundierung der Figurenanalyse durch das Intersektionalitätsparadigma, welches mit dem Kollektivansatz von Klaus P. Hansen und dessen Fortführung durch Jürgen Bolten zum fuzzy culture-Ansatz in Bezug gesetzt wird. Aus dieser theoretischen Verbindung wird ein konkretes Instrumentarium zur intersektional orientierten Figurenanalyse in literaturdidaktischen Settings entwickelt, das sich durch eine strukturierte visuelle Aufarbeitung intersektionaler Fragestellungen in Bezug auf literarische Figuren auszeichnet. Die folgenden Ausführungen bieten zunächst einen kurzen Überblick über die literarische Figur allgemein und ihre Merkmale sowie die Bedeutung der Figurenanalyse im Deutschunterricht, bevor letztere unter intersektionalen Gesichtspunkten beleuchtet und in ein konkretes Analyseinstrumentarium überführt wird. Dieses wird abschließend an Eleonora Hummels Roman "Die Fische von Berlin" beispielhaft erprobt.
Das im Norden Ägyptens an der Küste des Mittelmeers gelegene Alexandria gehört zu denjenigen Städten, deren Name auch literaturhistorisch einschlägig ist. Der von gegenwärtigen Besuchern meist als schäbig und heruntergekommen erlebten modernen Großstadt steht dabei das literarisch überhöhte Bild einer levantinisch-kosmopolitischen Gesellschaft gegenüber, die von Mitte des 19. bis Mitte des 20. Jahrhunderts in voller Blüte stand.
Einfach (.) raffiniert : Friedrich Achleitners 'einschlafgeschichten' und 'und oder oder und'
(2019)
In Friedrich Achleitners Miniaturen 'einschlafgeschichten' (2003) und 'und oder oder und' (2006) schlägt sich das Multitalent eines Analytikers, eines genauen Beobachters und eines (neo-)avantgardistischen Künstlers nieder. Die Überschneidungen zwischen dem Beruf eines Architekturtheoretikers und der Rolle des Autors prägen auch die thematische und strukturelle Ebene der Texte. Im Einklang mit der Poetik der Wiener Gruppe ist das Grundelement im Baukasten der Sprache nicht die Metapher, sondern das Wort. Das stark reduzierte Textformat sowie die Ausweitung des Sprachexperimentes auf alle Sprachebenen und deren gezielte Vermischung lassen allerdings den konstruktivistischen Eifer und Ernst der Konkreten Poesie hinter sich.
Mein Beitrag geht dem russischen Interesse an Vitalität und Transformation im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts nach. Dabei rücken insbesondere kulturspezifische Unterschiede zu vergleichbaren Phantasmen und Phänomenen in Westeuropa ins Blickfeld, die sich aus der Berücksichtigung der ostkirchlichen Tradition, insbesondere der orthodoxen Anthropologie, ergeben. Das Auferweckungsparadigma der russischen Moderne zeichnete sich zum einen durch seine Doppelreferenz auf Religion und Wissenschaft aus und manifestierte sich zum anderen durch die Synthese von Glauben und Technik, Kunst und Leben. Wie es zunehmend den russischen und sowjetischen Alltag durchdrang, wird anhand folgender Faktoren nachvollzogen: der Begründung der genuin russischen religionsphilosophischen Strömung des "Kosmismus", der aufkommenden performanzorientierten Konzepte des Lebendigen in Sprach- und Literaturtheorie und schließlich der Versuchsanordnungen zur Vitalisierung und Immortalisierung in Wissenschaft, kultureller Praxis und Literatur.
In genauer Umkehrung des Programms der rhetorischen Kalkulierbarkeit expressiver Gesten einerseits, des Topos ihrer Ursprünglichkeit und Inkommensurabilität andererseits, werden die Bewegungen des Körpers wie die Affekte der Seele nun also als experimentell generierte Reaktionen begriffen. Die Gebärden des Körpers sind unter diesen Prämissen zwar immer noch Ausdruck eines inneren Zustands, dieser Zustand selbst aber ist dem Eindruck gezielt induzierter äußerer Reize geschuldet. Natur und Rhetorik des Körpers werden somit gleichermaßen unter die Ägide experimenteller Kalküle und Steuerungstechniken gestellt.
Wie ich im Folgenden an ausgewählten Beispielen zeigen möchte, ist dieser 'dritte Weg', den die experimentellen Wissenschaften vom Menschen zwischen die rhetorische und die empfindsame Semantik von 'Ausdruck' gebahnt haben, äußerst folgenreich gewesen: Obwohl das System der Rhetorik ebenso wie die Annahme natürlicher Empfindungen im kulturellen Gedächtnis der Moderne beide fest verankert bleiben, werden sie im Feld der Anthropologie im Zuge der Experimentalisierung der Wissenschaften vom Leben zunehmend marginalisiert. Dies allerdings nicht in dem Sinne, dass die Lebenswissenschaften sich schlicht an die Stelle vormals kulturalistisch argumentierender Paradigmen gesetzt hätten. Vielmehr legt gerade ein Prozess wie derjenige der Umcodierung expressiver Gesten zu mechanischen Reflexen die Notwendigkeit offen, Fragen der Wissenschafts- und Kulturgeschichte im Rahmen einer integralen Perspektive zu betrachten. In diesem Sinne ist auch die Geschichte des experimentellen Blicks auf Ausdrucksfiguren, um eine kulturelle Dimension zu erweitern – und das nicht nur hinsichtlich der allgemeinen Begleitumstände experimenteller Forschung wie z. B. der Materialität der Labore, der sozialen Interaktion der Forscher oder der diskursiven und nicht selten imaginären Entwürfe von Wissen.8 Vielmehr kann anhand der Geschichte der experimentellen Wissenschaften vom menschlichen Ausdruck eine ganz spezifische Dynamik der kulturellen Prägung von Wissen nachgewiesen werden: Die Experimentalisierung von Figuren des Ausdrucks führt nicht nur zur Verdrängung rhetorischer und empfindsamer Modelle, sondern wird von einem Diskurs mitgeschrieben, der von beiden Modellen bis weit ins 19. Jahrhundert hinein geprägt wird, und sei es im Modus der kritischen Reflexion: vom Diskurs der Literatur, der in dieser Hinsicht als konstitutiver Bestandteil einer Geschichte des Wissens zu betrachten ist.
