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Abgründe und Beweggründe : zu den affektiven Implikationen eines identitätspolitischen Konflikts
(2023)
Tatjana Hofmann analysiert den "postkolonialen Revanchismus", der wesentlich zur Eskalation des Konflikts beitrug und schon Jahrzehnte vor dem Euromaidan in literarischen Werken wie Jurij Andruchovyčs "Moscoviada" (1993) artikuliert wurde, ehe er dann in der aufgeheizten Debatte nach der Präsidentschaftswahl von Petro Porošenko den innerukrainischen Literaturbetrieb dominierte und die Weiterentwicklung eines nichtessentialistischen postmodernen Raum- und Kulturdenkens erschwerte - was auch prinzipielle Fragen zu den affektiven Dispositionen literatur- und kulturwissenschaftlicher Forschung selber aufwirft.
Was einen "Edlen Verbrecher" ausmache, aus welchen habituellen oder biografischen Attributen er sich charakteristischerweise zusammensetze und welche Funktionen ihm als Sozialtyp, Männlichkeitskonzept und Heros der Literatur und des Dramas, des Marionettentheaters und des Volkslieds zukommen können, fesselte die Kulturgeschichtsschreibung bereits Mitte des 19. Jahrhunderts. [...] An Typologien des Edlen Verbrechers als eines politik-, sozial- und psychohistorisch ausdeutbaren Fluchtpunkts kollektiver Phantasien mangelt es nicht. Sieht man genauer hin: nicht auf den ewiggleichen Typ, sondern auf dessen Modifizierung, Perspektivierung und Modellierung, kurzum: auf dessen Diskursivierung, bietet der edle Delinquent nichts weniger als eine einheitliche Moral oder Psychologie, sei sie nun idealisierend, kriminalisierend oder, wie im populären Marionettentheater üblich, komisierend. So spricht vieles dafür, dass die literarischen Gattungen und nicht-literarischen Textsorten - also all die Protokolle und "Aktenmäßigen Geschichten", Anekdoten und Lieder, Novellen und Romane, Laientheater- und Marionettentheaterstücke - die Typenbildung ganz unterschiedlich prägten beziehungsweise voneinander abweichende Typen mit differenten Biographien hervorbrachten. Womöglich bewohnt der historisch-anekdotische, der epische, lyrische und theatrale Schinderhannes im 19. Jahrhundert gar nicht jenes eine Haus des Edlen Verbrechers, das ihm die Geistes- und Kulturwissenschaften gebaut und zugewiesen haben? Und womöglich ist er weder als Figur noch überhaupt als Typus, sondern bloß als Name anzusehen, dem wechselnde Diskurse kriminalistischer, pädagogischer, moralischer, künstlerischer Ausrichtung wechselnde Bedeutungen, Funktionen und Plätze im kollektiven Gedächtnis wechselnder Gruppen gaben? [...] In der Folge soll die im 19. Jahrhundert von Anekdotik, Lied und (Marionetten-)Theater konstruierte fiktive Kollektivbiographie des Schinderhannes Johannes Bückler textsortenspezifisch re-vidiert und in eine Soziobiographie aus Dichtung und Wahrheit übergeführt werden.
Der Beitrag widmet sich der Figurenanalyse als Bestandteil der Texterschließung im intersektional ausgerichteten Deutschunterricht und konzipiert ein konkretes methodisches Analyseverfahren, das intersektionale Fragestellungen bei der Figurenanalyse zu erarbeiten und darzustellen vermag. Über eine erste literaturdidaktische Fundierung der Figurenanalyse als Texterschließungsverfahren werden Anknüpfungspunkte zum Intersektionalitätsparadigma aufgezeigt Der Beitrag versteht sich als Vorschlag für eine mögliche kulturtheoretische Fundierung der Figurenanalyse durch das Intersektionalitätsparadigma, welches mit dem Kollektivansatz von Klaus P. Hansen und dessen Fortführung durch Jürgen Bolten zum fuzzy culture-Ansatz in Bezug gesetzt wird. Aus dieser theoretischen Verbindung wird ein konkretes Instrumentarium zur intersektional orientierten Figurenanalyse in literaturdidaktischen Settings entwickelt, das sich durch eine strukturierte visuelle Aufarbeitung intersektionaler Fragestellungen in Bezug auf literarische Figuren auszeichnet. Die folgenden Ausführungen bieten zunächst einen kurzen Überblick über die literarische Figur allgemein und ihre Merkmale sowie die Bedeutung der Figurenanalyse im Deutschunterricht, bevor letztere unter intersektionalen Gesichtspunkten beleuchtet und in ein konkretes Analyseinstrumentarium überführt wird. Dieses wird abschließend an Eleonora Hummels Roman "Die Fische von Berlin" beispielhaft erprobt.
