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Über die allmähliche Verfertigung des Romans beim Schreiben : zur Entstehungsgeschichte des "Butt"
(2018)
Nach dem Abschluss der später so genannten Danziger Trilogie war das Themenreservoir aus Nazi- und Kriegszeit, das Grass als Zeitgenosse und Augenzeuge zu 'anhaltender Schreibwut' angetrieben hatte, erschöpft. Um zu einem erneuten großen Wurf ausholen zu können, musste er sich dem Problem stellen, wie er einen neuen Stoff, der nicht aus der lebensgeschichtlichen Erfahrung stammt, aus der produktiven Einbildungskraft entwickeln könne – ein mühsamer Prozess der Ideenfindung, den die Untersuchung anhand der erhaltenen Vorarbeiten von den ersten Brainstormings an zu rekonstruieren versucht. Derartige assoziative Verfahren zur Erzeugung eines epischen flow mündeten allerdings in eine veritable Schreibkrise. Um die schweigende Muse zu reaktivieren, war eine Reihe von Impulsen vonnöten, wobei die Einflüsse 'exogenetischer', also psycho-sozio-kultureller Faktoren (die Schwangerschaft der Lebensgefährtin; der andauernd heftige Beziehungskrieg mit dieser; die Geburt der Tochter Helene) entscheidende Impulse erbrachten, die unmittelbar in Literatur umgesetzt wurden. Ein lange währendes 'warming up' – das Einschalten zahlreicher Gedichte und Graphiken – war aber immer noch vonnöten, um die autonome Motivation aufrechtzuerhalten, bis der wunderbare Fischfang gelang, der den Butt ans Tageslicht holte. Wie und unter welchen Umständen Grass dieser Ideenfund zufiel, einen sprechenden Plattfisch zur Zentralfigur seines Romans zu machen, bleibt im dunkeln verborgen: Es war ein echtes Serendipity-Erlebnis, das einen Kreativitätsschub zur Folge hatte, der allerdings weiterhin chaotisch, unstetig und sprunghaft verlief. Die amorphe Stoffmasse konnte erst bewältigt werden, nachdem mit der Disposition (dem Neunmonateschema der Schwangerschaft) und der diachronen Anlage vom Neolithikum bis in die Gegenwart des Autors das Organisationssystem erarbeitet war: Finderglück und selbstvergessenes Schreiben allein erzeugen noch kein episches Großwerk, sofern nicht 'die Fähigkeit zum Ausnutzen von Gelegenheiten' mitwirkt, die nach Luhmann Kreativität ausmacht.
Auf meinem Posten war ich bereits mit sieben; hinter mir, was (angeblich) noch gar kein Leben war, aber vor mir schon ein fantastisches Werk, das einzig aus meiner Einbildung lebte, neben den üblichen Kinderlektüren die einzige Nahrung meines fröhlichen Schreibens; dass dieses Werk eines eigenen Lebens bedürfte, um tatsächlich Inhalt und Form anzunehmen, stand nicht zur Debatte: Wozu seine Zeit mit einem Leben verschwenden, das sich im Werk wie von selbst erfindet und haltbarer als jedes Tagwerk ist. So denkt und schreibt nur ein Kind, das noch jede Legende für Wahrheit hält und das ich bis heute geblieben bin: ein denkendes Kind, das sich in Größe hineinträumt und schreibend den Zugang zu einer Welt erschafft, die mir (wie ich umgekehrt ihr) immer fremd bleiben wird, das aber (immerhin) weiß, dass sich die Geschichte des Lebens nicht in ein Buch binden lässt, sondern sich unablässig weitererzählt und weiterschreibt, von Text zu Text und Buch zu Buch und über die Ränder der Bücher hinaus, ohne Aussicht auf Rettung und Ende, scheinbar absichtslos hinein in die Welt, die sich sowieso nicht erzählen lässt. Die letzten Sätze werden die ersten sein und die ersten die letzten, und immer so fort, bis ich eines Tages (niemand weiß, wann), den Stift endlich aus der Hand legen darf.
Logik der Streichung
(2011)
Was meinen wir eigentlich, wenn wir sagen: Ein Wort, ein Satz, ein Abschnitt, eine Seite wurde gestrichen. Was ist, mit anderen Worten, das Synonym dessen, was wir als Streichen bezeichnen? Es gibt verschiedene Möglichkeiten: Man kann das Streichen als ein Löschen, als ein Tilgen begreifen. Oder aber als Spur eines korrigierenden Überarbeitens: eines Umschreibens im Sinne des Ersetzens und Kürzens, aber auch im Sinne eines Überschreibens.
Schreiben hat den Charakter eines intentionalen Aktes – es setzt die willentliche Entscheidung zur Produktion und zur Positionierung einer Buchstabenfolge voraus. Auch das Streichen hat den Charakter eines intentionalen Aktes – nämlich die bereits produzierten Buchstabenfolgen willentlich zu verneinen, sie zu verwerfen. Almuth Gresillon spricht im Kapitel "La rature " ihres Buchs "La mise en ceuvre" von der "existence double", die der graphischen Materialitat der Streichung einen ambivalenten Charakter verleiht.
Diese doppelte Existenz der Streichung - worin besteht sie?
Erstens: Streichungen hinterlassen sichtbare Spuren auf dem Papier.
Zweitens: Schreibspuren werden durch eine Streichung nicht annulliert.
Führen Schriftsteller und Schriftstellerinnen auch Online-Journale? Ist die tagebuchartige Schreibe der Blogger gar Literatur? Darüber ein Urteil zu fällen, steht der Autorin als Kulturwissenschaftlerin nicht zu. Eines steht jedoch fest: Das Publizieren in einem Weblog und das Veröffentlichen über Verlage scheinen sich gegenseitig tendentiell auszuschließen. Die Schnittmenge von Autoren und Autorinnen, die »Literatur« in Blogs schreiben und solchen, welche in gedruckter Form publizieren, ist sehr klein. Anders ausgedrückt: Wer über einen Verlag Bücher publiziert, führt selten einen eigenen Weblog.