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Nicht allzu häufig wird man in den Schriftverzeichnissen deutscher Althistoriker auf Studien zur Zeitrechnung und zum antiken Kalenderwesen stoßen, wie dies bei Jürgen Malitz der Fall ist. Im Jahr 1987 ist sein viel beachteter Aufsatz zur Kalenderreform Caesars erschienen und jüngst hat er sich unter dem Titel "Die Ordnung der Zeit", wiederum ausgehend von Caesars Reform, verschiedensten Aspekten des antiken Kalenderwesens zugewandt und einen Bogen bis in die Gegenwart gespannt. Dieses Interessengebiet des Geehrten aufgreifend, möchte der vorliegende Beitrag einen wenig erforschten Aspekt dessen beleuchten, wie Zeit in der Antike als ökonomische Ressource begriffen und instrumentalisiert wurde. ...
[Der] Status des Rechts [ist] in der Odyssee grundsätzlich ambivalent [...]: Auf der einen Seite grenzt sich Odysseus unter Berufung auf eine allgemeine "rechtliche Ordnung" (thémis) und die öffentliche Versammlung (agorá) von der rechtlosen Welt der Kyklopen ab, auf der anderen liegt Interpretation und Durchsetzung von Recht im Konfliktfall beim Einzelnen: Was "Recht" ist, wird zu einem großen Teil von Macht, Einfluss und Ansehen der Parteien bestimmt. Dennoch hieße es die Komplexität der in der Odyssee beschriebenen Ordnung zu vereinfachen, wollte man sie auf ein rohes Recht des Stärkeren zurückführen – Odysseus wird in seinem Epos schließlich gerade nicht durch Verbindlichkeit durchsetzende Stärke, sondern durch wendige, ja unverbindliche Listigkeit charakterisiert. Doch wie ließe sich dann die zuguterletzt wiederhergestellte rechtliche Ordnung differenziert beschreiben? Um diese Frage zu beantworten, ist zunächst eine Reflexion auf das grundsätzliche Verhältnis zwischen Recht und Epos vorzunehmen. Sie soll in den folgenden Abschnitten in der Diskussion einiger maßgeblicher rechtshistorischer Ansätze am Beispiel der Ilias geleistet werden. Im zweiten Hauptteil dieses Textes wird dann eine Lektüre der Odyssee unter dem Aspekt epischer Verbindlichkeit im Vordergrund stehen; sie wird in die Frage münden, in welchem Verhältnis die formale Geschlossenheit des Epos zur Herstellung von Ordnung steht. Die Problematik der epischen Form wird ihrerseits abschließend zum Verhältnis von Epos und Recht zurückführen, wobei nun allerdings das Epos als Gegenstand von mündlicher Überlieferung und (mythischer) Gesetzgebung im Zuge der pólis-Werdung Athens im Mittelpunkt steht.
In diesem Aufsatz möchten wir Denk- und Deutungsmuster des mediengestützten Studiums und der mediengestützten Lehre herausarbeiten, welche die These einer qualitativ neuen Form der Bildung stützen2. Der Rahmen, in dem wir uns dabei bewegen, wird einerseits durch die Debatte um die Wissensgesellschaft und andererseits durch die Perspektive der kanadischen Medientheorie3 gekennzeichnet.
Unser Augenmerk gilt den Veränderungen in unserer Alltagskultur, den Deutungs- und Wahrnehmungsmustern und den entsprechenden Erwartungshorizonten, welche sich zunehmend unter den Bedingungen moderner Medientechnologien verändern. Besonders hervorheben wollen wir dabei den Zusammenhang von medientechnischen und kulturellen Modernisierungen. Fragen der Entwicklung und Nutzung neuer Medientechnologien wie dem Internet lassen sich so jenseits einer Sichtweise der Instrumentalisierung in den Blick nehmen. Wir werden uns bei den nachfolgenden Betrachtungen dazuhin auf das Feld der Hochschulen und die dort angesiedelten Fragen zur mediengestützten Lehre beschränken.
Möglichkeiten der Evaluation von E-Learning-Arrangements. Eine Analyse am Beispiel von EverLearn
(2010)
E-Learning in der Hochschulpraxis: wie Lehren und Lernen nicht auf der (virtuellen) Strecke bleiben
(2010)
Die Anforderungen an eine zukunftsorientierte Hochschulentwicklung sind eng mit dem Einsatz neuer Medien verknüpft, welche sich sowohl institutionell, personell und hochschulpolitisch niederschlagen werden. Neben der technischen Integration neuer Lehrformen spielen insbesondere die organisatorischen und didaktischen Implikationen eine zentrale Rolle. Als ein wichtiger Aspekt zur Qualitätssicherung der Hochschullehre bei steigender Studierendenzahl spielen die neuen Medien dahingehend eine Rolle, dass durch den Einsatz innovativer Lehrtechnologien eine verbesserte Betreuung und Beratung der Studierenden angestrebt wird (vgl. Albrecht 2003, S. 83). Häufig wird die Annahme vertreten, dass E-Learning hier eine kostensparende Variante darstellt, die gleichzeitig durch den „Neuigkeitseffekt“ die Lernmotivation der Teilnehmenden steigere (vgl. Meister 2001, S. 167). Die generellen Befürworter des E-Learnings zeigen neue didaktische Handlungsmöglichkeiten auf, z. B. Lernen durch Exploration (insbesondere durch Navigieren, Browsing, Searching, Connecting und Collecting, vgl. Peters 2000), während die empirische Bestätigung erhöhter Lerneffekte im E-Learning noch aussteht. Der folgende Beitrag fordert die Lehrenden dazu auf, die didaktischen Aspekte des E-Learnings stärker in den Blick zu nehmen, damit sich ein lernförderlicher Einsatz computer- und internetbasierter Lehr- / Lernszenarien endlich in der (Hochschul-)Praxis etablieren kann. Denn die gängigste Variante von E-Learning an deutschen Hochschulen – soweit wagen wir uns vor – besteht häufig in der bloßen Informationsdistribution aktueller Seminarinhalte. Didaktische und methodische Überlegungen bleiben dabei ganz offensichtlich auf der Strecke...
Der Einsatz von E-Learning-Angeboten wird seit Mitte der 1990er Jahre intensiv diskutiert (Baumgartner et al. 2002, S. 13) und sowohl von der Industrie als auch von staatlichen Stellen gefördert (Kerres et al. 2005). Neben dem Wunsch nach genereller Modernisierung (Bachmann et al. 2004, S. 1) soll der Einsatz von E-Learning vor allem zu einer Verbesserung der Betreuungsintensität der Lernenden, insbesondere in Massenveranstaltungen an deutschen Hochschulen führen (Grüne et al. 2006; Hiltz 1995; Mathes 2002; Schwickert et al. 2005). E-Learning soll es ermöglichen, die Lernenden intensiver und individueller zu betreuen, und so zu einer Erhöhung des empfundenen Servicegrades beitragen (Alavi 1994; Schutte 1997).
Seit der Abschaffung der zentralen Vergabestelle für Studienplätze (ZVS) müssen Hochschulen solche vermuteten Wettbewerbsvorteile nutzen und sich aktiv um die Steigerung der Bewerberzahlen und die Zufriedenheit der Lernenden bemühen, was zu der Forderung führte, den Einsatz von E-Learning-Angeboten in der Hochschullehre auszudehnen (BLK 2002, S. 1; BMBF 2000). In der Folge wurden große Summen für die Entwicklung und die Implementierung innovativer E-Learning-Angebote bereitgestellt, ohne deren langfristigen Erfolg sicherstellen zu können (Marshall et al. 2004).
