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Pseudomorphose
(2013)
Der Sprachgebrauch verleitet dazu, Pseudomorphosen als bloß täuschenden Anschein jenes Gestaltwandels zu verstehen, der sich in (echten) Metamorphosen vollzieht. Dort tut sich tatsächlich etwas, aber die Pseudomorphose tut nur so, als ob. Allerdings zeigt schon die echte Metamorphose, der das Christentum nach Blumenberg den Garaus macht, auch beim alten Heiden Goethe noch oder schon pseudomorphotische Züge. Wenn alles Blatt ist, darf man legitimerweise fragen, ob da überhaupt etwas metamorphorisiert. Als Metapher geht die Pseudomorphose auf Oswald Spengler zurück, der sie der für historische Sedimentierungs- und Verwerfungsprozesse seit dem 19. Jahrhundert so ertragreichen Mineralogie entlehnt hat.
Am "Funktionsübergang von Dichtung und Publizistik", so Wolfgang Preisendanz, bilde sich bei Heine eine Kunstprosa aus, die Einspruch gegen Hegel erhebt und das Fortleben nicht mehr schöner Kunst in Gestalt moderner oder realistischer Kunst verbürgt. Ob Heine seiner Hegel-Bewunderung zum Trotz als Kronzeuge neuer, moderner Kunst gelten darf, sei dahingestellt. Eine Entscheidung darüber hinge nicht zuletzt von dem an ihn angelegten Modernebegriff ab. Der geläufige - mit Heine als Übergang - zeugt jedenfalls 'contre coeur' vom Rechtfertigungszwang, den Hegels Diktum zumindest auf Literarhistoriker immer noch ausübt. Doch nur bedingt kann Heine ihren Absichten dienlich sein. Dass er selbst, trotz gelegentlich ausgedrückter Hoffnungen, denen zufolge "die neue Zeit […] auch eine neue Kunst gebären […], sogar eine neue Technik" hervorbringen würde, doch eher pessimistisch in die Zukunft des "greisen Europa" sah und die Frage zu bejahen geneigt war, die er am Ende des Berichts über die Gemäldeausstellung von sich wies: "Oder hat es überhaupt mit der Kunst und mit der Welt selbst ein trübseliges Ende?", soll im Folgenden als ein Aspekt seiner Formel vom Ende der Kunstperiode erhellt werden.
Als der Positivismus auf allen Fronten, insbesondere derjenigen der 'harten' Wissenschaften wie Physik und Mathematik, in die berühmte Grundlagenkrise geraten war, richtete sich das Interesse der Kulturwissenschaften am Anfang des 20. Jahrhunderts auf eine Neubestimmung von Natur und Geist. Der geheime Fluchtpunkt, das flüssige Substrat dieser sehr heterogenen intellektuellen Anstrengungen hieß damals häufig: Leben. Im Sog solcher Strömungen gelangte auch Goethes Metamorphosen-Lehre zu neuer Geltung. Nach Jahrzehnten der Latenz und Ridikülisierung durch Haeckels 1866 erschienene 'Generelle Morphologie der Organismen' in Zusammenhang mit Darwin gebracht und deszendenztheoretisch aktualisiert, begann die Metamorphose nach der Jahrhundertwende in zahlreichen anderen und keineswegs nur monistischen Zusammenhängen nachgerade zu wuchern: bei Kulturwissenschaftlern wie Simmel und Cassirer, in der idealistischen Biologie, bei rationalitätskritischen Lebensphilosophen wie Spengler und Klages, unter Kunst- und später Literaturwissenschaftlern wie Worringer, Wölfflin, Walzel, Jolles, Günther Müller, bei Künstlern wie Rilke, Einstein und Kafka. In einem Kapitel mit der Überschrift "Zur ideologischen Morphologie der literarischen Bestiae" nahm Franz Bleis 1922 erschienenes 'Bestiarium der Modernen Literatur' die Morphologie-Mode bereits satirisch-kritisch in den Blick.