Das literarische Internet lässt sich auch als ein Raum des experimentellen Storytelling bezeichnen. Die Verlinktheit der digitalen Welt und ihre Möglichkeiten sowie Gefahren wurden zur Inspiration oder zum Thema von Experimenten, die untersuchten, welche Geschichten, Stories dadurch entstehen und wie sie digital erzählt werden können, beziehungsweise wie die RezipientInnen an dem Erzählen auch teilnehmen können.
Die deutsche Romantik ist eine Zeit des Aufbruchs, der kühnen und spielerischen Anfangsexperimente; aber sie ist auch eine Zeit der Krise. Zwar herrscht sowohl in der literaturwissenschaftlichen Forschung wie in den weiter gespannten Versuchen einer kulturellen Diagnostik Einverständnis darüber, daß "Modernen" sich in wiederholten Schüben ereignet haben [...] und daß jede dieser neu erscheinenden Modernen an den Errungenschaften der vorangehenden partizipiert. Doch könnte man behaupten, daß die Krise, die sich in der deutschen Romantik abzeichnet, zu den
differenziertesten gehört, und daß sie in den Umbrüchen, die aus ihr resultierten, alle Felder des Wissens, des Imaginierens und des Darstellens nachhaltig affizierte und transformierte.
Es besteht ein weitgehender Konsens darüber, dass die Literatur an der Herausbildung des kulturellen Gedächtnisses entscheidend mitwirkt. Dies gilt nicht nur in archaischen Zeiten, in denen die 'res gestae' dem Gedächtnis künftiger Generationen anvertraut werden, sondern es gilt auch für die Moderne, in der literarische Texte Teil eines Traditionszusammenhangs sind, mittels dessen eine Gesellschaft sich selbst eine kulturelle Identität zuschreibt. Insbesondere jene Elemente gesellschaftlicher Interaktion, die normativen Erwartungen ausgesetzt sind [...], werden Gegenstand bewahrenswerter Kommunikation und können dadurch als aktualisierbarer Sinn (bzw. Semantik im Luhmann'schen Verständnis) jederzeit verwendet werden. Eine so verstandene Konzeption des kulturellen Gedächtnisses beruht auf dem Gedanken der Kontinuität. Im Extremfall wird solche Kontinuität durch Rituale oder durch die Religion über Jahrhunderte hinweg aufrechterhalten bzw. es wird suggeriert, dass es eine solche Kontinuität gebe. Diese Kontinuität überschreitet auch den Tod des Einzelnen.
Was aber geschieht, wenn aufgrund einer Katastrophe eine ganze Gesellschaft vernichtet wird?
Die in der Forschung bislang übersehene eigenständige Rezeption der urbanen in Paris entstandenen Persiflage durch die Frühromantiker*innen bietet eine Möglichkeit, die duale Konstellation zwischen Büchner und der Romantik um eine dritte komparatistische Perspektive zu erweitern. Es wird im Folgenden also nicht das allgemeine Phänomen der Verwendung von satirischen Mitteln in der Romantik und in Büchners Werk diskutiert, sondern eine spezifischer ausgelegte dreigliedrige Fragestellung: Der Nachweis der Attraktivität der französischen Persiflage als moderne Form boshafter Satire in der Frühromantik wird ergänzt durch die Analyse der Romantisierung der Persiflage. Erst danach kann das virtuose ausdifferenzierte Widerspiel von Persiflage und Karnevaleske in Büchners Werk vorgestellt und analysiert werden.
Fast die gesamte außerdeutsche Germanistik hat sich schwer getan mit der binnengermanistischen Differenzierung: 'Klassik und Romantik'. [...] An zwei ästhetischen Figurationen lässt sich exemplarisch und skizzenhaftzeigen, wie aus einem Nebenkriegsschauplatz im Klassizismus, der Arabeske, ein Hauptaktionsfeld der Romantik wird und wie aus einem zentralen ästhetischen Konzept des Klassizismus, dem fruchtbaren Augenblick, Nebeneffekte in der Romantik werden.
Die Geschichte des ästhetisch Wunderbaren läßt sich in drei Schritten oder Phasen nachzeichnen: vom Wunder zum Wunderbaren und vom Wunderbaren zum Phantastischen. Das Phantastische ist die höchste Emanzipationsstufe, wo das freie Spiel der Einbildungskraft in seiner autonomen, auf sich selbst gestellten Gesetzlichkeit das Reale, Vertraute unserer gewöhnlichen Welt in Frage stellt. Diese Entwicklung vom Wunder zum Wunderbaren und vom Wunderbaren zum Phantastischen wird von Jacob Grimm jäh unterbrochen. [...] Jacob Grimm leitet eine Denkbewegung ein, die ich die Rettung des Wunderbaren aus der Zerstörung durch das Phantastische nennen möchte. Dieser Rettungsversuch kann und will nicht mehr zur Rehabilitierung des theologischen Wunders zurückführen. Statt dessen zielt er auf das "Unvordenkliche" der eigenen Herkunft, das auf den Glauben an das eigene Volk gründet.