In diesem Beitrag untersuchen wir, wie eine nachhaltige Implementierung von E-Learning-Projekten in Hochschulen durch organisatorische Gestaltungsmaßnahmen gefördert werden kann. Die Untersuchung erfolgt aus dem Blickwinkel der Wirtschaftsinformatik, die sich mit dem Potenzial von Informations- und Kommunikationstechnik (IKT) für die Verbesserung von Geschäftsprozessen beschäftigt (Laudon et al. 2007; Lyytinen 1985; WKWI 1994)...
In diesem Beitrag untersuchen wir den Erfolg von E-Learning-Maßnahmen in einer Massenveranstaltung an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Mit Bezug auf das Modell von Seufert und Euler gehen wir auf die didaktische Dimension der Nachhaltigkeit von E-Learning-Aktivitäten ein (Seufert et al. 2003a, S. 6; Seufert et al. 2003b, S. 18f.). Die didaktische Dimension sehen Seufert und Euler als die zentrale und wichtigste Dimension der Nachhaltigkeit von E-Learning-Angeboten an. Der Einsatz von E-Learning-Maßnahmen muss sich daran messen lassen, ob er Lernziele besser erreicht als alternative, weniger aufwändige Lernszenarien (Seufert et al. 2004, S. 11)...
Im antiken Rom war das Publikum im Colosseum live bei der Inszenierung von Gewalt dabei. Heutzutage werden "tödliche Spiele" in Film und Literatur nicht nur medial re-inszeniert (Stichwort Hollywood-Historienfilme, Gladiatoren-Computerspiele), sondern auch zunehmend als Vehikel für Gesellschaftskritik eingesetzt. Ausgehend vom Erfolg der Buchtrilogie "Die Tribute von Panem" (The Hunger Games) wird der Vortrag erkunden, welche gesellschaftliche Funktion die Darstellung und Betrachtung von Gewalt im Spiel erfüllt.
Es ist so viel Neues, Grundsätzliches und Bleibendes über Warburgs kulturwissenschaftliches Werk vorgetragen und geschrieben worden, dass ich mich im Folgenden auf einige wenige Beobachtungen beschränken möchte. Die beiden ersten betreffen die Aktualität von Warburgs Denken, und ich möchte sie - aus der Perspektive des Kunsthistorikers - überschreiben: 1. Lob der Sprache, 2. Lob des Anachronismus. Daran anschließend möchte ich kurz drei Themenfelder andeuten, die meiner Ansicht nach Herausforderungen einer heutigen Warburg-Forschung darstellen.
"Zwischen den Stühlen" : Warburgs Bildersprache als Positionsbestimmung seiner Kulturwissenschaft
(2017)
Zuallererst ein besessener Büchersammler und ein ebenso leidenschaftlicher Philologe wie Kunsthistoriker, hat Warburg die Bibliothek, die er als Privatgelehrter begründete, bald zu einem veritablen Forschungsinstitut ausgebaut, in dem Detailforschungen aus Kunstgeschichte, Philologie und Archäologie, aus Religionswissenschaft, Orientalistik und vielen anderen Fächern in ein gemeinsames Vorhaben eingebracht wurden. Mit der Leitfrage nach den psychischen Energien und den phobischen Motiven, die in die Rituale und Bilder, in die Gebärden und symbolischen Formen des menschlichen Ausdruckswillens eingegangen und darin gebunden sind, ist Kulturwissenschaft im Sinne Warburgs heute so brisant wie nie. Ebenso mit ihrer Aufmerksamkeit für die archaischen Ursprünge und außereuropäischen Korrespondenzen europäischer Kultur. Die Untersuchung der widerstreitenden Energien, wie Sigmund Freud sie für die Erinnerungen und Träume, für die Objekt- und Symptombildungen des Einzelnen erschlossen hat, verfolgen die von der Warburg-Bibliothek angestoßenen Studien im Feld der Kulturgeschichte und des Bildgedächtnisses. Wenn Warburg diese Arbeit als "kulturwissenschaftliche Zusammenhangskunde" charakterisiert, dann deshalb, weil sie tatsächlich nur aus einer Position 'zwischen den Stühlen' entstehen konnte und nur in Gestalt einer kollektiven Anstrengung realisierbar ist - und sein wird.
Der Name Aby Warburgs steht für eine kulturwissenschaftlich ausgerichtete Kunstgeschichte, mehr noch aber für eine heute weltweit operierende Denkschule, die sich vielen Fachrichtungen öffnet und die in wechselwirksamer Begegnung und Teilhabe ein Instrumentarium entwickelt, das die Herausforderungen unserer Zeit in Kunst, Kultur und Gesellschaft besonders wirksam zu bewältigen verspricht. Denn Kulturwissenschaft, das muss man der so sehr von den Life Sciences beseelten Politik immer wieder in Erinnerung rufen, Kulturwissenschaft ist die eigentliche Lebenswissenschaft.
Im Jahr 1923 veröffentlichte László Moholy-Nagy in der amerikanischen Zeitschrift Broom den Artikel "Light: A Medium of Plastic Expression", dessen Aussagen in einer Beobachtung münden, die vom ihm selbst in seinen folgenden Schriften präzisiert und weiterentwickelt und die 1931 von Walter Benjamin in seinem Essay über die Fotografie als Gedanke übernommen wird. Moholy-Nagy schreibt: "An dieser Stelle muß unterstrichen werden, daß unsere intellektuelle Erfahrung formal und räumlich die optischen Phänomene, die das Auge wahrnimmt, vervollständigt und zu einem homogenen Ganzen zusammenfügt, während die Kamera das rein optische Bild wiedergibt (die Verzerrung, die schlechte Zeichnung, die Perspektive)." Diese Formulierung der genuinen Poiesis, die aus einer Verbindung physiologischer und psychologischer Vermögen des Menschen mit den Medienkünsten entsteht, die zu einer Neuordnung der Sinne, zum Experimentieren mit und der Erforschung von Wahrnehmungsprozessen leiten sollte, gründete in der Forderung nach einem 'Neuen Sehen', das, als "optische Wirksamkeit" - erstmals von Moholy- Nagy formuliert - zu einem Charakteristikum der Avantgarde wurde. Das Motiv dieser Suchbewegung - der hier nachgegangen werden soll - lag in einer Antwort begründet, die man auf die Frage zu geben suchte, wie sich die Verbindung der Sichtbarmachung des Unsichtbaren mit der Bewusstwerdung des Unbewussten, also der Ausbildung eines 'Optisch-Unbewussten' verbinden ließe, um im Anschluss eine neue Th eorie des Blicks - als ein Sehen über den rein physiologischen Sehakt hinaus - zu etablieren.
Die Weltschmerzorganisation (IASP) definiert Schmerz als "ein unangenehmes Sinnes- und Gefühlserlebnis", das als 'drückend', 'scheußlich', 'heiß' oder als '7' auf einer Skala dargestellt werden kann. Er lässt sich als erhöhte neuronale Aktivität beschreiben und kann mittels bildgebender Verfahren in spezifischen Hirnarealen 'sichtbar' gemacht werden. Und doch bleibt der Schmerz ein rein subjektiv erlebtes Phänomen, das sich strikten Messungen entzieht. Wann also wird ein Reiz zum Schmerz? Der Vortrag spürt der Wandlungsfähigkeit des Schmerzerlebens anhand von Beispielen aus Wissenschaft, Kultur und Geschichte nach.
