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Die Mädchenfigur in Rilkes Werk ist keineswegs eine singuläre Erscheinung, sondern vielmehr ein Motivkomplex, der bei genauerer Betrachtung eine stringente Entwicklung erfährt. Zum Motivkomplex gehörig sind unter anderem die lyrischen Zyklen "Mädchen-Gestalten, die Lieder der Mädchen", die in diesem Aufsatz in den Mittelpunkt gestellten "Gebete der Mädchen zur Maria" sowie der Essay "Intérieur", worin Rilke einige theoretische Überlegungen zu – wie er betont – "seinen Mädchen" anstellt. Darüber hinaus lassen sich auch Verbindungen zu weiteren einzelnen Gedichten finden. Die Entwicklungslinie der Rilkeschen Mädchenfiguren verläuft bis hin zu den beiden wesentlich später entstandenen gleichnamigen Gedichten "Die Liebende", womit sich schließlich sogar eine Schnittmenge zur Theorie der Intransitiven Liebe aufweisen lässt. In den zumeist lyrischen Texten, die dem Motivkomplex der Mädchenfiguren angehören, ist der ständige Versuch Rilkes spürbar, "seinen Mädchen" einen Sonderstatus zukommen zu lassen. Allerdings ist damit auch die weitgehend unspezifische Suche verbunden, den Rilkeschen Mädchen eine außergewöhnliche Aufgabe und Funktion zuschreiben zu können, die eben diesem Sonderstatus gerecht wird.
Rezension zu Rainer Maria Rilke: "Im ersten Augenblick". Bildbetrachtungen. Herausgegeben von Rainer Stamm. Berlin: Insel Verlag 2015. Insel-Bücherei Nr. 1407. 96 Seiten, 75 farbige Abbildungen. ISBN 978-3-458-19407-1 und Rainer Maria Rilke: "Gesammelte Werke". Herausgegeben von Annemarie Post-Martens und Gunter Martens Stuttgart: Reclam 2015. 1006 Seiten. ISBN 978-3-15-011009-6
Rilke erzählen
(2016)
Für die Erforschung von Rilkes "Leben und Persönlichkeit", ihre Möglichkeiten und Probleme, hat Joachim W. Storck bereits 2004 eine Zwischenbilanz vorgelegt. Er zeigt dabei eine biographische Linie auf, die 1936 mit Joseph-François Angelloz
beginnt und u.a. über Hans Egon Holthusen (1958) und Eudo C. Mason (1964) bis zu Donald Prater (dt. 1989) und Ralph Freedman (dt. 2001/2002) führt. Der Erfolg von Klaus Modicks Roman "Konzert ohne Dichter" (2015)2 verweist jedoch noch auf eine zweite Linie – auf die künstlerische Auseinandersetzung mit Rilkes Biographie, die sich der Fiktionalität als Darstellungsmodus bedient. Hier wären etwa Walter Hasenclevers Roman "Irrtum und Leidenschaft" (entstanden 1934- 1939, veröffentlicht 1969) zu nennen, außerdem Béatrice Commengés Erzählung "En face du jardin: Six jours de la vie de Rainer Maria Rilke" (2007) und die Romane von Moritz Rinke: "Der Mann, der durch das Jahrhundert fiel" (2010), Heiner Egge: "Tilas Farben" (2013) und die bereits erwähnte Publikation von Modick. Diese "erzählten Welten" sollten im Folgenden im Blick auf Rilke untersucht werden.