Andenken
(2009)
Wilhelm von Humboldt leistet zweierlei: I. Er überträgt die Grundfigur des Klassizismus, das Eigene am Fremden zu verstehen, vom Altertum auf die modernen europäischen Nationen mit Hilfe seines Konzepts einer vergleichenden Anthropologie. 2. Er stellt die anthropologisch und geschichtsdiagnostisch zugleich intressierte Frage nach dem Potential, den Voraussetzungen, Bedingungen und Grenzen einer Nation, sich Fremdes aufzuschließen und anzuverwandeln. Damit gelang ihm gegenüber der dem Nationalgeist huldigenden Romantik zwar kein breitenwirksamer, aber ein für die deutsche Klassik richtungweisender Beitrag zur kulturellen Identitätsfindung. Er sollte bis in Goethes Weltliteraturvorstellung fortwirken.
Die meisten Maler und Zeichner der Romantik haben von den in dem erzählten Märchen wachgerufenen Innenbildern berichtet und von ihnen bei ihrer Arbeit profitiert. [...] Bekanntlich rehabilitieren die romantischen Künstler nicht nur die erzählenden volkstümlichen Gattungen, die Legende, das Märchen, die Anekdote und das Volksbuch, sondern auch die volkstümlichen Formen der bildenden Kunst: die Scherenschnitte, die Silhouetten,
die Schattenrisse etc. [...]
Die Zuspitzung der Problemkonstellation Virtuosentum versus Kunst im
Vormärz läßt sich plausibilisieren an Balzacs Roman "Les Illusions perdues". Hier wird nämlich die kunstkritische Kontroverse um Virtuosentum und Künstlertum und gleichzeitig das produktionsästhetische, narratologische Problem Feuilletonismus und Kunst zusammen- und enggeführt.
Jugend sei eine "Erfindung" des 18. Jahrhunderts - wurde in der Forschung behauptet. Diese These bestreitet nicht, daß auch schon früher 'Jugend' als Altersstufe bekannt und anerkannt war. Mit rhetorischer Selbstverständlichkeit wurden seit Aristoteles gewisse anthropologische Grundmuster von Jugendlichkeit, z.B. Unbekümmertheit, Unbeständigkeit, Draufgängertum, Übertreibung, Zukunftsorientierung, Schamhaftigkeit und Freundschaftsfähigkeit unterstellt, repetiert und zitiert. Die forcierte These, das Konzept Jugend sei erst im 18. Jahrhundert entstanden, akzentuiert, daß Jugend als selbständige Lebensform ein Kennzeichen der Moderne ist.
Diderots "Le neveu de Rameau" gilt heute als einer der explosivsten Texte des 18. Jahrhunderts. Mitten im Spätabsolutismus und mitten im Herz der Aufklärung war ein Text in Manier des radikalen Zynismus eines Diogenes entstanden. Der zynische Protest hatte sich einst in der griechischen Antike gegen die Polis, eine substantialistische Philosophie und den universalistischen Anspruch eines Staates gerichtet. Nun, inmitten der modernen Widrigkeiten und Widerstände der großen Stadt Paris und ihren kulturellen "Verkehrsformen", kämpft Rameaus Neffe als "bedürftiger Mensch" um soziale Anerkennung. Es ist eine zynisch-animalische Selbstbehauptung nach der Art des Diogenes mit allen Schrecken und aller Willkür von Selbst- und Gesellschaftsentblößungen.
Ausgegangen wird von einer Kontinuität struktureller Vorgaben durch die Frühromantik mit erkennbaren Umakzentuierungen Mitte der zwanziger Jahre des 19. Jahrhunderts, die im Vormärz experimentell erprobt werden. Die neuere Vormärzforschung tendiert dazu, in Abgrenzung zum späteren poetischen Realismus die Literatur, d.h. keineswegs nur die politisch progressive, durch ihre kühnen literarischen, die Innovationen der Wissenchaften aufgreifenden Experimente zu charakterisieren. Aus dem Gesichtswinkel literarischer Experimmtierfreudigkeit, die Herausforderungen der Modet+rnisierung und Temporalisierung annimmt und zugleich bestreitet, wird eine paradoxale poetologische Grundfigur erkennbar, die für Romantik und Vormärz gleichermaßen gilt, nämlich: sich in den Krisenbrennpunkt der eigenen Zeit hineinzuschreiben, um sich zugleich in ästhetische Distanz zu begeben. Die Ausfaltung dieser paradoxalen poetologischen Grundfigur in Romantik und Vormärz sei in vier Durchgängen problematisiert:
1. Strukturelle Vorgabe: "Führungswechsel der Zeiten"
2 Archivierung und Aktualisierung 'doppelbödiger' Schreibweisen
im Spannungsverhältnis von Poesie und Publizistik
3. Wechselverwiesenheit: Vormärz in der Romantik und Romantik
im Vormärz
4. Die Austreibung des Romantischen im Vormärz
5. Reflexive Gegenwart als zentrale Bezugszeit. Akzentverlagerung von der Romantik zum Vormärz
Jüngst wurde die These vertreten, was in den 60er und 70er Jahren der Begriff der Entfremdung und Utopie bedeutet habe, sei heute der der Erinnerung und des Gedächtnisses. Mit dem Rückgang einer ausschließlich futuristisch ausgerichteten Utopieforschung und einer die Vergangenheit häufig instrumentalisierenden Rezeptions-und Erbeforschung hat sich im Gegenzug Erinnerung als ein Schlüsselbegriff der Kulturwissenschaften etablieren können. In drei Kürzeln lässt sich diese Konjunktur skizzenhaft plausibilisieren. Erinnerung ist erstens theoriefähig und empirisch, zweitens aktuell und tief in die Geschichte oder die Geschichten zurückreichend und drittens interdisziplinärfähig und die einzelnen Disziplinen neben den Literaturwissenschaften die Soziologie, Philosophie, Kunstgeschichte herausfordernd. Erinnerung avancierte zum Faszinationstyp, weil sie - um auch hier wiederum die Dreizahl beizubehalten - in drei Arbeitsfeldern besondere Schwerpunkte zu setzen erlaubt: ersten im Bereich komplexer Modalisierung von Zeiten, zweitens im Bereich der Kulturalität und drittens in der Komparatistik länderspezifischer Erinnerungsmodi.