Im Folgenden werde ich die Rückkehr der Orthodoxie in drei Schritten am georgischen Beispiel erörtern. Im ersten Schritt werde ich die Rückkehr der Orthodoxie im Problemfeld des säkularisierten Staates verorten und einen Vergleich mit der Repolitisierung des Islam ziehen. Im zweiten Schritt werde ich die Rückkehr der Orthodoxie als nationalistische Ideologie beschreiben. Im dritten Schritt werde ich dieses Comeback aus der Erfahrung des Totalitarismus zu verstehen versuchen.
Bevor ich mich im Folgenden von Spinoza ausgehend der Frage des 'mischpat ivri' zuwende und die Frage stelle, welche Rolle die Idee der Torah als Staatsrecht im modernen Israel spielt, möchte ich kurz in Erinnerung rufen, was wir historisch über die Torah im Alten Israel und aus dem antiken bzw. spätantiken Judentum wissen. Ich beginne also bei Spinoza, gehe dann kurz in die tiefere Vergangenheit und wende mich dann der zionistischen und israelischen Beschäftigung mit dem hebräischen Recht zu. Der Bezug auf die Torah als Staatsrecht bewegt sich sowohl im Fall der Staatstheorie der Frühen Neuzeit als auch im Fall des 'mischpat ivri' auf der dreifachen Grenze von Religionsquelle, Gelehrtentradition und Politik bzw. Entwürfen der Gesellschaftsgestaltung. Ohne das hier weiter theoretisch reflektieren zu können, gehören diese Beobachtungen meines Erachtens in den Bereich der hier verhandelten Fragen um das Verhältnis von Religion und Kulturwissenschaft.
Im Folgenden will ich zunächst an Löwiths klassischer Beschreibung der Säkularisierung ein paar typische Züge der europäischen Narrative der Säkularisierung herausarbeiten, dann zeigen, inwiefern diese Züge theoriegeschichtlich für das Nachdenken über Kultur besonders der Zwischenkriegszeit relevant waren, und schließlich kurz überlegen, was das für die gegenwärtige Situation bedeuten kann.
Mir geht es im Folgenden in einer Art Metaperspektive vor allem um artikelstrukturierende Knotenpunkte dieser Narrationen, also um eine Art Begriffsgeschichte der Begriffsgeschichte - auch deswegen, weil ich meine, dass Begriffsgeschichte heute vielleicht überhaupt nur noch legitim ist, wenn sie in dieser Art selbstreflexiv vorgeht. Denn wie vielleicht gerade die Begriffsgeschichte von Säkularisierung zeigen kann, führt wesentlich nicht die Aufdeckung vergangener semantischer Schichten eines Begriffs zu einem historischen Erkenntnisgewinn, sondern die Einsicht in die historisch je gegenwärtigen Konstitutions- oder Konstruktionsbedingungen diskursiv verwendeter Begriffe. Wenn ich in meinem Beitrag das Verhältnis von Begriffsgeschichte und Säkularisierung behandeln möchte, dann sehe ich in deren Verhältnis eine herausgehobene Exemplarizität, die ich nach zwei Seiten hin entfalten möchte.
Wie muss man Religion fassen? Wo kann man sie im Individuum verorten, wenn man sie nicht primär in der Gesellschaft, im Kollektiven suchen will? Welche Perspektiven kann sie erschließen, wenn man die Einzelne oder den Einzelnen nicht von der Gesellschaft isolieren will? In einer phänomenologischen Analyse schlage ich vor, dafür drei Felder in den Blick zu nehmen. Zum Ersten: Wo stärkt sie die Handlungsfähigkeit des Einzelnen, seine Kompetenz und Kreativität im Umgang mit den täglichen, aber auch außeralltäglichen Problemen, wo erhöht sie die Wahrscheinlichkeit, dass er sich 'agency' zuschreibt oder diese in der situativen Konstellation zugeschrieben wird? Zum Zweiten: Wie trägt sie zur Ausbildung kollektiver Identitäten bei, die den Einzelnen als Teil einer Gruppe, eines sozialen Gebildes ganz unterschiedlicher Gestalt und Stärke handeln oder denken lassen? Und schließlich: Welche Rolle spielt Religion in der Kommunikation, wie verfestigt sie sich als Medium solcher Kommunikation, das dann weitere, vielleicht sogar unbeabsichtigte Kommunikationen anstößt und diese vorprägt?
Von vielen Überlebenden, die über das Erlittene geschrieben haben, ist bekannt, dass auch sie Schuld empfanden - viele von ihnen konnten "nicht mehr heimisch werden in der Welt", die "Schmach der Vernichtung" nicht mehr austilgen. Nicht selten endete ihr Überleben im Freitod, wie bei Jean Améry, Paul Celan und Primo Levi.
Wenn es in Franz Kafkas Erzählung 'Eine kaiserliche Botschaft' (1919) gegen Ende heißt: "Niemand dringt hier durch und gar mit der Botschaft eines Toten", so ließe sich dies als das Scheitern eines erwünschten Nachlebens verstehen, erwünscht in Form einer nach dem eigenen Tod bei jemandem ankommenden Botschaft; als das Scheitern einer erwünschten Souveränität, die einen Toten, und sei er auch Kaiser gewesen, offenbar nicht länger auszeichnet. Am Ende der folgenden Überlegungen aber wird eine andere Lektüre stehen: Sie resultiert aus der Frage nach den Bedingungen, Praktiken und Effekten eines Schreibens, das die Idee der Souveränität in bestimmter Weise verfolgt, nämlich hinsichtlich der Organisation des Nachlebens, des Sich-Heranschreibens an die Grenze des Todes, des Sich-selbst-Überlebens - ein testamentarisches Schreiben also. Damit ist zunächst eine juristisch relevante Form bezeichnet: das Testament, das heißt eine konkrete Praxis der Adressierung an die Nachwelt. Diese Praxis ist sowohl institutionalisiert als auch individualisiert, und ihr eignet eine grundlegende Literarizität, nicht nur in formalästhetischer Hinsicht, sondern auch bezogen auf ihren Imaginations- und Fiktionalitätsstatus, der aus der Schreibhaltung des "ich bin tot" herrührt. Dies sei im Folgenden anhand eines etwas grob verfahrenden Cursus entwickelt, dessen erster Teil zum "Testament als Medium der Souveränität" zunächst im antiken römischen Recht einsetzt und dann zu Jean Paul springt; dessen zweiter Teil sich "das testierende Ich" vornimmt; und dessen dritter Teil sich den theoretischen und literarischen 'double binds' eines Testaments und eines "desire to speak with the dead" widmet.
Amseln, Krähen, Zinnvögel, Eulen, Schwalben, Tauben, Raben, Hühner, Nachtigallen, Pfauen, Käuzchen, Albatrosse, Enten, Geier, Schneehühner, Kraniche, Möwen - all diese Vögel durchflattern und durchfliegen Ingeborg Bachmanns Lyrik. Ihre Schönheit, Fremdheit und vielfältige Symbolik, ihr Flug, ihr Gesang und ihr luftiges Element erzeugen in den Gedichten eine poetische Fülle, die auf die Möglichkeit eines 'Anderen' verweist. Die Vögel in Bachmanns Gedichten sind Objekte: Objekte von Begehren, Liebe und Angst. Sie mögen auch Chiffren, Metaphern, Symptome darstellen, doch als Objekte gewinnen sie eine spezifische Souveränität. Denn sie fungieren keineswegs nur als literarische Gegenstände; vielmehr treten sie als eigenwillige Gegenspieler, als mächtige Fetische oder sich entziehende Wesen auf. Der Blick und die Sprache, deren Objekte die Vögel in den Gedichten sind, zeigen sich fasziniert vom Nicht-Menschlichen und von jener Souveränität. Daraus erwachsen nicht nur die Konflikte, die die lyrischen Begegnungen zwischen Vögeln und Menschen prägen, sondern auch eine leidenschaftliche Sehnsucht, von der die Gedichte sprechen: die Sehnsucht nach einem 'Jenseits' der gängigen Sprech- und Lebensweisen - und damit nicht zuletzt die Sehnsucht nach der Möglichkeit einer Sprache der Liebe, die das geliebte Gegenüber zu adressieren und zu treffen vermag.
