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Dialektologie des Schweizerdeutschen : Vorwort des Herausgebers zu Linguistik online 20, 3/04
(2004)
Dialektologie ist in der deutschsprachigen Schweiz die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der aktuellen Sprache der Mehrheit der SchweizerInnen, denn in der diglossischen Situation der deutschsprachigen Schweiz nimmt die Mundart die Stellung der Alltagssprache ein. Eine Schichtung von Substandardvarietäten zwischen der Hochsprache und den Dialekten, wie sie in Deutschland und in Österreich vorkommt, existiert in der Schweiz kaum. Eine Ausnahme stellt das Dusselns dar, der Subsidiärdialekt der Deutschwalliser (K. Schnidrig 1986), der offenbar auch in Bosco Gurin vorkommt (C. V. J. Russ in diesem Band). Die schweizerische Alltags- oder Umgangssprache deckt sich also weitestgehend mit dem Dialekt. Dieser stellt dabei aber nicht eine Museumsvarietät der NORMs (non-mobile, old, rural men) dar, sondern ist als lebendige Varietät aller sozialen Schichten in kleinen Weilern und in den großen Städten offen für Einflüsse aus Nachbar- und Kultursprachen. Dementsprechend gibt es auch eine situative und soziolinguistische Variation innerhalb der Mundart. Das wird besonders im offenen System des Wortschatzes deutlich, wo Anglizismen genauso Einzug in die Mundart halten wie in die deutsche Standardsprache: Die hard disk existiert im Schweizerdeutschen ebenso wie in der Standardsprache, und die entsprechende deutsche Lehnbildung Festplatte findet sich in mundartlicher Lautung Feschtplatte auch im Schweizerdeutschen. Dagegen sind Morphologie und Lautung relativ stabil. Sie ermöglichen, wie H. Christen (1998) gezeigt hat, immer noch eine genaue geographische Zuordnung der meisten SprecherInnen des Schweizerdeutschen.
In der Schweizer Dialektologie ist die Sprache der Städte nie in dem Maße aus dem Blick gedrängt worden, wie das innerhalb der deutschen Dialektologie geschehen ist, da die Mundarten in der Schweiz auch in den Städten als Umgangssprache erhalten geblieben sind. Zudem finden sich am Rand der wissenschaftlichen Forschung seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts eine Vielzahl von Publikationen, welche die städtische Variation, meist in Form von (dialektalen) Sondersprachen, thematisieren. Diese dialektologische Kontinuität zeigt sich bis in heutige Arbeiten zu Stadtsprachen in der Schweiz. Diese enthalten noch immer zu einem Großteil areallinguistische Bezüge, während der Bezug zur Standardsprache oft nur einen relativ kleinen Teil ausmacht. Im Folgenden sollen Aspekte aus Arbeiten mit stadtsprachlichen Bezügen und explizit stadtsprachliche Arbeiten aus verschiedenen Regionen der deutschsprachigen Schweiz präsentiert werden. Einzelne dieser Arbeiten stellen deutliche Meilensteine in der Forschungslandschaft dar, während andere eher exemplarisch für eine Forschungsrichtung genannt werden.
Wer im Netz deutschsprachige Seiten besucht, erwartet nicht, dass er Mundart findet, sondern die Schriftsprache, Standardsprache. Schließlich ist das die überregionale Sprachform und sie stellt auch in der Schweiz die unmarkierte Variante dar. Doch in diesem Bereich finden sich eine ganze Menge Web-Seiten, deren Gestalter sich der Welt in Mundart kundtun, wie in Tabelle 1 dargestellt. Neben rund 12'100 Seiten aus der Schweiz,1 die sowohl gehabt als auch gewesen als Hinweis auf standard-deutsche Seiten aufweisen, finden sich auch rund 3400, die mit verschiedenen Kombinationen der Schreibvarianten von ghaa und gsy erscheinen. Sie können damit als Seiten in einer schweizerdeutschen Mundart verstanden werden. Der Anteil mundartlicher Seiten auf dem .ch-Domain kann also auf rund 22 % geschätzt werden.