Der Erfolg von Elena Ferrantes vierbändigem Romanzyklus "L'amica geniale" (2011-2014) wird hier in der Verortung Ferrantes in die Schule der literarischen Hontologie (Eribon, Ernaux, Louis) und in eine Strömung von Romanen, die den Klassismus anvisiert, erklärt. Gezeigt wird, wie intersektionale Verflechtungen von Ferrante in Szene gesetzt werden: Das Schicksal eines proletarischen Mädchens mit intellektuellen Ambitionen, aufgewachsen in einem Armenviertel, in dem Gewalt und Mafia an der Tagesordnung sind und immer wieder an den gesellschaftlichen Benachteiligungen sich stoßend etc. Sexismus, Homophobie, Regionalchauvinismus und andere Diskriminierungsformen leiten die Geschichte. Intersektionalität trägt das Romanganze inhaltlich; die Fiktionalisierung geht über gebräuchliche Konzepte von auto-fiction hinaus und erlaubt gerade durch die lebensweltliche Botschaft Einsichten in gesellschaftliche Komplexitäten. Genau diese Konstruktion des literarischen Textes ist für die Rezeption des Werks ausschlaggebend, zumal die Wahl des Pseudonyms der Autorin ermöglicht, die Thematisierung und Problematisierung von Intersektionalität hier und in weiteren Romanen jenseits der Tetralogie zu intensivieren, wie etwa in "La vita bugiarda degli adulti" (2019).
Klein, schwach, mit einem deformierten Rücken und einer aus heteronormativer Perspektive devianten Sexualität - auf den ersten Blick verkörpert die literarische Figur Kuno Kohn gängige antisemitische Stereotype zu Beginn des 20. Jahrhunderts. In den frühen 1910er-Jahren entworfen und in einer Vielzahl von Texten unterschiedlicher Gattungen ausgebildet, ist Kuno Kohn die Schlüsselfigur in Alfred Lichtensteins (1889–1914) Werk und zugleich Projektionsfläche für die wirkmächtigen Differenzkategorien Jewishness, Sexualität, Disability und Gender. Dichotome Kategorisierungen können die Komplexität der Figur nicht erfassen: Von Lichtenstein als grotesk überzeichnete Figur angelegt, laufen in ihr Binäroppositionen wie jüdisch/nicht jüdisch, homosexuell/heterosexuell und behindert/nicht behindert ins Leere. Statt zu versuchen, die Ambivalenzen, Vielschichtigkeiten und scheinbaren Widersprüche der Figur aufzulösen, rückt der Beitrag sie in einer intersektionalen Figurenanalyse in den Mittelpunkt. Dies lenkt den Blick auf die diskursive Co-Konstruktion der Differenzkategorien auf der Folie des Figurenkörpers und offenbart das subversive, queere Potenzial, das der Figur eingeschrieben ist.
Das Konzept der Intersektionalität hat sich in den letzten Jahrzehnten in den Geistes-, Sozial- und Lebenswissenschaften als überaus einflussreich erwiesen. Auch in der Literaturwissenschaft gewinnen Intersektionalitätstheorien zunehmend an Bedeutung. Der Beitrag geht von dieser Entwicklung aus und fragt zunächst allgemein danach, wie sich das Konzept für literaturwissenschaftliche Methoden und Fragestellungen fruchtbar machen lässt, in denen die Beschäftigung mit Intersektionalität über ein Verständnis dieser als reine Identitätstheorie hinausgeht. Die Analyse von Bernardine Evaristos preisgekröntem Roman "Girl, Woman, Other" (2019) führt anschließend vor, wie Identitätsfragen aus intersektionaler Perspektive nicht nur Interdependenzen der Ungleichheiten zwischen Figuren in den Blick nehmen, sondern auch die systemischen Grundlagen dieser Ungleichheiten sowie deren Einbindung in eine hegemoniale Kulturindustrie. Mit seiner Thematisierung von Intersektionalität als Thema auf mehreren Ebenen dient der Roman als Beispiel, wie das Konzept als Theorie und Methode die Literaturanalyse bereichern kann, und umgekehrt, welche Impulse sich aus der Beschäftigung mit Literatur und narratologischen Analysekategorien wie Perspektive und Perspektivenstruktur auch für die Intersektionalitätsforschung gewinnen lassen.