Öffentlichkeit bedarf, um zu gedeihen, einerseits bestimmter staatlicher und rechtlich abgesicherter Außenbedingungen [...] anderereits bestimmter kommunikativer und urbaner Binnenbedingungen. Öffentlichkeit ist und wird aber auch geprägt von bestimmten Erfahrungs- und Wahrnehmungsformen. Eine Gelehrtenöffentlichkeit kann z.B. lokalitätsüberschreitend durch Schrift [...] und vor Ort in bestimmten Formen der Oralität, etwa der Vorlesung oder Disputation, stattfinden. Unter diesem Gesichtspunkt ist die Physiognomie der Öffentlichkeit in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts nicht mehr dominant von einer exzessiven Lese- und Schreibsucht geprägt wie noch im 18. Jahrhundert, sondern von einem unersättlichen Bilderhunger. Geht man auf die Suche nach den eigentümlichen Konstitutionsbedingungen literarischer Öffentlichkeit in der Epoche der Spätromantik und des Vormärz, so darf man nicht bei der Literatur stehen bleiben, sondern muß von der Interferenz von Literatur und Bild (wie in anderer und paralleler Weise von Literatur und Lied) ausgehen.
Ich will versuchen, an einem Spezialfall der Ornamentästhetik zu zeigen, wie die Arabeske, damals auch Arabeskgroteske genannt, aufgrund ihrer traditionellen Disposition zu einem der bedeutendsten Grenzgänger innerhalb der klassizistischen Ästhetik wird: Sie ist hervorragend geeignet zum autonomen Spiel. Daher avanciert sie auf der einen Seite zum Favorit klassizistischer Ornamentästhetik, gefährdet aber auf der anderen Seite durch die ihr eigene, unbändige Einbildungskraft beständig den Ordnungsgedanken des Klassizismus. Die Arabeske als Grenze einer Grenzziehungskunst scheint mir geeignet, die Spielregeln klassizistischer Ästhetik und die Notwendigkeit oder wenigstens Möglichkeit des Übertritts zur Romantik plausibel zu machen.
Die Polemik lebt aus der Spannung extremer Gegensätze: von Affekt und Besonnenheit, von Argument und Bluff, von Logik und Paralogismen, von Dokument und Metapher, von akribischer Kriminalistik und wilder Spekulation, von rigorosem ethischem Prinzip und brutalem Vernichtungswillen, von kalkulierter Wirkungsstrategie und dem Spiel mit dem Zufall. Diese Spannungen sind in der Polemik so organisiert, daß sie die Sprache bis an die Grenze ihrer Verbalität, ja über sie hinaus zu treiben versuchen. Das Wort soll, was es nicht kann, nicht mittelbar, sondern unmittelbar Tat werden. Diese polemische Grenzüberschreitungssucht ihres Mediums der rational argumentierenden Sprache macht die Brisanz, das Interesse, aber auch die fortdauernde Distanzierung von der Polemik, zumal in der Aufklärung, verständlich. Im folgenden sollen einige Stationen der Verdächtigung und Legitimierung der Gattung Polemik von der Aufklärung bis zum Vormärz nachgezeichnet werden, wobei - unumgänglich - das Verhältnis der Polemik zur entstehenden Kritik in Aufklärung und Romantik ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückt.
Die Romantiker lieben es, programmatisch aufzutreten. Daher ist es bemerkenswert, dass in ihren Manifesten die Nennung und Konzeptualisierung von Ironie, Arabeske, Humor, Phantastik und Groteske dominiert. Die Erwähnung der Satire hingegen findet sich selten, sie bleibt randständig. Und doch ist auffällig, dass zum Beispiel in den nicht zur Veröffentlichung bestimmten poetologischen Notizen Friedrich Schlegels die Satire nicht nur gleichwertig mit Ironie, Burleske, Parodie, Groteske behandelt, sondern zugleich um ihren literaturtheoretischen systematischen Ort und ihre literaturpolitische Stellung geradezu gerungen wird.
Achim von Arnim hat bei der Bearbeitung seiner Erzählung "Der tolle Invalide auf dem Fort Ratonneau" zwei Quellen benutzt und umgeschrieben. Das Entscheidende dabei ist, daß die eine Quelle französischer Provenienz ist und aus der Zeit vor der Revolution stammt, die zweite hingegen eine deutsche Fassung aus der nachrevolutionären Zeit darstellt. Bislang wurden im Blick auf die Umschrift Arnims nur motivliche Übernahmen und adaptierte "sprachliche Eigenheiten" festgestellt. Unberücksichtigt blieb, daß beide Vorlagen Arnims eine je eigene narrative Struktur und poetische Form besitzen.
In Ian McEwans Roman "Machines Like Me" (2019) wird das aus gegenwärtiger Sicht zukünftige Szenario des Zusammenlebens eines Menschen mit einem Androiden in das London der 1980er-Jahre verlegt. Im Beitrag stelle ich dar, wie der Eingriff in die zeitliche Abfolge von Ereignissen eine kritische Hinterfragung aktueller Werte und Moralvorstellungen sowie der menschlichen Interaktion mit dem Anderen ermöglicht. Dabei zeige ich mit Rückgriff auf Michel Foucault und Donna Haraway, wie die vom Menschen etablierten Machtgefüge aufgebrochen werden müssen, um gleichberechtigte Beziehungen zwischen allen Lebewesen zu schaffen und ein Weiterleben auf der Erde zu ermöglichen. Zugleich wird in "Machines Like Me" die Rolle und Bedeutung von Literatur in einer von Künstlicher Intelligenz geprägten Welt hinterfragt. Diesbezüglich gehe ich im Beitrag auf die Zukunftsvisionen des Androiden ein und stelle die Frage, ob die Notwendigkeit von Literatur in einer Welt wie der im Roman portraitierten nicht doch bestehen bleibt.