In den lyrikgeschichtlichen Erörterungen wird überwiegend angenommen, dass die Entstehung der modernen Lyrik eine Wende in der Geschichte der Gattung bedeutet. Um die Schlüssel-kategorien dieser Annahme in Erinnerung zu bringen: Die prämoderne Lyrik habe immer einen Ansatz zur abbildenden, figurativen, naturnahen und persönlichen Darstellung bewahrt, und sie habe dementsprechend ihren Aussagen auch eine außerkünstlerische, ja oft universale Gültigkeit zugetraut; während die moderne Lyrik, in thetischer Gegenüberstellung zur früheren Periode, sich durch einen stets zunehmenden Ansatz zur abstrakten, nicht-figurativen, imaginären und objektiven Schöpfung entwickelt habe. Sie habe dementsprechend die Gültigkeit ihrer Aussagen streng darauf beschränkt, was sie in ihr künstlerisch erschaffenes Universum hineingenommen hat – wobei dieses rein eigengesetzliche, rein selbstbestimmende Universum sich auf die Breite und die Tiefe einer wahrhaftigen Religion erstrecken kann. Im folgenden Beitrag will ich darzulegen versuchen, wie sich Rilke, mit dem Titel eines berühmten Gedichts gesagt, diese prinzipielle "Wendung" angeeignet hat. Um es im voraus kurz zu resümieren: Er hat sie aus einer noch stärker selbstthematisierenden Perspektive heraus, als Schicksalswende des schöpferischen Worts, begriffen – aus dieser Perspektive aber bis zu ihrer zwei-einen äußersten Konsequenz, sei es zu kosmischer Bestätigung, sei es zu kosmischer Verneinung des schöpferischen Worts geführt.
Die Gegenüberstellung David Gascoynes mit Rainer Maria Rilke ist alles Andere als selbstverständlich und hat nichts mit Übersetzung im gewöhnlichen Sinn zu tun, sondern mit übertragener Präsenz, also mit der Übertragung von Impulsen, die ein Werk der Moderne mitgestalten. Bezug, Beziehung und Bezogensein spielen alle eine implizite oder explizite Rolle. Das Gelände abzustecken, auf dem sich die folgenden Überlegungen bewegen, begründet sich mit einem Geflecht von Namen, das stellvertretend für dichterische Welten, für Epochenbewusstsein und -schwellen steht. Ein mögliches Gelände mögen folgende Namen beschreiben: Den Mittelpunkt bildet Rilke: Dessen letzte Lebensgefährtin war Baladine (oder Merline) Klossowska (1886-1969), deren Sohn Pierre Klossowski (1905-2001) dem Dichter Pierre Jean Jouve (1887-1976) half, Hölderlin zu übersetzen, den auch David Gascoyne mit Hilfe von Jouve ins Englische übertrug. Jouve wiederum war Rilke während seines letzten Aufenthalts in Paris begegnet; später kannte Gascoyne Jouve persönlich, von dessen Gedichten jener eine große Auswahl übersetzte; außerdem kannte Gascoyne Jouves Frau Blanche, eine Schülerin Freuds, die auch Gascoynes Therapeutin in Paris war. Mithin ein Geflecht von Namen, von denen man noch viele weitere nennen könnte, etwa die englischer Dichter der 20er, 30er und 40er Jahre sowie diejenigen französischer Surrealisten.
Rilkes Poesie des Grundes in den "Duineser Elegien" : Prolegomena zu einer metaphysischen Lektüre
(2016)
Die Perspektive auf eine Logik des Grundes mitsamt ihrer metaphysischen Diskursgeschichte in den "Duineser Elegien" ist deshalb sinnvoll, weil wesentliche ihrer Denkfiguren von Rilke poetisch aufgenommen und eigensinnig im Medium lyrischer Gestaltung neu vermessen werden: wie dem menschlichen Dasein das, worin es gründet, als Ganzes gerade deshalb entzogen bleibt, weil es darin gründet und sich dieses Gründens mittels Transzendenz und Freiheit zu vergewissern sucht. Die Paradoxie des absoluten Seinsgrundes, zwischen sich und das von ihm Begründete einen Abgrund zu legen, gerade weil er als letzter, tragender Grund aus der Logik des Ableitbaren und damit rational Rekonstruierbaren herausfällt, welche er zugleich erst ermöglicht, erfährt bei Rilke nicht nur eine poetische Zuspitzung: Die Elegien zeigen auf, wie diese Grenzfigur des Denkens einzig in lyrischer Bildlichkeit ihre adäquate Formulierbarkeit erhält.