Der Beitrag dokumentiert die linguistische Sonderposition, die Bern in der schweizerdeutschen Sprachlandschaft hinsichtlich der soziolinguistischen Varianz einnimmt. Dabei steht nicht die linguistische Analyse der Stadtberner Soziolekte und deren exakte Abgrenzung voneinander im Vordergrund, sondern die Einstellungen, die die Mundartsprecher den ihnen bekannten Varietäten gegenüber äußern. Das Bild, das sich aus den Tondokumenten ergibt, wird ergänzt durch Anekdoten aus dem Umfeld linguistischer Auseinandersetzung mit dem Berndeutschen. Insgesamt zeigt sich, dass die soziolinguistische Trennung nicht mehr so stark ist, wie sie im letzten Jahrhundert beschrieben wurde. Markierte Varietäten der Ober- und der Unterschicht verlieren an Prestige und werden abgebaut.
Sociolinguistic research has shown that attitudes towards linguistic variants can distinguish different speech communities. The importance of attitudes for an explanation of linguistic change was examined and compared to traditional explanations by sociolinguistic and dialectologic variables. Therefore the dialect of Aarau was investigated, a small town situated between the two cities of Bern (80 km in the west) and Zürich (50 km in the east) in the German speaking part of Switzerland. Bern and Zürich both are centres of a larger dialect region, Aarau lies in the contact zone of these two dialects. Phonetic variables of the idiolect of 55 speakers were compared to historical data and related to their attitudes towards the neighbouring dialects. The findings so far show no significant correlation of attitudes and language change, but further research including morphology will refine the results. The inclusion of attitudes to explain linguistic change can complement the understanding of linguistic change, but it can not explain it.
Die Sprachsituation der deutschsprachigen Schweiz, wo die nicht kodifizierten Mundarten den weitaus größten Teil der Sprachrealität darstellen, bieten ein weites Feld für Sprachwandelforschung der gesprochenen Sprache, die nur beschränkt auf eine schriftlich fixierte und tradierte Norm beziehbar ist. Noch immer ist da der Kontakt mit anderen Dialekten eine der wichtigsten extralinguistischen Ursachen für Sprachwandel. Ich möchte einen Einblick geben in die Mundart von Aarau, die sich zwischen zwei größeren und starken Mundarträumen des Zürichdeutschen und Berndeutschen in einer Labilitätszone befindet. Der Wandel der Mundart in ihren verschiedensten sprachlichen Aspekten wird in Beziehung gesetzt zu den 'traditionellen' dialektologischen und soziolinguistischen Faktoren, aber auch zum Dialektkontakt und der Einstellung zu den Nachbardialekten. Ich möchte zeigen, dass Erklärungen für einen eindimensionalen Sprachwandel hinterfragt werden müssen, genau so wie Erklärungen, die von einer simplen positiven oder negativen Einschätzung einer Varietät ausgehen.
Die Sprachsituation in der deutschsprachigen Schweiz wird in neuerer Zeit mit dem Begriff "mediale Diglossie" gekennzeichnet (vgl. P. Sieber/H. Sitta 1986, S. 20). Damit wird zum Ausdruck gebracht, daß der Deutschschweizer Mundart spricht, aber Standardsprache schreibt und liest; R. Schwarzenbach (1969, S. 24-27) gebraucht deshalb für das gesprochene Schriftdeutsch auch den Begriff "Lese- und Vortragssprache". Im allgemeinen stimmt diese Verteilung, sie wird aber auch durchbrochen: in den Massenmedien (vgl. M. Ramseier 1988), in der Schule bzw. Universität (vgl. P. Sieber/H. Sitta 1986) und in öffentlichen Reden (vgl. R. Schwarzenbach 1969, S. 241-312) wird auch Standardsprache gesprochen, andererseits sind private Briefe und Werbetexte teilweise in Mundart (R. Schwarzenbach 1969, S. 344-377) verfaßt. Es gibt seit den späten 1960er Jahren auch eine wiedererstarkte Mundartliteratur und gedruckte mundartliche Chansons. Daß das Sprechen der Standardsprache relativ unüblich ist, zeigt die paradoxe, aber fast alltägliche Aussage jemand habe Schriftdeutsch gesprochen.