Der Beitrag beschäftigt sich im Umriss mit den wenig bekannten Hörspiel-Partituren Ferdinand Kriwets. Damit soll skizzenhaft ein spezifischer Einblick in die eigenartige radiophone Werkstatt des Autors geboten werden, dies mithilfe der bisher nirgendwo veröffentlichten Partiturausschnitte. Das experimentelle Hörspiel sowie auch die Fragen nach dessen Notation gehören im Bereich des literarischen Diskurses, und zwar keineswegs zu Recht, zu den wenig beachteten Forschungsfeldern, zur eigentlichen Peripherie.
Dinge, die warten
(2018)
Das Wort 'warten' gehört zu den Verben, die wir ohne Probleme allem anhängen können. Die Menschen können nicht nur den Menschen, sondern auch den Dingen jederzeit ein Warten unterschieben und allem, was dazwischen ist, sowieso. Die Raubtiere warten darauf, gefüttert zu werden; die berühmte Zecke wartet, bis etwas vorbeikommt; die Pflanzen warten auf den Regen. Vor dem Gewitter scheint die Natur auf etwas zu warten. All das sagt sich so: Diese Worte warten darauf, ausgesprochen zu werden. Hier geht es nicht bloß um die Banalität, dass wir den Dingen mit unseren Worten unablässig Tätigkeiten anhängen, die ihnen im wörtlichen Sinne nicht zukommen. Der Versuch, eine Grenze zu ziehen zwischen einer eigentlichen und einer uneigentlichen - also metaphorischen - Verwendung des Wortes warten, würde das Problem lediglich zudecken.
Das "Prager Wintermärchen" als literarisches Motiv "Böhmen liegt am Meer" (Shakespeare, 1611, Das Wintermärchen) entstand vor etwa fünfzig Jahren neu. Ingeborg Bachmann schuf ein bedeutsames Gedicht während einer Reise durch Prag. Gleichzeitig erlebte Volker Braun 1968 ein "Böhmen im Meer von Blut". Eine aktuelle Biografie zu I. Bachmann von Ina Hartwig zwingt zum neuerlichen Umgang mit dem literarischen Motiv.
Was einen "Edlen Verbrecher" ausmache, aus welchen habituellen oder biografischen Attributen er sich charakteristischerweise zusammensetze und welche Funktionen ihm als Sozialtyp, Männlichkeitskonzept und Heros der Literatur und des Dramas, des Marionettentheaters und des Volkslieds zukommen können, fesselte die Kulturgeschichtsschreibung bereits Mitte des 19. Jahrhunderts. [...] An Typologien des Edlen Verbrechers als eines politik-, sozial- und psychohistorisch ausdeutbaren Fluchtpunkts kollektiver Phantasien mangelt es nicht. Sieht man genauer hin: nicht auf den ewiggleichen Typ, sondern auf dessen Modifizierung, Perspektivierung und Modellierung, kurzum: auf dessen Diskursivierung, bietet der edle Delinquent nichts weniger als eine einheitliche Moral oder Psychologie, sei sie nun idealisierend, kriminalisierend oder, wie im populären Marionettentheater üblich, komisierend. So spricht vieles dafür, dass die literarischen Gattungen und nicht-literarischen Textsorten - also all die Protokolle und "Aktenmäßigen Geschichten", Anekdoten und Lieder, Novellen und Romane, Laientheater- und Marionettentheaterstücke - die Typenbildung ganz unterschiedlich prägten beziehungsweise voneinander abweichende Typen mit differenten Biographien hervorbrachten. Womöglich bewohnt der historisch-anekdotische, der epische, lyrische und theatrale Schinderhannes im 19. Jahrhundert gar nicht jenes eine Haus des Edlen Verbrechers, das ihm die Geistes- und Kulturwissenschaften gebaut und zugewiesen haben? Und womöglich ist er weder als Figur noch überhaupt als Typus, sondern bloß als Name anzusehen, dem wechselnde Diskurse kriminalistischer, pädagogischer, moralischer, künstlerischer Ausrichtung wechselnde Bedeutungen, Funktionen und Plätze im kollektiven Gedächtnis wechselnder Gruppen gaben? [...] In der Folge soll die im 19. Jahrhundert von Anekdotik, Lied und (Marionetten-)Theater konstruierte fiktive Kollektivbiographie des Schinderhannes Johannes Bückler textsortenspezifisch re-vidiert und in eine Soziobiographie aus Dichtung und Wahrheit übergeführt werden.
Walter Benjamin spricht von 'wolkigen Stellen' in Kafkas Texten, die - stark vereinfacht gesagt - die Abkehr von 'unserer' bekannten, sinnlichen erfassbaren Welt und den Übergang in eine (wieder nach Benjamin) 'obrige' anzeigen. Diese 'wolkigen Stellen', an denen oft Kafkas 'Verwandlungen' stattfinden, sind sprachlich markiert: Hier endet der nach Kafka 'vergleichsweise' Gebrauch der Sprache, die ,empirische‘ Ebene wird verlassen und eine 'parabolische' (nach Fülleborn) erreicht.
