CompaRe | Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft
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Alin Bashja Lea Zinner fokussiert in ihrem Aufsatz ein Tabu innerhalb der literarischen Aufarbeitungsgeschichte der NS-Verbrechen. In "Das Tabu der sexuellen Gewalt in der Holocaust-Literatur" stehen die literarischen Werke des Holocaust-Überlebenden Yehiel DiNur im Zentrum der Aufmerksamkeit, die mit einem Vexierspiel aus Faktualität und Fiktionalität die sexuelle Ausbeutung von Häftlingen entlarven und sich aufgrund dessen in ihrer Rezeptionsgeschichte Anfeindungen und Vorwürfen der pornographischen Ausschlachtung und Proftigier ausgesetzt sahen.
Shoah heute : komparatistische Perspektiven auf eine kulturanalytische Frage im 21. Jahrhundert
(2022)
Rezension zu Susanne Rohr. Von Grauen und Glamour. Repräsentationen des Holocaust in den USA und Deutschland. Heidelberg: Universitätsverlag Winter, 2021, 386 S.
Gregor J. Rehmer. Die dritte Generation der Shoah-Literatur. Eine poetologische Definition am Beispiel deutscher und US-amerikanischer Texte. Heidelberg: Universitätsverlag Winter, 2021, 479 S.
Der französische Soziologe Pierre Bourdieu forderte immer wieder von der Soziologie ein, dass sie "eine Soziologie der Perzeption der sozialen Welt umfassen [muss], das heißt eine Soziologie der Konstruktion der unterschiedlichen Weltsichten, die selbst zur Konstruktion dieser Welt beitragen." Diese Weltsichten der sozialen Akteure unterscheiden sich in Abhängigkeit von deren unterschiedlichen Positionen im sozialen Raum, d. h. sie entsprechen jeweils den objektiven Unterschieden des Sozialraumes und finden ihren Niederschlag auf allen Ebenen sozialen Handelns und Lebensstils. Mit den vorliegenden Ausführungen möchte Maja Suderland dieser Aufforderung Bourdieus nachkommen und den Versuch unternehmen, eine Rekonstruktion der "Perzeption der sozialen Welt" an Hand einer literarischen Habitusanalyse durchzuführen und damit einen kleinen Teil zur Soziologie der Konstruktion von "Weltsichten" beizusteuern. Die hierbei verwendeten literarischen Beispiele stammen aus so genannter Holocaustliteratur, die sich entweder autobiografisch oder aber auf autobiografischer Basis fiktional mit den Erfahrungen während eines Extremfalls des Sozialen befasst. Daher gibt uns diese Literatur nicht über die Weltsichten "gewöhnlicher" Akteure Aufschluss, sondern über solche, von denen wir zumeist annehmen, dass wir sie wegen der besonders extremen Umstände in den Konzentrationslagern gemeinhin gar nicht als "Handelnde" im eigentlichen Sinne betrachten können. Mit der Analyse soll daher nicht allein dem Bourdieuschen Habituskonzept Plausibilität nachgewiesen und ein Plädoyer für die Methode der literarischen Habitusanalyse gehalten werden, sondern zugleich den KZ-Häftlingen, deren Äußerungen hierbei analysiert werden und mit deren "Perzeption der sozialen Welt" sich Maja Suderland befasst, ihr Status als soziale Subjekte und Akteure - und damit ihre Menschenwürde - zurückgegeben werden. Im Folgenden wird nach einigen einführenden theoretischen und methodologischen Überlegungen anhand zwei ausgewählter empirischer Beispiele aus der Holocaustliteratur eine literarische Habitusanalyse vorgestellt und gezeigt, in wie weit eine solche Analyse tatsächlich Aufschluss über die "Weltsichten" sozialer Akteure geben kann und zu deren Rekonstruktion beiträgt. Einige abschließende Überlegungen sollen das Ergebnis zusammenfassen und zur weiteren Diskussion anregen.