Intersektionalität hält als Forschungsgegenstand, als Schauplatz theoretischer Diskussion und als Analyseperspektive seit Jahren verstärkt Einzug in unterschiedliche akademische Disziplinen und Bereiche. Es verwundert daher nicht, dass sich das Intersektionalitätsparadigma auch im Bereich der Literaturwissenschaft und -didaktiken zunehmend als produktiv erweist, wie wir mit dem Sammelband zeigen wollen, der intersektionale literaturwissenschaftliche und -didaktische Fallstudien aus unterschiedlichen Philologien versammelt und so ein Prisma der Erforschung literarischer Repräsentationen des Zusammenspiels von einander verschärfenden bzw. abschwächenden Diskriminierungskategorien bietet. Inwiefern die Einzelbeiträge kritische Reflexionen verschiedener Positionen der Intersektionalitätsforschung präsentieren und Beispiele für die vielfältige Ausgestaltung intersektional orientierter Textanalyse auf theoretischer und methodischer Ebene anbieten sowie didaktische Lesarten des Intersektionalitätsparadigmas aufzeigen, machen wir aufbauend auf einer ausführlichen Begriffs- und Theoriereflexion einleitend deutlich.
Andenken
(2009)
Die Geschichte des ästhetisch Wunderbaren läßt sich in drei Schritten oder Phasen nachzeichnen: vom Wunder zum Wunderbaren und vom Wunderbaren zum Phantastischen. Das Phantastische ist die höchste Emanzipationsstufe, wo das freie Spiel der Einbildungskraft in seiner autonomen, auf sich selbst gestellten Gesetzlichkeit das Reale, Vertraute unserer gewöhnlichen Welt in Frage stellt. Diese Entwicklung vom Wunder zum Wunderbaren und vom Wunderbaren zum Phantastischen wird von Jacob Grimm jäh unterbrochen. [...] Jacob Grimm leitet eine Denkbewegung ein, die ich die Rettung des Wunderbaren aus der Zerstörung durch das Phantastische nennen möchte. Dieser Rettungsversuch kann und will nicht mehr zur Rehabilitierung des theologischen Wunders zurückführen. Statt dessen zielt er auf das "Unvordenkliche" der eigenen Herkunft, das auf den Glauben an das eigene Volk gründet.
Die meisten Maler und Zeichner der Romantik haben von den in dem erzählten Märchen wachgerufenen Innenbildern berichtet und von ihnen bei ihrer Arbeit profitiert. [...] Bekanntlich rehabilitieren die romantischen Künstler nicht nur die erzählenden volkstümlichen Gattungen, die Legende, das Märchen, die Anekdote und das Volksbuch, sondern auch die volkstümlichen Formen der bildenden Kunst: die Scherenschnitte, die Silhouetten,
die Schattenrisse etc. [...]
Fast die gesamte außerdeutsche Germanistik hat sich schwer getan mit der binnengermanistischen Differenzierung: 'Klassik und Romantik'. [...] An zwei ästhetischen Figurationen lässt sich exemplarisch und skizzenhaftzeigen, wie aus einem Nebenkriegsschauplatz im Klassizismus, der Arabeske, ein Hauptaktionsfeld der Romantik wird und wie aus einem zentralen ästhetischen Konzept des Klassizismus, dem fruchtbaren Augenblick, Nebeneffekte in der Romantik werden.