Weimar ist als Geburtsstätte der Klassik ein zentraler Ort unseres kulturellen Erbes. Goethe, Schiller, Herder und Wieland sind Namen, die der Stadt in der Provinz bis heute weltweite Beachtung sichern. Wie aber kam es dazu, dass Weimar zu dieser Metropole der deutschen Geistesgeschichte wurde? Welchen Anteil hatte im späten 18. Jahrhundert die Politik der Herzogin Anna Amalia und ihres Sohnes Herzog Carl August an der einzigartigen kulturellen Blüte, die sich um 1800 in ihrem Fürstentum entfaltete? Aus Anlass des 200. Todestages Anna Amalias und des 250. Geburtstages Carl Augusts gibt die Ausstellung »Ereignis Weimar – Anna Amalia, Carl August und das Entstehen der Klassik 1757–1807« Antworten auf diese Fragen. Sie wurde von der Klassik Stiftung Weimar in Zusammenarbeit mit dem Sonderforschungsbereich »Ereignis Weimar-Jena. Kultur um 1800« der Friedrich Schiller-Universität Jena konzipiert. Vor dem Hintergrund der Biographien beider Herrscherpersönlichkeiten beleuchtet die Ausstellung die Traditionen der Häuser Sachsen und Braunschweig, veranschaulicht die prekäre politische und wirtschaftliche Lage zur Zeit des Regierungsübergangs von Anna Amalia auf ihren Sohn Carl August und thematisiert die Versuche der Regierung, mit vielfältigen Reformen der drängenden Probleme Herr zu werden. Nach anfangs erfolglosem Engagement auf wirtschafts- und machtpolitischem Gebiet stellte sich Erfolg und Fortune in der Kulturpolitik ein. An die Stelle eines zunächst dilettantisch gepflegten »Genietreibens« trat eine zunehmend professionelle Lenkung von Wissenschaft und Kunst, die zu einer einzigartigen Konzentration geistig-kulturellen Kapitals in Sachsen-Weimar führte. Dieses »Ereignis Weimar« brachte dem kleinen Herzogtum seine Reputation als geistiges Zentrum Deutschlands ein. Am Ende rettete diese einzigartige Position das Fürstentum auch über die Fährnisse der napoleonischen Zeit hinweg. Zitiert nach: Gustav Seibt, Süddeutsche Zeitung vom 02. April 2007
Das zunächst wissenschaftlich geprägte Interesse an mündlicher Dichtung verlagerte sich rasch in Richtung auf eine Popularisierung von Volksdichtung. [...] Eine zentrale Figur bei dieser Popularisierung war der Übersetzer und umtriebige Journalist Vsevolod I. Kuznecov, dessen Übersetzungen eines bis dahin unbekannten kasachischen Sängers namens Maibet auf großes Interesse stießen. [...] Da jedoch Maibet trotz intensiver Bemühungen unauffindbar war, einigte sich das Festkomitee darauf, statt Maibet den lokal bekannten, 80-jährigen, des Russischen nicht mächtigen und schriftunkundigen Džambul Džabaev in die kasachische Delegation aufzunehmen, damit er ein Poem zu Ehren Stalins dichtete [...]. Bei der mysteriösen Unauffindbarkeit Maibets, der Džambul Džabaev letztlich seine Entdeckung und seinen Aufstieg in das Pantheon sowjetischer Kulturheroen verdankt, handelt es sich um eine Mystifikation des Übersetzers Kuznecov, der unter dem Namen Maibet Übersetzungen von nicht existenten Originalen fingiert hatte. [...] Bei all ihrer Kuriosität wirft diese Mystifikation aber auch ein Licht auf das von Kuznecov und anderen betriebene Übersetzungsmetier. Sie stellt in gewisser Weise eine radikale Konsequenz dar, aus einer an den Maßgaben der sowjetischen Massenkultur sich ausrichtenden Übersetzungsarbeit. Diese orientiert sich keineswegs am philologischen Ideal der semantischen Treue zum Original, sondern besteht in einer schöpferischen Hervorbringung von Texten, die durch eine in Rohübersetzung vorliegende fremde Rede des Originals angeregt wird, ohne dass dabei der schöpferische Übersetzer der Sprache des Originals kundig ist. [...] Auf einem solchen "intuitiven" und "künstlerischen" Übersetzungskonzept beruhen die Džambul zugeschriebenen Texte. Dass diese mit den vermeintlichen Originalen kaum etwas zu tun haben, war von Anfang an ein offenes Geheimnis, aber gleichwohl ein strikt gehütetes Tabu. [...] Diese Eigentümlichkeit der Übersetzung der Džambul zugeschriebenen Texte, soll im Weiteren im Fokus der Aufmerksamkeit stehen. Jurij Murašov zeigt, wie in der "künstlerischen" und "intuitiven" Übersetzungsarbeit, die im Namen des Volkssängers Džambul Džabaev Kuznecov und andere Übersetzer und Schriftsteller betreiben, Texte entstehen, die eine spezifische, für die sowjetische Kultur grundlegende mediale Poetik (re-) produziert und die dann über die Zuschreibung auf die empirische Figur des Džambul Džabaevs massenmedial popularisiert werden kann. Es ist eben diese Poetik, durch die nicht nur der Volkssänger Džambul seinen eigenen Platz im Pantheon der sowjetischen Kulturheroen behauptet, sondern die letztlich den medialen Mechanismus ausmacht, über den sich die Kultur des Sowjetischen als Ganzes begründet.
Die im Band behandelten 'Experimentierräume in der österreichischen Literatur' reichen wie das literarische Experiment als Programmatik bis in die Romantik zurück. Insbesondere in Österreich steht seit Wittgenstein und seiner intensiven Rezeption in der Moderne und dann wieder nach 1945 vor allem die Sprache als Material literarischen Experimentierens im Vordergrund. Die Übertragung des naturwissenschaftlichen Versuchs auf die literarische Produktionsweise wurde in diesem Sinne eingehend diskutiert und auch im speziell österreichischen Kontext reflektiert. In diesem Band soll der Begriff des Experimentellen jedoch nicht nur auf die Sprache selbst, sondern auch auf ihre Inhalte und über die diesbezüglich relativ gut beforschte Lyrik hinaus auf andere Formen der Literatur bezogen werden. Die Erprobung neuer literarischer Strategien und Techniken rückt die experimentelle Literatur in die Nähe der Avantgarde; im vorliegenden Buch sollen die beiden Begriffe, deren kleinster gemeinsamer Nenner das Innovative darstellt, jedoch klar von einander abgegrenzt werden.