Gegenüber der Repräsentation von Passionen, deren Beherrschung im Körperbild, insbesondere der Physiognomie, ebenso suggeriert wie trainiert wurde, lassen sich Darstellungen zerschlagener Glasscheiben als Kristallisationen vergangener Passionen verstehen. Zerstörte Scheiben schützender Vitrinen und gerahmter Bilder konnten ein Kunstwerk kommentieren und so die offensichtlich leidenschaftliche Auseinandersetzung des Betrachters mit dem Werk vermitteln.
The bond of shame
(2010)
A long time ago I suddenly realized that the country one belongs to is not, as the usual rhetoric goes, the one you love but the one you are ashamed of. Shame can be a stronger bond than love. I repeatedly tested my discovery with friends from different countries: they all reacted the same way - with surprise immediately followed by full agreement, as if my suggestion was a self-evident truth. I am not claiming that the burden of shame is always the same; in fact, it varies immensely among countries. But the bond of shame - shame as a bond - invariably works, for a larger or smaller number of individuals. Aristotle listed "shame" ('aidos') among the passions, pointing out that "it is not a virtue" ('Nicomachaean Ethics' 1108 a 30-31). This definition still makes sense. Shame is definitely not a matter of choice: it falls upon us, invading us - our bodies, our feelings, our thoughts - as a sudden illness. It is a passion placed at the intersection between biology and history: the domain which Sigrid Weigel made so distinctively her own.
Hassrede und Katzenbilder : Wie können im globalen Netz nationale Gesetze respektiert werden?
(2017)
Der Zugang zum Internet ist die Voraussetzung, um online aktiv zu sein, zu kommunizieren oder einzukaufen. Zugang allein reicht aber nicht: Erst sogenannte Internet-Intermediäre (oder Internet-Inhalt-Vermittler) wie Google, Facebook oder Amazon ermöglichen es, das Internet zu nutzen, um über Social Media zu kommunizieren, auf Musik, Filme und Texte zuzugreifen oder überhaupt erst via Suchmaschine passende Online-Angebote ausfindig zu machen. Intermediäre verbinden Nutzer mit dem Internet, sie helfen bei der Datenverarbeitung, sie hosten und indexieren Inhalte, sie ermöglichen die Suche, sammeln Informationen, vermitteln Angebote Dritter und ermöglichen Käufe und Zahlungen...
"Marmor lacht nicht", Bronze spricht : Materialfarben in der Skulptur des 18. und 19. Jahrhunderts
(2013)
In der Malerei war die Farbe für den Eindruck flüchtiger Emotionen zuständig; ihr oblag es, Gesichter bleich vor Schrecken, rot vor Wut oder gelb vor Neid darzustellen. Die Skulptur dagegen hatte solche vorübergehenden Affekte zu ignorieren. Dennoch spielte die Farbe als Eigenschaft des Materials für die Skulptur des 18. und 19. Jahrhunderts eine zentrale Rolle. Eingangs mag der Blick auf eine zeitgenössische Arbeit die Bedeutung der Materialfarben verdeutlichen.
Vom Wünschen
(2016)
Es freut mich, dass ich bei der Gelegenheit meiner Antrittsvorlesung über ein Thema sprechen kann, das es mir schon lange angetan hat: das Wünschen. Ich werde gleich in einem einleitenden Abschnitt skizzieren, wie ich den Umfang und Inhalt des Themas bestimme und welche Fragen sich für mich daran anschließen. Hauptsächlich möchte ich mich dann auf einen Aspekt konzentrieren, der meiner Professur hier am Institut für Kulturwissenschaft der Humboldt-Universität zu Berlin besonders entspricht. Das Fachgebiet lautet "Kulturforschung mit Schwerpunkt Wissensgeschichte", und deshalb möchte ich in dieser Antrittsvorlesung vor allem über den Zusammenhang von Wünschen und Wissen sprechen, und somit auch über die Spannungen zwischen beidem. Es soll um die Frage gehen, was man vom Wünschen wissen kann, um die Frage, wie Wünschen das Wissen initiiert oder antreibt, aber auch darum, wie es das Wissen behindern oder sogar verhindern kann.
1777 veröffentlicht Lessing 'Über den Beweis des Geistes und der Kraft', eine seiner Streitschriften zur Bibel. Letztlich, argumentiert er hier, sei die Echtheit der Bibel gar nicht entscheidend, weil historische Tatsachen ohnehin nicht von allgemeinen Wahrheiten überzeugen könnten. Dieser Unterschied von zufälligen Geschichtswahrheiten und notwendigen Vernunftwahrheiten sei, so die berühmte Formulierung, der "garstige breite Graben" über den er nicht kommen könne, so oft und ernstlich er auch den Sprung versucht habe. So einen Graben mag einer vor sich sehen, wenn er vor einer Antrittsvorlesung steht, einem akademischen Schwellenritual, das wo keinen Sprung so doch einen entschiedenen Schritt erfordert. So einen Graben gibt es auch in der Sache: Man steht vor einem weiten Feld - in meinem Fall Kulturforschung mit Schwerpunkt Religion - dessen Grenzen sich im Ungefähren verlieren. Aber es ist nicht ganz leicht, auf dieses Feld zu kommen, es gibt Hindernisse, Schwellen, mögliche Missverständnisse - eben einen Graben. Es ist nicht mehr wie bei Lessing der Graben von Geschichte und Vernunft oder wie später bei Kierkegaard die Kluft zwischen Vernunft und Glauben. Eher schon ist es der historische Abstand, mit dem jede kulturgeschichtliche Untersuchung zu tun hat. In meinem Fall ist es auch noch ein anderer Graben, es ist der Abstand oder die Spannung von Kultur und Religion - von Forschung einmal zu schweigen -, und damit verbunden auch die Spannung von Religion und Moderne. Denn es ist nicht ganz leicht, Kultur und Religion in ein Verhältnis zu bringen, und es ist es besonders schwer in der Moderne.