Dass das ZfL ihn seit Kurzem als Senior Fellow führt, passt so gar nicht zu der ungestümen Neugierde und den kreativen Energien, die sich Detlev Schöttker nicht nur bewahrt hat, sondern die jüngst über der Beschäftigung mit einem neuen Gegenstand eine neue Qualität gewonnen haben. Instantan, vehement und bedingungslos hat er sich nach dem Umzug des ZfL nach Wilmersdorf in ein neues Forschungsprojekt weniger vertieft als gestürzt. Doch recht besehen ist es kein neuer Gegenstand, sondern es sind seine alten Bekannten, die ihm rund um den Fasanenplatz wiederbegegnen. Ein größeres Geschenk als diese Nachbarschaft hätte man ihm vielleicht nicht machen können: Die literarische und kulturelle Moderne entstand hier! Der Fasanenplatz ist ein 'Freilichtmuseum' der Moderne mit Hauptmann, Brecht, Benjamin und vielen anderen. Und Detlev Schöttker wäre nicht Detlev Schöttker, wenn er die Öffentlichkeit nicht sogleich über einige seiner Funde und Entdeckungen informiert hätte. In der FAZ sind bereits mehrere Artikel von ihm über die erstaunliche Bedeutung unseres Kiezes für die Moderne erschienen.
Wem es an eigener Erfahrung oder Anschauung mangelt, der kann sich u.a. von Theweleit darüber belehren lassen, dass beim Fußball viel gelitten wird. Auch der Fan ist alles andere als ein 'standhafter Zuschauer ästhetischer Leiden', denn er leidet wahrhaftig und sozusagen leibhaft mit. Darin ist und bleibt, mit Verlaub, auch der moderne Fußball ein so archaisches Phänomen wie, sagen wir, die sophokleische Tragödie, in der auch viel gelitten wird und die auch keine Zuschauer, sondern ausschließlich Ritualteilnehmer kennt. Mit dem Leidensbegriff, den die moderne Kultur ausgebildet hat, hat der Fußball nichts zu tun, eher schon fungiert er als Gegengift für Kulturleidende. Man kann sich kaum vorstellen, dass Adorno von diesem Mittel Gebrauch gemacht haben sollte. O-Ton Youtube: "[M]an muß […] daran erinnern, daß die Menschen, die also auf dem Sportfeld zuschauen und zwar in allen Ländern […], gegen die Fremdgruppe, also gegen das ausländische Team, sich in einer Weise benehmen, die den einfachsten Anforderungen der Gastfreundschaft [...] aufs Krasseste widerspricht." Nun ja; Adorno war eben Theoretiker von "Gruppenverhalten" und als Fußball-Fan ist er so schwer vorstellbar wie als Spieler. Oder doch? Gibt es vielleicht auch bei ihm Rudimente eines Fan-Begehrens, die nicht in der Analyse von Gruppenverhalten aufgehen und theorieimmanente Selbst-Widerstände artikulieren? Dagegen spricht vorläufig die übermächtige Tradition des Leidens an der Kultur, der Adorno ganz ohne Zweifel verhaftet ist, eben weil er ihr Fan nicht sein konnte oder wollte.
Law and literature: that is a sufficiently broad subject to warrant reference to the Fontane character Effy Briest’s "wide field." Indeed, the sites where law and literature encounter each other, where they border on each other, merge, converge, overlap, or where they relate as opposites, even finding themselves as rivals or enemies seem legion. In contrast to the intentions of Effy Briest in that famous novel, my reference to this line is not intended to abort further inquiries; instead I want to chart the field in question with the aim of developing a preliminary typology of the ways in which law and literature have been engaged and have engaged one another. Against the background of this overview, I want to turn to a much smaller field. This small field - a plot of long fallow farmland, to be exact, located between two adjacent, perfectly maintained wheat fields in a fictive Swiss village - will serve as an example or test site for "law and literature" as they emerge in Gottfried Keller’s narrative 'Romeo und Julia auf dem Dorfe', from his mid-nineteenth century collection of novellas 'Die Leute von Seldwyla'. Whether and how the case study of that small field at the centre of Keller’s story can make a case for the larger field of "law and literature" remains to be seen.