In dem vorliegenden Beitrag werden die markantesten intertextuellen Bezüge der beiden Kasperlstücke 'kasperl am elektrischen stuhl' (1962) von Konrad Bayer und 'Kasperlspiel vom Meister Siebentot' (1955/1965) von Albert Drach vergleichend analysiert. Die jeweilige Neukontextualisierung der Grundkonstellation des Spiels im Spiel in Kombination mit einer Hanswurst/Kasperl-Figur, die auf Ludwig Tiecks "Kindermärchen" 'Der gestiefelte Kater' (1797) zurückgeht, aber auch auf Arthur Schnitzlers Bursleske 'Zum großen Wurstel' (1901/05) Bezug nimmt, wird auf literarische Formen des Experimentellen hin untersucht. Dabei werden zwei grundlegend unterschiedliche Positionen des literarischen Experiments in den zwei Jahrzehnten nach 1945 sichtbar.
Im Folgenden geht es um 'Bibel als Litteratur' (von lettera, Druckletter) und 'Literatur als biblischer Text', also um wechselseitige Beziehungen von Letternsatz, Bibeldruck und schöner Literatur. Zugunsten dieser Fokussierung auf ihre typographische Umsetzung bzw. Drucklegung werden sonst zentrale stilistische, rhetorische, textsorten- oder gattungsspezifische Parallelen zwischen biblischen und literarischen Texten vernachlässigt. Unter biblischen Texten sollen nicht nur Vollbibeln, sondern auch Teilausgaben verstanden werden, solange sie auf biblischem Material der jüdisch-christlichen Tradition gründen; literarische Texte seien einfach alle anderen.
Nicht von einer "Nähe" der Literatur "zum Ritual" [...] gehen die folgenden Überlegungen aus. Wenn als "Definitionsmerkmale des Rituals" "Wiederholung einer Handlung, Inszeniertheit, ästhetische Elaboriertheit, Selbstbezüglichkeit, Expressivität und Symbolizität" angeführt werden, dann stellt sich gerade die Frage, inwiefern ein literarischer Text Handlung 'ist', nicht aber nur ein Ritual oder eine Wiederholung einer Handlung thematisiert oder erzählt. [...] Das Verhältnis von Ritual und literarischem Text wird allein von deren Ferne und Entferntheit her gedacht werden können und damit erst die Versuche und die Notwendigkeit der literarischen Texte, im Verhältnis zum Ritual ihre eigene Performativität zu bestimmen.
Der Gedanke, dass Kunstverhalten ein Ausdruck menschlichen Spielverhaltens sei, entspricht einem alten Konsens in Philosophie und Geisteswissenschaften. Er hat erneute Plausibilisierung erfahren von Seiten der Evolutionspsychologie, die nicht nur das Postulat vom menschlichen 'Spieltrieb' als einer angeborenen Eigenschaft auf festere Füße gestellt, sondern überdies auch eine Erklärung für die offenkundige Lust am Spielen geliefert hat. Kernthema meines Beitrags wird indes nicht diese allgemeine Parallele von Kunst und Spiel sein, sondern die spezifische Ausprägung des Spielerischen in einem bestimmten Typus von Literatur. Denn wenn es korrekt ist, dass sich die Lust am Lesen der Aktivierung angeborener Verhaltensprogramme durch literarische 'Attrappen' verdankt, dann stellt sich die Frage, welche Programme dies im Einzelnen sind.
Der Beitrag nimmt kritisch Stellung gegen das populäre Konzept der 'Gefühlsübertragung', mit dem sowohl realweltliche Empathieprozesse als auch das Verhältnis zwischen literarischer Figur und Leser oft beschrieben werden. Am Beispiel der Emotion Mitleid werden vier Kategorien psychischer Prozesse unterschieden: (a) eine emotionale Reaktion auf einen (literarisch) präsentierten Stimulus, (b) emotionale Ansteckung, (c) sentimentale Rührung und (d) Empathie (verstanden als eine beliebig komplexe kognitive Operation, die zu einer mentalen Repräsentation eines fremden Gemütszustands führt). Besondere Aufmerksamkeit gilt dabei der sinnlichen Qualität empathischer Vorstellungen, von der das Missverständnis der 'Gefühlsübertragung' seine intuitive Plausibilität gewinnt und die seit der Entdeckung so genannter Spiegelneuronen oft mit Empathie gleichgesetzt wird. Im Unterschied zu einigen populärwissenschaftlichen Verlautbarungen vertrete ich die Ansicht, dass neuronale Spiegelungsprozesse wahrscheinlich stärker an Ansteckungs- als an Empathieprozessen beteiligt sind.
Vorgestellt werden zwei Neuerungen im DaF-Curriculum an der Westböhmischen Universität Pilsen: KOMIN ist ein Komplexpraktikum, in dem die Studierenden einen literarischen Text unter literatur- und sprachwissenschaftlichen Aspekten analysieren und darauf aufbauend einen Unterrichtsentwurf entwickeln. IMAG bedeutet "Einführung in die komparatistische Imagologie": an literarischen Beispielen wird gezeigt, wie Images entstehen und im interkulturellen Dialog funktionieren.
Die Verfasserin plädiert für einen Kanon 'erinnerungswürdiger Texte' im Deutschunterricht sowie im universitären germanistischen Curriculum, der zur Identitätsbildung in einer Kulturnation unentbehrlich ist, aber in Anbetracht permanenter Gleichsetzung von Bildung und Ausbildung geringgeschätzt wird. Zusätzlich verhindert der deutsche Bildungsföderalismus, sich bereits in der Schule einen Kanon von fiktionalen Texten anzueignen, der als Fundus für identitätsstiftende Diskurse dient, die zum kulturellen Zusammenhalt einer Nation beitragen. Der aktuell zu beobachtenden Xenophobie hat fiktionale Literatur etwas entgegenzusetzen, indem sie Bilder vom eigenen und dem fremden Land in der Literatur vermittelt (Imagologie).