Jacob Taubes (1923-1987) und Carl Schmitt (1888-1985) zählen zu den umstrittenen, aber auch faszinierenden intellektuellen Figuren der Bundesrepublik: hier der jüdische Denker und Religionsphilosoph, ausgewiesener Kenner der apokalyptischen Strömungen in Judentum, Christentum, Gnosis samt ihren Folgen, die - nicht nur im christlichen Sinn - Filiationen innerhalb der Antike und ihres Nachlebens darstellen, dort der katholische Autor und Staatsrechtler, bekannt als Wortführer politischer Theologie, berüchtigt für seinen "aufhaltsamen Aufstieg zum 'Kronjuristen'" (Mehring) des Nationalsozialismus - ein Umstand, der sein Werk bis heute tief verschattet. Taubes und Schmitt haben polarisiert und tun es immer noch. Zu Lebzeiten provozierten sie durch ein Verhalten, das vielen als gemein, willkürlich, oft auch irritierend erschien, weil es übliche akademische Kabalen und Winkelzüge auf brüske Weise überschritt. Auch ergriffen sie rücksichtslos Partei, selbst bis zur fast völligen Isolierung: etwa wenn sich Schmitt 1933 als einziger aus der Kölner Juridischen Fakultät weigerte, für den Kollegen Hans Kelsen zu sprechen, als dieser von den Nationalsozialisten entlassen worden war (vgl. Rüthers), etwa wenn Taubes sich in erbitterte, persönliche Verletzungen bereitwillig in Kauf nehmende, akademische Kämpfe verstrickte, die er Ende der 1970er Jahre am notorischen Fachbereich 11 der Freien Universität Berlin [im Folgenden: FU] gegen nahezu alle führte. Doch verstanden es beide auch, geistig anzuziehen und intellektuell anzuregen, wenn sie Debatten begannen oder in sie eingriff en und Ideen aufnahmen, eben eine akademische Kardinaltugend aufs Beste beherrschten: das Verknüpfen von Wissen zwischen den Fächern, um persönliche oder sachliche Verbindungen für neue Fragen produktiv zu machen. Gerade durch die Missachtung gesetzter Grenzen ihrer jeweiligen Disziplin vermochten sie zu einer reicheren Erkenntnis vorzudringen. Darin sind sie Pioniere: Schmitt am Schnittpunkt von staatlichem Recht und christlicher Religion, Taubes in den Konstellationen jüdisch-christlicher Debatten jenseits aller konfessionell betriebenen Bemühungen um Dialog und Versöhnung. Weil ihr Einsatz als Denker - ungeachtet von Eskapaden und Eklats - ein geistig-existentieller war, wirken ihre Impulse weiter, in den letzten Jahren sogar zunehmend, davon zeugen die amerikanischen Übersetzungen, die viele ihrer Schriften und Texte erfahren haben, davon zeugt das Interesse, das sie gerade bei Jüngeren in Europa, Israel und den USA finden, die Philosophie, Jüdische Studien, Kultur-, Literatur-, Religionswissenschaft betreiben.
Der Einfluss des Klimas und Wetters auf den menschlichen Körper rückte seit dem frühen 19. Jahrhundert zunehmend in den Mittelpunkt wissenschaftlicher Untersuchungen. Die unmerkliche Allianz mit einer um die Jahrhundertwende populär werdenden naturheilpraktischen Diagnostik ließ einen ganzen Schwung meteorobiologischer Schriften folgen, und diese proklamierten einhellig den gegenseitigen Austausch zweier Systeme: des menschlichen Körpers und des ihn umgebenden Luftraums. Dabei handelte es sich zunächst um einen Raum ohne greifbare Gegenständlichkeit. Es ist demnach kein Zufall, dass eine vergleichbare Korrelationsbildung nun auch in der kunsttheoretischen Diskussion um den Einsatz der bildnerischen Mittel, jener "malerischen Ausdehnung des Raumes", wie Kandinskij es nannte, aktuell wurde.
Als im Sommer 1912 die zweite Optical Convention in London ihre Türen öffnete, füllten die ausgestellten Instrumente gleich mehrere Räume im Imperial College und im Science Museum in South Kensington. Alle einschlägigen Firmen waren nach London gekommen, um ihre Mikroskope, Kameras, Teleskope, Theodoliten, Spektroskope oder Ophthalmoskope einer interessierten Öffentlichkeit vorzustellen. Da bedurfte es schon einer raffinierten Inszenierung und einer gezielten Medienkampagne, um die Aufmerksamkeit des Publikums auch noch für das 'Optophon' zu mobilisieren, einen vergleichsweise unscheinbaren Holzkasten. Bereits am Vortag seiner öffentlichen Vorführung war deshalb mit entsprechend viel Fanfare in der Londoner 'Pall Mall Gazette' zu lesen: "To-morrow the Optical Convention is to let loose a new invention on the world. An ingenious Birmingham scientist has turned the element of selenium to account by making light audible, and we are to be dazzled and deafened both at once. Sunlight makes a roaring sound, and lightening, presumably, anticipates its concomitant thunder. All we require now is to increase the anticipative process, and then day light will awaken us every morning a couple of minutes before it arrives. What a point for the day light savers!"
Choks, Reflexe, Asja : zu Benjamins 'Vertiefung der Apperzeption' im russischen Avantgarde-Film
(2010)
Walter Benjamin hatte vor allem zwei Themen im Kopf, als er sich Ende 1926 in Moskau aufhielt: Asja Lacis und die russische Avantgarde. Seine Geliebte Asja Lacis allerdings war infolge eines Nervenzusammenbruchs in einem Sanatorium untergebracht und somit für Benjamin kein guter Zeitvertreib. Umso mehr widmete er sich seinem anderen Interesse, traf Vertreter der russischen Avantgarde - neben Schriftstellern auch den Theaterregisseur Vsevolod Mejerchol'd - ging allabendlich in Theatervorstellungen oder ins Kino. Benjamins 'Moskauer Tagebuch' weist einige der Orte aus, die er sah, viele aber auch nicht. Die meisten Gedanken galten ja bekanntlich der sich ihm immer wieder verweigernden Asja. So ist nicht verwunderlich, dass in seinen Aufzeichnungen nur die berühmtesten Filme Erwähnung finden: Sergej Ejzenštejns 'Panzerkreuzer Potëmkin', Dziga Vertovs 'Sechster Teil der Erde', Vsevolod Pudovkins 'Mutter', Lev Kulešovs 'Nach dem Gesetz'. Die schlechten Filme bleiben ungenannt. Doch es erstaunt gerade angesichts seiner Kino-Umtriebigkeit, dass Benjamin in einem Artikel "Zur Lage der russischen Filmkunst" 1927 schrieb: "Die Spitzenleistungen der russischen Filmindustrie bekommt man in Berlin bequemer zu sehen als in Moskau." Er schien damit nicht nur den Erfolg des Avantgarde-Films in Russland zu ignorieren, sondern vor allem den Höhenflug eines Films, der im Winter 1926 gerade anhob - genau in der Zeit also, als Benjamin in Moskau war. Im November kam 'Die Mechanik des Gehirns' als erster so genannter 'Kulturfilm' in die Kinos, eine populärwissenschaftliche Dokumentation über Ivan Pavlovs Reflexlehre, entstanden unter der Regie von dem Benjamin sicherlich bekannten Avantgarde-Filmemacher Vsevolod Pudovkin. Und diese Ignoranz wiederum verwundert umso mehr, wenn man den Kulturfilm vor dem Hintergrund Benjamins damaliger Interessen sieht - Asja und die Avantgarde oder auch: Kindererziehung und politisierte Kunst. Ich werde im Folgenden einer Sache nachgehen, mit der sich Benjamin scheinbar nicht beschäftigt hat und will versuchen zu klären, weshalb seine Auseinandersetzung mit dem Kulturfilm nicht offensichtlich stattgefunden hat, sondern fast unmerklich und wie es doch möglich ist, diese Auseinandersetzung zu entdecken. Dann, so die These für meine folgenden Ausführungen, erscheint auch Benjamins "Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit" mit seinen zentralen Begriffen 'Chok', 'Zerstreuung' und 'vertiefende Apperzeption' in einem neuen, im sozialistischen Sinne geradezu materialistischen Licht. Um diese nicht offensichtlichen Zusammenhänge darzustellen werde ich die Filmpraxis des von den russischen Pädagogen so intensiv propagierten Kulturfilms mit Begriffen Benjamins, also mit seiner Theorie vergleichen. Dies ist natürlich schon dort geschehen, wo Benjamin sich selbst auf Filme bezieht, wie auf Ejzenštejns 'Panzerkreuzer Potëmkin' oder Vertovs 'Mann mit der Kamera'. Die Herausforderung an den folgenden Ausführungen ist, dass Benjamin selbst über 'Die Mechanik des Gehirns' schwieg, und das vielleicht aus gutem Grund, doch darüber lässt sich nur spekulieren.
