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Ein beunruhigendes Gefühl, ausgelöst durch die knappe Mitteilung auf dem Anrufbeantworter: Walter Wilhelm ist gestorben. Das Gefühl, dass es mir zukomme, über diesen Toten einen Text zu schreiben. Weil anders wahrscheinlich niemand über ihn schreiben würde. Was freilich gleichgültig ist, wegen der Kraftlosigkeit von Geschriebenem, das sich einer Person zu bemächtigen sucht, und angesichts der Flüchtigkeit von Texten im Gedächtnis. Wozu also schreiben – zumal Walter Wilhelm ein emphatischer Gegner akademischer Nachrufe war, grimmiger Verächter sentimental verklärter Lügengeschichten und ins Grab geschleuderter professoraler Hochrufe, die dem einsamen Leben nicht gegönnt waren? Aber manche Worte lassen sich nicht auf Dauer bändigen, bohren sich hartnäckig in die Geschäfte des Tages, winken und starren abends mit vorwurfsvollen Augen auf eine beginnende Bequemlichkeit. Man muss ihnen nachgeben und hoffen, dass sie einen nicht unversehens im Stich lassen.
Mitte der 70er Jahre war ich manchmal bei Walter Wilhelm zu Gast. Wir hatten uns bald nach meinem Dienstantritt als Professor an der Universität Frankfurt im Jahre 1968 kennen gelernt. ...
"Ein jegliches hat seine Zeit und alles Vornehmen unter dem Himmel hat seine Stunde". Wir wissen das. Wir wussten es vermutlich schon lange bevor der "Prediger" Salomo (3.1), der ein Philosoph war, uns vor nunmehr gut 2200 Jahren darüber belehrte. Aber wir handeln nur selten nach unseren Einsichten. Trennungen fallen schwer und Gewohnheiten verkleiden sich bereitwillig als Notwendigkeit. Verschwendung ist den Reichen keine Kategorie, und wer vom Verschwender lebt, erhebt keine Vorwürfe. Schließlich das Wichtigste: Wer außer Gott hat Kraft und Befugnis "Zeit" und "Stunde" zu bestimmen? ...
Wenn in deutscher Gegenwart über Rhetorik gesprochen wird, dann darf man davon ausgehen, dass mit großer Wahrscheinlichkeit auch die packende Geschichte ihres weiland unrühmlichen Unterganges und ihres alsdann strahlendenWiederaufstiegs erzählt wird. Es ist eine sehr schöne Geschichte, denn sie lässt sich lang oder kurz erzählen, sie kann personalisiert und dramatisiert werden – etwa: wie die bedeutenden Bürger Kant und Goethe, obwohl selbst große Rhetoriker, hässliche Dinge über das "Wortgeklingel" verbreiteten, aber am Ende doch nicht Recht behielten –, aber auch wissenschaftsgeschichtliche Aufbereitungen mit "Aufklärung" und "Naturwissenschaften" und "Positivismuszeitalter" bis hin zu "Renaissance" und "Ubiquität der Rhetorik" etc. sind jederzeit möglich.
Gewiss, bei näherem Zusehen ist manches an der Geschichte so ganz richtig nicht. Wie immer, wenn man in DER Geschichte zu "genau" wird, erweist sich das Gespinst leicht als undicht und brüchig. Aber das kann und darf den echten Historiker, auch den Wissenschaftshistoriker, nicht davon abhalten, seine Geschichten immer wieder zu erzählen, denn dafür hat ihn die Gesellschaft bestellt.