Der Erfolg von Elena Ferrantes vierbändigem Romanzyklus "L'amica geniale" (2011-2014) wird hier in der Verortung Ferrantes in die Schule der literarischen Hontologie (Eribon, Ernaux, Louis) und in eine Strömung von Romanen, die den Klassismus anvisiert, erklärt. Gezeigt wird, wie intersektionale Verflechtungen von Ferrante in Szene gesetzt werden: Das Schicksal eines proletarischen Mädchens mit intellektuellen Ambitionen, aufgewachsen in einem Armenviertel, in dem Gewalt und Mafia an der Tagesordnung sind und immer wieder an den gesellschaftlichen Benachteiligungen sich stoßend etc. Sexismus, Homophobie, Regionalchauvinismus und andere Diskriminierungsformen leiten die Geschichte. Intersektionalität trägt das Romanganze inhaltlich; die Fiktionalisierung geht über gebräuchliche Konzepte von auto-fiction hinaus und erlaubt gerade durch die lebensweltliche Botschaft Einsichten in gesellschaftliche Komplexitäten. Genau diese Konstruktion des literarischen Textes ist für die Rezeption des Werks ausschlaggebend, zumal die Wahl des Pseudonyms der Autorin ermöglicht, die Thematisierung und Problematisierung von Intersektionalität hier und in weiteren Romanen jenseits der Tetralogie zu intensivieren, wie etwa in "La vita bugiarda degli adulti" (2019).
Der Text geht der Frage nach, inwieweit der Begriff des literarischen und künstlerischen Experiments heute zu einem beliebig vergebenen Etikett geworden ist. Dazu werden einige Stationen aus seiner Geschichte sowie sein Verhältnis zum naturwissenschaftlichen Experimentbegriff kurz erörtert; ebenso einige Beispiele experimenteller Arbeiten, die ihren Anfang und ihr Ende verschleiern.
Schon bei seiner Einführung in die wissenschaftliche Literatur meinte der Begriff Déjà vu anderes als er besagt. Die beiden Primärquellen, auf die sich Ludovic Dugas in seinem terminologisch grundlegenden Artikel von 1894 bezog, verwenden bezeichnenderweise auch gar nicht diesen Ausdruck, sondern einen allgemeineren ...
Ein Plädoyer für das Stolpern, wie es der Titel dieses Beitrags ankündigt, ist prekär, da es die Gefahr des Stürzens in Kauf nimmt. Die schlimmeren Unfälle allerdings gehen oft auf das Fehlen von Grenzhindernissen zurück. Erinnert sei nur an den hinterlistigen Schwellenabbau, den der amerikanische Physiker Alan Sokal an der Demarkationslinie der two cultures betrieb – und damit die Herausgeber der bis dato hochangesehenen Zeitschrift Social Text tüchtig blamierte, die nicht bemerkten, daß der Artikel Transgressing the Boundaries voller Absurditäten steckte. Sokals offensive Beseitigung der Barrikaden zwischen Geistes- und Naturwissenschaften paßte so gut ins postmoderne editorische Konzept, daß man gar nicht mehr darauf reflektierte, ob die Transgressionen im Einzelnen Sinn machten – etwa die dekonstruktivistische Überwindung der Schwerkraft oder die feministische Liberalisierung der mathematischen Axiomatik. Die transliminalen Verheißungen klangen zu verführerisch, als daß man über sie gestolpert – und damit der kompromittierenden Falle entgangen – wäre. ...
Daß es nicht unbedingt die bewegten Bilder sind, die uns bewegen, sondern daß uns oft gerade das bewegt, was sich nicht bewegt, ist eigentlich eine triviale Alltagsbeobachtung. Sie bedürfte keiner weiteren Erörterung, wenn sie nicht in ein medienhistorisches Umfeld fiele, das alles daransetzt, sie zu falsifizieren. So stoßen wir heute häufig auf Bewegungsbilder, die unsere unwillkürliche Aufmerksamkeit affizieren und deshalb als Ursache für innere Bewegungen genommen werden, obwohl es nur Reaktionsmechanismen sind, die sich in der Habituation rasch abschleifen (D 00). ...
Der Beitrag enthält eine Analyse der Repräsentationsweisen der mährischen Walachei in den Werken der aus dieser Region stammenden, hier ebenden oder vorübergehend wirkenden deutschschreibenden Autoren. In der Lyrik Nina Wostalls (1901–1996) ist die Walachei Zentrum einer mythisch anmutenden Gemeinschaft mit multikulturellem Hintergrund. Marianne Bohrmann (1849–1916) zeigt die Walachei in ihrem Prosaband "Mährische Novellen" als beschauliche Idylle, die eine Gegenwelt zu allem Neuen und Authentischen darstellt, das sich gegen gesellschaftliche Konventionen stemmt. In Paul Zifferers (1879–1929) Roman "Die fremde Frau" entpuppen sich die idyllische Gegend als permanentes Konfliktfeld und die harmonische Gemeinschaft als Quelle für soziale und nationale Probleme. Walter Seidl (1905–1937) transformiert in seinem Roman "Der Berg der Liebenden“ die mährischwalachische Idylle in eine moderne Utopie.
Der Beitrag enthält eine Analyse des 1927 erschienenen Romans Der Sprung ins Ungewisse von Paul Zifferer, einem wenig bekannten, aus Mähren stammenden österreichischen Schriftsteller. Dieses Prosawerk bietet eine bemerkenswerte Auffassung des Phänomens Zentrum und Peripherie aus territorialer, sozialer, psychologischer, kultureller und politischer Sicht. Überdies stellt es ein wenig erforschtes Kapitel der literarischen Moderne dar.