Die Geräuschkulisse glich einem futuristischen Konzert: Immer wieder heulte eine Sirene auf, während ein Pianist - unterbrochen von Kommandorufen - auf die stets gleichen zwei Tasten eines Klaviers einhämmerte. Der Raum war verdunkelt, so dass die Lämpchen, die am Kopf und am rechten Arm des Pianisten angebracht waren, in der Dunkelheit besser zu sehen waren als der Pianist selbst. Auf den rechten Arm war eine Kamera gerichtet. Vor dem Objektiv befand sich eine Scheibe, die sich drehte, wann immer das Aufheulen der Sirene zu hören war; hinter der Kamera stand eine Gruppe von Wissenschaftlern: Der Neurophysiologe Nikolaj A. Bernštejn untersuchte am Staatlichen Institut für Musikwissenschaft die "Arbeitsbewegungen beim Instrumentalspiel", wie ein Bericht des Instituts für das Jahr 1926, der Bernštejn als Gastwissenschaftler der Sektion für die Methodik des Klavierspiels erwähnte, das Forschungsprogramm der Sektion beschrieb. Bernštejn hatte nach seinem Studium der Medizin und verschiedenen Tätigkeiten in der Kinderpsychiatrie und am Moskauer Psychologischen Institut mit seinen Forschungen zur Bewegung am Zentralinstitut für Arbeit (im Folgenden CIT: Central'nyj institut truda) begonnen, wohin ihn der Gründer des Instituts, Alexej K. Gastev, 1922 als Leiter der Abteilung für Biomechanik geholt hatte. Gemeinsam mit seinem Studienkollegen Krikor Ch. Kekčeev und der Mathematikerin Tat'jana S. Popovabaute Bernštejn dort ein Labor für die fotografische Aufzeichnung von Bewegungen auf. Alle drei wechselten 1925 an das Moskauer Psychologische Institut, wo sie ihre Studien zur Bewegungssteuerung unter neurophysiologischem Gesichtspunkt fortsetzten. Am CIT hatte Bernštejn unter anderem den Schlag mit einem Hammer oder den Gebrauch von Feile und Säge untersucht. Hiervon unterschied sich das Klavierspiel für Bernštejn in einem entscheidenden Punkt: Es untersteht einer auditiven Kontrolle, die - auch wenn sie sich nicht auf die Spielbewegungen selbst richtet - simultan zu den Spielbewegungen abläuft. In Bernštejns Arbeiten zum Klavierspiel treffen also zwei Formen der Kontrolle aufeinander: die auditive und die visuelle. Die folgenden Ausführungen wollen zunächst die Herkunft dieser beiden Formen der Kontrolle aus der virtuosen Klaviermusik und aus der experimentellen Bewegungsphysiologie herleiten und dann ihre Transformation in das komplexe System simultaner Beobachtungsmodi in Bernštejns Experimenten nachzeichnen.
Schön ist nicht nur das Spiel mit Buchstaben und Erinnerungssplittern, sondern auch das mit Zahlen. Im Jahr Zweitausendundzehn ist es dreißig Jahre her, dass ich der damals dreißigjährigen Sigrid Weigel zum ersten Mal begegnete. Mit ihr als Dozentin lernte ich - nach meinem Wechsel von der Bonner zur Hamburger Universität im Sommersemester 1980 - eine Form des leidenschaftlichen Studierens kennen, die ich noch mehr ersehnt hatte als das Großstadtleben. Es war wohl eine der glücklichen Konstellationen, in denen Lehrende und Lernende gemeinsam aufbrachen, um neue Fragen an ihr Fach, die Literaturwissenschaft, zu stellen, vergessene Texte (von Frauen) zu entdecken und bekannte (von Männern) anders zu lesen. Getrieben von der Wissbegierde, was es denn mit der Geschlechterdifferenz auf sich hatte, übten wir uns in genauer Lektüre, intensiver Analyse und theoretischer Reflexion.
Pathosforschung
(2010)
Wenn ich über Franz Liszt spreche, dann über jemanden, der einen zweischneidigen Ruf genießt: Einerseits ist Liszt der berühmteste Klaviervirtuose seiner Zeit (und vielleicht aller Zeiten), als Komponist jedoch rangiert Liszt für viele, als Verfasser von Ungarischen Rhapsodien und Liebesträumen, in einem Register, das man Gehobene Unterhaltungsmusik nennen könnte. Ich möchte Ihnen hier eine andere Komposition von Liszt vorstellen, keine Rhapsodie, keinen Liebestraum - oder vielleicht doch? -, ein Stück jedenfalls, zu dem sich viele Geschichten erzählen lassen. Eine davon ist tatsächlich eine Liebesgeschichte und zugleich die Geschichte eines Skandals.
Theater und Serie
(2010)
Soaps machen dumm. So ein permanent aktualisiertes Vorurteil. Gegen die Wiederholung des Immergleichen durch standardisierte Serienproduktion bemüht man gerne das Theater - und das heißt letztlich die Mutter aller Fernsehserien: den Guckkasten. Doch längst führt das Theater vor, was sich vom Fortsetzungsformat der Seifenoper lernen lässt: die exponierte Wiederholbarkeit eines auf das Personalisieren angelegten Schemas. So kann gerade der Bezug auf die Soap Opera im Theater der potenziellen Reflexion von Form und Funktion des Dramas dienen. In diesem Sinn akzentuiert René Polleschs Arbeit eine noch kaum erforschte, gleichwohl paradigmatische Form nicht protagonistischer Darstellung. Wie kein anderer mobilisiert er jenes Serienprinzip, das die einzelne Episode nicht mehr als geschlossenes Ganzes betrachtet, für ein politisches Theater der Gegenwart. Was Polleschs "Soap-Theater" zur Sprache bringt, besteht aus recyceltem Material. Die Aufführungen selbst sind immer wieder als Fortsetzungen angelegt. Polleschs Markenzeichen ist denn auch das schnelle Auf-Anschluss-Sprechen. Die in seinen Stücken nichtdialogisch angelegte Rede springt von Darstellerin zu Darsteller. Dabei wird nicht nur das Gesprochene, sondern ebenso die sprechende Figur als populärkulturelles Zitat ausgewiesen. So zeugt die Übersetzung des Soapformats auf die Bühne von den praktisch-reflexiven Umgangsmöglichkeiten mit fortgesetzten Wiederholungen. Die Instanz der Rede ins Serielle überführend, zielt Pollesch präzise auf jene personale Darstellungsfunktion des Sprechtheaters, die die Kritiker der Massenkultur als Residualbereich individuellen Ausdrucks verklären. Seine Inszenierungen unterlaufen mithin das dem Drama zugrunde liegende protagonistische Modell, das von der evidenzstiftenden personalen Darstellung einer literarisch vorgegebenen - singulären - Figur im Hier und Jetzt ausgeht. Der absoluten Gegenwartsfolge innerhalb eines geschlossenen Ganzen widerstreitend, stellt Pollesch durch den Einsatz des Serienprinzips jenes Spannungsverhältnis aus, das die verschränkte Zeitlichkeit des Theaters immer schon kennzeichnet: die Relation zwischen der physischen Präsenz des Darstellers, dem körperbildlichen Herbeizitieren einer bestimmten gesellschaftlichen Position und der Fiktion einer im Zitat szenisch herzustellenden sprechenden 'persona'. Im Verweis auf diese Grundelemente des Sprechtheaters, deren Fügung die dramatische Gestalt produziert und die allererst die Voraussetzung ihrer Repräsentationsfunktion ist, wendet sich Polleschs Arbeit gegen eine gängige Form der Ästhetisierung von Politik. Denn gerade durch seinen spezifischen Einsatz des Serienprinzips treten die Darstellerinnen und Darsteller auf der Bühne nicht als authentifizierende Repräsentanten einer Figur, sondern als leibhaftiger Verfremdungseffekt hervor. Physisch präsent und zugleich reflexiv zitierend, machen sie so auf die latent gehaltene Serialität jener vom Theater herkommenden Darstellungsform aufmerksam, die mit ihren eigenen Voraussetzungen auch die ihr inhärente politische Funktion verstellt. Polleschs 'Tod eines Praktikanten' - 2007 auf dem Prater, der kleinen Spielstätte der Berliner Volksbühne, aufgeführt - zeigt exemplarisch, worin die Schlagkraft einer offensiven Fusion von Theater und Serie besteht.