Die Polemik lebt aus der Spannung extremer Gegensätze: von Affekt und Besonnenheit, von Argument und Bluff, von Logik und Paralogismen, von Dokument und Metapher, von akribischer Kriminalistik und wilder Spekulation, von rigorosem ethischem Prinzip und brutalem Vernichtungswillen, von kalkulierter Wirkungsstrategie und dem Spiel mit dem Zufall. Diese Spannungen sind in der Polemik so organisiert, daß sie die Sprache bis an die Grenze ihrer Verbalität, ja über sie hinaus zu treiben versuchen. Das Wort soll, was es nicht kann, nicht mittelbar, sondern unmittelbar Tat werden. Diese polemische Grenzüberschreitungssucht ihres Mediums der rational argumentierenden Sprache macht die Brisanz, das Interesse, aber auch die fortdauernde Distanzierung von der Polemik, zumal in der Aufklärung, verständlich. Im folgenden sollen einige Stationen der Verdächtigung und Legitimierung der Gattung Polemik von der Aufklärung bis zum Vormärz nachgezeichnet werden, wobei - unumgänglich - das Verhältnis der Polemik zur entstehenden Kritik in Aufklärung und Romantik ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückt.
Achim von Arnim hat bei der Bearbeitung seiner Erzählung "Der tolle Invalide auf dem Fort Ratonneau" zwei Quellen benutzt und umgeschrieben. Das Entscheidende dabei ist, daß die eine Quelle französischer Provenienz ist und aus der Zeit vor der Revolution stammt, die zweite hingegen eine deutsche Fassung aus der nachrevolutionären Zeit darstellt. Bislang wurden im Blick auf die Umschrift Arnims nur motivliche Übernahmen und adaptierte "sprachliche Eigenheiten" festgestellt. Unberücksichtigt blieb, daß beide Vorlagen Arnims eine je eigene narrative Struktur und poetische Form besitzen.
Carlos Spoerhase wendet sich dem Verhältnis von Teil und Ganzheit im Denken der literarischen Form zu. Für die Imagination ganzheitlicher Werke - als Paradebeispiel dient Spoerhase die Shakespeare-Apologie der Romantik - sei nicht allein die Vollständigkeit der Teile und ihr ausgewogener Bezug zum Ganzen, sondern auch die Beziehung der Teile untereinander zentral. Zwar erfolgten literarische Ganzheitsvisionen immer wieder über Analogien mit dem Menschen, der Architektur oder biologischen Systemen. In der Regel garantiere aber ein "nichtsinnliches Prinzip, das im Innern des Werkes situiert wird", erst dessen "ganzheitliche Formstiftung". Anders als es etwa die Prominenz der stabilen Unterscheidung zwischen 'System' (als Musterbeispiel geschlossener und einheitlicher Ganzheit) und 'Aggregat' (im Sinne einer lockeren Anhäufung) in der Dichtungstheorie um 1800 suggeriere, würden literarische Werke zwangsläufig keineswegs mit "maximalen Einheitlichkeitszuschreibungen" versehen. An Goethes Poetik etwa lasse sich das Bemühen um eine "Gradierung von Ganzheit" ablesen. Ganzheit ist demnach weniger eine den Teilen vorangehende oder übergestülpte Totalität. Vielmehr sind es die unterschiedlichen und vielfältigen Verknüpfungsweisen der Teile, die über Art und Konzeption der Ganzheit literarischer Werke entscheiden.
Die Zuspitzung der Problemkonstellation Virtuosentum versus Kunst im
Vormärz läßt sich plausibilisieren an Balzacs Roman "Les Illusions perdues". Hier wird nämlich die kunstkritische Kontroverse um Virtuosentum und Künstlertum und gleichzeitig das produktionsästhetische, narratologische Problem Feuilletonismus und Kunst zusammen- und enggeführt.
Wilhelm von Humboldt leistet zweierlei: I. Er überträgt die Grundfigur des Klassizismus, das Eigene am Fremden zu verstehen, vom Altertum auf die modernen europäischen Nationen mit Hilfe seines Konzepts einer vergleichenden Anthropologie. 2. Er stellt die anthropologisch und geschichtsdiagnostisch zugleich intressierte Frage nach dem Potential, den Voraussetzungen, Bedingungen und Grenzen einer Nation, sich Fremdes aufzuschließen und anzuverwandeln. Damit gelang ihm gegenüber der dem Nationalgeist huldigenden Romantik zwar kein breitenwirksamer, aber ein für die deutsche Klassik richtungweisender Beitrag zur kulturellen Identitätsfindung. Er sollte bis in Goethes Weltliteraturvorstellung fortwirken.