Das ZfL dürfte die einzige Institution gewesen sein, der er je nähergetreten ist. Als Senior Fellow schätzte er vor allem den Zugang zur Bibliothek des Hauses, wo man ihn häufig im Gespräch fand mit den Bibliothekarinnen oder anderen Besuchern, stets neugierig, mitteilungsfreudig, und meistens heiter. Manche Jüngere haben erst im Laufe der Zeit erfahren, dass der muntere ältere Herr so berühmt war. Ansonsten pflegte er gewissenhaft Abstand zu allem Institutionellen. Die Position des nicht direkt involvierten Beobachters war ihm schon während des Studiums in Frankfurt a.M. und Berlin zur zweiten Natur geworden. Sie befähigte ihn zeitlebens zu oft überraschenden, häufig provozierenden Ansichten, die sich mit Eitelkeit nicht vertrugen. Wolfgang konnte sehr charmant sein, aber er war vollständig uneitel. [...] Als Ein-Mann-Forschungsinstitution hat Wolfgang ein denkbar breites Themenfeld bearbeitet. Es reicht von der Geschichte der Eisenbahnreise (1977) über die Bedeutung der Genussmittel (1980) und die Elektrifizierung der Großstädte (1983) bis zu Analysen über die Kulturpolitik in Berlin in der kurzen Spanne nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und vor dem Fall des Eisernen Vorhangs (1995), die Kultur der Niederlage (2001) und das Verschwinden des geordneten Rückzugs aus der Geschichte der Kriege (2019). In Technik-, Mentalitäts-, Intellektuellen- oder Militärgeschichte und auch im wohlfeilen Label der 'Kulturgeschichte' geht keines auf - wenngleich die Frage nach Gewinnern und Verlierern der Geschichte eine Konstante im Werk darstellt.
In den aktuellen Debatten um politischen Aktivismus und institutionalisierte Wissenschaft lässt sich unschwer das alte Muster 'Elfenbeinturm' vs. Engagement erkennen, das zahlreiche Auseinandersetzungen im 20. Jahrhundert geprägt hat. Angesichts dieser langen, wechselvollen und produktiven Geschichte könnte man mit dem Thema eigentlich gelassener umgehen als der aufgeregte Ton heute nahelegt. In ihrem Beitrag zu den Osteuropawissenschaften in Zeiten des Krieges wundert sich auch Nina Weller, dass längst überwunden geglaubte Fronten sich neu formieren. Henning Trüper erinnert daran, dass moderne Wissenschaft immer von politischen Instanzen wie dem Staat abhängt. Patrick Eiden-Offe stellt anhand der Frankfurter Hölderlin-Edition, deren politische Motive einen Paradigmenwechsel in der Editionswissenschaft herbeiführten, die Verträglichkeit von Politik und Wissenschaft exemplarisch unter Beweis. Er zeigt aber auch, dass dem akademischen Erfolg des Projektes dessen politische Motive zum Opfer fielen; bei der Durchsetzung neuer Editionsprinzipien blieb der politisch-aktivistische Impuls auf der Strecke. Könnte es heute umgekehrt die Wissenschaft sein, die auf der Strecke bleibt? Und wenn es so wäre, könnte das damit zusam menhängen, dass einerseits die Politik (national und auf EU-Ebene) sowie viele Förderorganisationen eine 'transformative Wissenschaft' einfordern? Und dass andererseits immer mehr junge Menschen ihre akademische Entwicklung in den Dienst dieses oder jenes Aktivismus stellen? Haben wir es mit einer bisher unbekannten Konvergenz eines Aktivismus 'von oben' und 'von unten' zu tun?
Einer bekannten Redensart zufolge soll man die Feste feiern, wie sie fallen. Zynisch könnte man fragen: Gilt das auch für Epochenwenden? Sind die auch hinzunehmen wiewiederkehrende Feiertage, Grippewellen oder unerwartete Naturkatastrophen? Dass die Covid-19-Pandemie schon jetzt in ganz unterschiedlichen Zusammenhängen als Epochenwende verstanden wird, merkt man nicht nur an der Häufung des vordem eher vermiedenen Epochenbegriffs, sondern auch am Gebrauch der Formel 'vor und nach Corona' - obwohl doch ein Ende der Pandemie derzeit nicht in Sicht ist und deshalb auch und gerade Feste nicht wie üblich begangen werden können (oder sollten).
Hölderlin und Hegel heute
(2020)
Die Wege des Dichters und des Philosophen, die sich in revolutionären Zeiten im Tübinger Stift kennengelernt hatten, waren verschieden und doch vielfältig verbunden. Immer wieder und besonders häufig in diesem doppelten Jubiläumsjahr 2020 sind die Dioskuren des deutschen Idealismus Gegenstand der Betrachtung und Bewunderung gewesen. [...] Am 9. Dezember 2020 wollen wir uns unter dem Titel "Hölderlin und Hegel heute" den Werken dieser beiden Schwaben jedoch vor allem unter der Fragestellung nähern, was diese denn mit uns heute noch oder wieder zu tun haben könnten.