Laut Richard Dyer haben die Menschen schon immer Serialität als Spiel mit Wiederholung und Erwartung geliebt: "It’s clear that humans have always loved seriality. Bards, jongleurs, griots and yarnspinners (not to mention parents and nurses) have all long known the value of leaving their listeners wanting more, of playing on the mix of repetition and anticipation, and indeed of the anticipation of repetition, that underpins serial pleasure. However, it is only under capitalism that seriality became a reigning principle of cultural production, starting with the serialisation of novels and cartoons, then spreading to news and movie programming." Dyer unterscheidet in seinem historischen Abriss kaum zwischen Wiederholung und Serialität. Die Menschen lieben Serialität, weil es eine Lust an der Wiederholung gibt, doch erst seit der seriellen Produktion des Kapitalismus hat sich die Serie als Format durchgesetzt. Die Wiederholung im Kinderspiel unterscheidet sich jedoch von den Fortsetzungsromanen und Fernsehserien, da hier Variation und Linearität partiell eine größere Rolle spielt, die sich nicht auf die Erwartungshaltung in der rituellen Wiederholung reduzieren lässt. Denn obwohl dem zuzustimmen ist, dass "allen serialen und seriell angebotenen Produkten [...] das stilistische Merkmal der Wiederholung gemeinsam [ist]", ist es meiner Ansicht nach notwendig, zwischen der Wiederholung und dem Seriellen in kulturellen und ästhetischen Ausdrucksformen zu unterscheiden. Daher werde ich zunächst die Wiederholung genauer skizzieren, bevor ich auf spezifische serielle Formate in Film und Fernsehen eingehe.
Zu Beginn der industriellen Massenproduktion und vor dem Zeitalter des Klons stand Serialität nicht für identische Reproduktion, sie verschränkte vielmehr Ordnung und Variation. Durch diese begriffliche Fassung von Serie war es möglich, dass sie nicht allein Mittel der Standardisierung und Gesetzmäßigkeit war, sondern mit ihr auch Varianzen und Differenzen formuliert werden konnten. Kunstgeschichtlich manifestiert die Serie - exemplarisch kann hierfür Claude Monet stehen - grundlegende konzeptionelle Veränderungen in der Auffassung von Kunst: Auf der einen Seite macht die serielle Darstellung deutlich, dass die bildende Kunst sich von ihrer repräsentativen Aufgabe emanzipiert hatte. Das Bild war fortan keine "Form 'natürlicher Malerei'", sondern eine Übersetzung, eine Transformation, die sich einem Wechselspiel denkerischer, technischer und darstellender Prozesse verdankt. Bild und bildnerische Verfahren werden erkennbar als künstlerische Verfahrensweisen, die auf je spezifische gesellschaftliche, zeitliche und ästhetische Anforderungen reagieren und diese einbeziehen. Auf der anderen Seite sind mit der seriellen Darstellung aufgrund ihrer Reflexion der Relationen der Elemente zueinander eine Spannung zwischen Offenheit und Geschlossenheit, eine Verräumlichung von Zeit und ein Umschlag von Diachronie in Synchronie verknüpft. Die Serie in der bildenden Kunst kann als eine Figur charakterisiert werden, die Konzepten der Identität, der Sukzession und linearen Entwicklung konträr ist. Insofern verwundert es nicht, dass in den 1960er Jahren, in denen das Interesse an seriellen Verfahren, Ordnungen und Produktionen erstarkte, das Prinzip der Serie zu Reformulierungen und Verschiebungen des Kunstbegriffs beigetragen hat.
So wie der intermediale Dialog eine Polyphonie der Erzählerperspektiven zum Ausdruck bringt, die in 'Leben? Oder Theater?' narratologisches Programm ist, stellt die Serialität hier kein rein formales Experiment dar, sondern ist eng mit der Erzählung verbunden. Auch wenn es im Folgenden vorrangig um eine Serialität im Medium des Bildes geht, ist diese in eine Bilder'geschichte', mithin in einen narrativen Gesamtzusammenhang integriert und muss aus diesem und in Hinblick auf ihre Funktion für diesen untersucht werden. Es wird sich zeigen, dass Wiederholung und Serialität in 'Leben? Oder Theater?' thematisch immer an die Auseinandersetzung mit dem Tod bzw. das Spannungsverhältnis zwischen Leben und Tod gebunden ist.
Der musikalische Serialismus wird bis heute als ein mechanistisches Kompositionsverfahren abgetan, wie es typisch für die verunsicherte Nachkriegszeit der 1950er Jahre zu sein scheint. Dieser Ansatz übersieht die grundsätzlichen Impulse, die von diesen Ansätzen bis heute ausgehen. Festmachen kann man dies z. B. daran, wie stark seit den 90er Jahren ein formales strukturorientiertes Denken in der elektronischen Musik zum Durchbruch gelangte, wie es noch mit Sound- und Midiorientierten Verfahren in den 80er Jahren nicht absehbar war. Für einen qualitativ neuen Typus form- und strukturgenerierender Tools im Virtuellen digitaler Symbolverarbeitung stehen heute kollaborative Echtzeitprogramme bereit, die 'Komposition' als ein neues strukturelles Dispositiv erfahren lassen und in direkter Linie zum Serialismus gesehen werden können.
Die 16 Bücher, die Ed Ruscha zwischen 1963 und 1978 publizierte, teilen eine Reihe charakteristischer Eigenschaften. In ihrer unprätentiösen Erscheinung bestechen sie auf unverkennbare Art und Weise durch ein klares Layout und eine nüchterne Typografie, die scheinbar im Widerspruch zu den oft etwas absurd anmutenden Titeln wie 'Twentysix Gasoline Stations', 'Nine Swimming Pools', 'Some Los Angeles Apartments' oder 'Every Building on the Sunset Strip' stehen. Im Innern der Bücher ist jeweils eine Serie meist schwarz-weißer Fotografien zu sehen, welche abbildet, was im Titel angekündigt wird: Tankstellen, Swimmingpools, Parkplätze etc. Obschon einem beim Durchblättern auf den ersten Blick hauptsächlich die Fotografien ins Auge springen, wird rasch deutlich, dass diese immer in engem Zusammenhang mit ihrem Trägermedium, dem Buch, stehen. Zwei Aspekte von Ruschas Fotobüchern sind interessant im Hinblick auf das Prinzip der Reihung: einerseits das prototypische Vorgehen des Künstlers in der Produktion seiner Publikationen und andererseits der Zusammenhang zwischen der Präsentation einer fotografischen Serie in Buchform und der daraus resultierenden doppelten Zeitlichkeit.