Ilse Aichingers 'Spiegelgeschichte' ist einer der schon früh zum Klassiker avancierten Prosatexte der österreichischen Nachkriegsliteratur. Nachdem Aichinger seit Anfang des Jahres 1948 gut eineinhalb Jahre daran gearbeitet hatte, erschien der Text erstmals in drei Fortsetzungen im August 1949 in der Wiener Tageszeitung, 1952 folgte die Publikation in der Rede unter dem Galgen betitelten Ausgabe von Hans Weigel. Isoliert man das erzählte Geschehen aus der von einer anonymen Du-Stimme anachronisch erzählten Analepse, erzählt man die spiegelverkehrt vergebenen Informationen im Text also 'realistisch' nach, so hat man es zunächst mit einem recht simplen plot zu tun: Eine junge Frau erlebt mit dem frühen Verlust ihrer Mutter und der damit einhergehenden Verantwortung für ihre jüngeren Brüder eine schwere Kindheit, verliebt sich, träumt von einer guten Zukunft, wird ungewollt schwanger und lässt von einer Kurpfuscherin eine Abtreibung vornehmen, an deren Folgen sie stirbt. Aichinger verweigert ihrer Geschichte aber einen solchermaßen linearen Verlauf und unterminiert alle traditionellen "Parameter der realistisch-mimetischen Schreib- und Leseweise", indem sie logische wie chronologische Denkmuster aushebelt. Ihre Geschichte beginnt mit einem Irrealis, nämlich der Imagination des Tot-Seins: Die im Krankenhaus im Sterben liegende Protagonistin antizipiert die eigene Begräbnissituation, schickt sich selbst aus ihrem Grab wieder hinaus und vergegenwärtigt sich ihr Leben stationsweise raffend jeweils gegenchronologisch vom Grab, über die Leichenhalle, das Sterbebett, die Abtreibung, die Liebesgeschichte, den ersten Geschlechtsverkehr, die Schulzeit und die Kindheit bis zu ihrer Geburt.
Im Folgenden soll das Potential eines interdisziplinären narratologischen Theorietransfers an autobiographischen Holocausterzählungen unter Verwendung von Konzepten aus psychologisch orientierten Theorien erprobt werden: der Begriff der Positionierung aus der psychologischen Konversationsanalyse (discoursive psychology) und das Konzept der Glaubwürdigkeitsmerkmale aus der Gerichtspsychologie. Mit diesen Ansätzen sollen zwei charakteristische Merkmale autobiographischen Schreibens beschrieben werden, nämlich seine Zeitstruktur und sein Faktualitätsanspruch.
Rezension zu Axel Dunker: 'Die anwesende Abwesenheit'. Literatur im Schatten von Auschwitz, München (Wilhelm Fink) 2003. 333 Seiten.
Vom Mainzer Germanisten Axel Dunker, seit langem ein ausgewiesener Spezialist in Sachen Literatur zum "Dritten Reich", liegt nunmehr seine 2001 in Mainz eingereichte Habilitationsschrift ''Die anwesende Abwesenheit'. Literatur im Schatten von Auschwitz' gedruckt vor. Darin beschäftigt er sich mit der Frage: Wie lässt sich der Holocaust künstlerisch verarbeiten und darstellen?
Jósef Tarnawa, ein Überlebender von Auschwitz, in Großaufnahme in einem Sessel. Er zeigt seine verblasste, eintätowierte Häftlingsnummer: Es ist die Nummer 80064. Er berichtet von deren Entstehung. '80064': so auch heißt dieses Video, 2004 gedreht von dem international renommierten wie auch umstrittenen polnischen Künstler Artur Zmijewski. Mit der Großaufnahme des Überlebenden ruft der Film fast schon vertraute Bilder videographierter Augenzeugenschaft auf, denken wir nur an die gefilmten Interviews der Yale Archives for Holocaust Testimonies oder Claude Lanzmanns Film 'Shoah'. Doch dann weitet sich die filmische Einstellung und wir werden gewahr: Der Überlebende sitzt in einem Tätowierstudio. Der Filmemacher Artur Zmijewski kommt nun selbst ins Bild; er redet auf den Überlebenden ein, will ihn bewegen, seine Häftlingsnummer hier im Studio zu erneuern, sozusagen: 'nachgravieren' zu lassen. Joséf Tarnawa sträubt sich, doch Zmijewski lässt nicht locker. Es folgt ein quälendes Streitgespräch kreisend um die Erneuerung der Nummer; es endet damit, dass der Überlebende seinen Widerstand aufgibt. Die Nummer wird nachtätowiert.