Einer der berühmtesten Sätze Nietzsches lautet: "Was ist also Wahrheit? Ein bewegliches Heer von Metaphern, Metonymien, Anthropomorphismen kurz eine Summe von menschlichen Relationen, die, poetisch und rhetorisch gesteigert, übertragen, geschmückt wurden, und die nach langem Gebrauche einem Volke fest, canonisch und verbindlich dünken [...]". Der Satz wird immer wieder zitiert und aufgerufen, wenn es darum geht, Geltungsansprüche von Theorien in Frage zu stellen, Begriffe und normative Vorstellungen zu dekonstruieren oder den Anteil des Figurativen im Denken hervorzukehren. Dabei liegt der Akzent dann auf den dominanten Tropen Metapher und Metonymie, wenn nicht allein auf der Metapher. In jedem Fall aber ist es die Identifizierung von Wahrheit und Metapher, die in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit gerückt wird, von Wahrheit und Bild oder übertragener, 'uneigentlicher', verschobener Bedeutung, von Wahrheit und nicht fixierbarer, sondern in Bewegung befindlicher Bedeutung, und die Verschiebung kommt - dem Wortsinn entsprechend - durch Tropen zustande. Denn zumindest traditionelle Rhetorik definiert Tropen als diejenigen Figuren, bei denen sich die Bedeutung vom ursprünglichen Wortinhalt wegwendet (τρέπεσϑαι). Tropen sind Wendungen des Sinns. An Nietzsches berühmtem Satz soll hier das Augenmerk kurz auf zwei andere Aspekte gerichtet werden: zum einen auf die in dem Satz selbst enthaltene Metapher, die des Heeres, und zum anderen auf die Struktur des Satzes, d. h. darauf, dass die Prädizierung der Wahrheit als "Heer von Metaphern, Metonymien, Anthropomorphismen" ihrerseits eine rhetorische Figur darstellt, nämlich eine Aufzählung.
Wie wenige literarische Werke stehen die Romane von Bret Easton Ellis im Zeichen von Serie und Wiederholung. Sie bersten vor Motiv- und Form-Wiederholungen, sind mit ihren intertextuellen Zitaten einerseits Fortsetzungen voneinander, andererseits "Wiederholungen" von Figuren aus den Texten anderer Autoren und Produzenten, sie sind besessen von der Serialität der elektronischen Medien, und - last but not least - sie warten mit einem Serienmörder (in 'American Psycho') und mit Anschlagsserien (in 'Glamorama') auf. Damit überschreiten sie die analytische Unterscheidung der Bereiche des Seriellen, die Christine Blättler in ihrem enzyklopädischen Aufsatz über die Serie aufgestellt hat: Produktion, Präsentation und Narration sind bei Ellis gleichzeitig von Wiederholungen und Serien gekennzeichnet.
Paul Kammerer, der 1919 sein Buch 'Das Gesetz der Serie' publizierte - das wohl ehrgeizigste und umfangreichste Buch dieser Art, das je veröffentlicht wurde - gehört in die Reihe der leidenschaftlichen Sammler von Zufällen. Und er bestätigt die schon bei Wilhelm von Scholz bemerkte Neigung, die Welt der Zufälle zur Konkurrentin der Normalität kausalen Denkens zu machen und aus dem scheinbar Zufälligen eine Welt zu konstruieren, die von der Normalerfahrung verdeckt ist - eine Welt der ungestörten Bedeutsamkeit. Die Zufälle, die der Biologe Kammerer viele Jahre hindurch in seine Merkbücher eintrug, werden schließlich durch seine Theorie verwandelt in Erscheinungen der Serialität, von Wiederholung und Periodizität, wodurch das Tor aufgestoßen werde zu einer neuen Gesetzlichkeit. Wo Kausalität war, sollte Serialität werden. Das scheint der Sinn des Buchtitels 'Das Gesetz der Serie' zu sein, das in gewisser Weise ein Gegenprogramm zu Freuds: "Wo Es war, soll Ich werden" formuliert. Denn es soll eben nicht der 'subjektive' Zufall sein, die in die kausalgesetzliche Naturordnung eingewobene Zufälligkeit. Daneben soll vielmehr eine zweite Ordnung aufscheinen, die nicht weniger regelmäßig ist. Man muss sich vor Augen halten, dass Paul Kammerer nicht eigentlich ein Buch über, sondern eines gegen den Zufall geschrieben hat, über den er nur mit Herablassung oder Verachtung spricht. Von Zufall dürfe, erklärt er, keinesfalls geredet werden: "Ganz abgesehen davon, dass die Erklärung einer Begebenheit durch 'Zufall' ein grober Missbrauch ist und in keiner wissenschaftlichen Begründung geduldet werden sollte." Der Zufall dient ihm nur dazu, das Tor zum Gebiet seiner Serialitätsforschung abzustecken, das er mit keinem geringerem wissenschaftlichen Ernst ins Auge fasst als Sigmund Freud die Träume und pathologischen Phänomene des Alltags.
In Menschenobhut können junge von Menschenhand aufgezogene Dachse sehr zahm werden. Daher kennt man eine Eigenheit der Dachsheit, auf die es mir hier ankommt: Man kann Dachse nur bedingt erziehen. Sie reagieren nämlich nicht auf negative Verstärker, wie man im Fachjargon all jene Bestrafungstechniken von Ausschimpfen, Futterentzug über Prügel bis zu Elektroschocks nennt, die immer noch die Grundlage fast jeder Dressur, sei es im Zirkus, im Pferdesport oder Hundespektakel bilden. Der Verhaltensforscher Irenäus Eibl-Eibesfeldt ist an dieser Eigenheit des Dachses im Falle seines von Hand aufgezogenen zahmen Dachses schier verzweifelt, bis er erkannte: Dass es Tiere gibt, die die Reaktion auf den negativen Verstärker nicht in ihrem Verhaltensprogramm haben und somit undressierbar sind. Eibl mochte seinen Dachs aber trotzdem, und nachdem er es aufgegeben hatte, dem Dachs das freie Geruchsmarkieren im Haus verbieten zu wollen, gestaltete sich das Zusammenleben auch wieder ohne Verzweiflung. Damit bin ich bei meinem Titel angekommen: Reden wie ein Hund - Pfeifen wie eine Maus - Lernen wie ein Dachs. Über abgebrochene Serien des Tier-Werdens in Kafkas Erzählungen. Das Vorhaben ist der Versuch, anhand dreier Erzählungen Kafkas - nämlich die 'Forschungen eines Hundes', 'Josefine, die Sängerin' und 'Der Bau' - eine Art Entwicklungslinie im Tier-Werden Kafkas aufzuzeigen, die mit dem unerziehbaren Dachs abbricht, aber damit nicht, wie man Kafka oft unterstellt hat, im unentschiedenen Nichts landet, sondern einen Ausweg zeigt, mit dem man leben kann. Das hoffe ich zum Ende deutlich machen zu können.