Mehr als einmal hat Ilse Aichinger in den vergangenen Jahrzehnten ihre Vorliebe für Joseph Conrad bekannt: "Ich lese immer wieder Joseph Conrad, obwohl mich weder die Gegenden noch die Handlungen seiner Romane im geringsten interessieren", erklärte sie beispielsweise in einem Interview von 1996. Bereits in einem Fragebogen von 1993 hatte sie auf die Frage nach ihrem "Lieblingsschriftsteller: Joseph Conrad" genannt, und, daß er "zu meinen Liebsten gehört", unterstreicht Aichinger nochmals in einem weiteren Interview zehn Jahre später. Diese gelegentlichen, aber kontinuierlich wiederholten Äußerungen verweisen auf eine bemerkenswerte literarische Genealogie (auf Conrad beziehen sich unter anderen Andre Gidé, T. S. Eliot, Graham Greene, Ernest Hemingway ebenso wie zahlreiche Autoren der Gegenwartsliteratur, so etwa Italo Calvino, V. S. Naipaul, J. M. Coetzee, W. G. Sebald).
Rezension zu Karr, Ruven (Hg.) (2015): Celan und der Holocaust. Neue Beiträge zur Forschung. Hannover: Wehrhahn, 190 S., ISBN 978-3-86525-431-3
Am 9. November 2013, zum 75. Jahrestag der sog. Reichskristallnacht, fand an der Universität des Saarlandes das Symposium Paul Celan und der Holocaust statt, das im Untertitel versprach, 'Neue Perspektiven' auf Leben, Werk wie Wirkung dieses bedeutsamen Dichters zu eröffnen. Insgesamt neun Beiträge versammelt der Band, der im Anschluss an die Tagung entstanden ist, darunter Artikel von so ausgewiesenen Celan-Forschern wie Barbara Wiedemann, Lydia Koelle oder Paul Sars. Alle neun verbindet dabei das Ziel, Celan einer wiederholten literaturwissenschaftlichen Lektüre zu unterziehen, und Holocaust, Erinnerung und Zeugenschaft in seinem Werk neu bzw. komplexer einzuordnen. Auch zeitgeschichtliche und biographische Gesichtspunkte der 1950er und 1960er Jahre sollten berücksichtigt werden. Nicht zuletzt verdienten einige Aspekte der Aufnahme und kreativen Umwandlung von Celans Holocaust-Dichtung die Aufmerksamkeit der Forscher.
Noch vor 1900 wurde der Begriff 'Hermetismus' aus den spätantiken Geheimlehren auf die Literatur übertragen - um bald danach in der sog. hermetischen Lyrik eine negative Etikettierung zu erhalten. Vor allem die Dichter, die sich einer Poetik der Unverständlichkeit bedient haben, wurden somit kritisiert und zurückgewiesen. Dabei wurde oft übersehen, dass diese Unverständlichkeit keineswegs eine eitle Machart selbstbewusster Dichter war, sondern eine innere Notwendigkeit. Am Beispiel dessen, wie Paul Celan (1920–1970) und Nelly Sachs (1891–1970) die Shoah lyrisch verarbeiteten, sollen Gründe für die Wahl der hermetischen Ausdrucksweise gefunden werden: eine zu komplexe und widersprüchliche Wirklichkeit, die Angst vor der Gefährdung durch eine verständliche Aussage oder die Entscheidung für das 'offene Kunstwerk' mit beliebig vielen möglichen Interpretationen.