CompaRe | Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft
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Vom Bild über den Text zur Musik : Frans Masereels "Die Passion eines Menschen" und ihre Adaptionen
(2021)
Im Mai 1938, kurz nachdem die Truppen Hitlers in Österreich einfallen, findet in Zürich eine denkwürdige Uraufführung mit mehr als achthundert Beteiligten statt, die nach nur zehn Präsentationen 20.000 Zuhörer und Zuschauer in ihren Bann zieht. Es handelt sich um das Chorwerk "Jemand. Eine weltliche Kantate"; eine Inszenierung, der Frans Masereels berühmte Holzschnitt-Serie "Die Passion eines Menschen" zugrunde liegt. Dieses Stück ist sehr deutlich seiner Zeit verhaftet. Insofern wertet die (nur spärlich vorhandene) Forschung es zwar als das "populärste Werk revolutionärer Dichtung" der Vorkriegszeit, aber eben auch als Opus mit "rein historischer Bedeutung", das man heute keinesfalls mehr aufführen könne und nur der Vollständigkeit halber noch in den entsprechenden Künstlermonographien erwähnen müsse. Ein solch eindeutiges Urteil lässt sich allerdings durchaus differenzieren. So relativiert es sich etwa, wenn man sich die grundsätzliche Frage stellt, welche Spielräume Künstler und Schriftsteller in einer Zeit extremer politischer Repression und offenkundiger staatlicher Gewalt haben. Welche Möglichkeiten bleiben ihnen für ihre Kunst, wenn sie sich herausgefordert sehen, mit ihrer Grafik, ihrem Text und ihrer Musik politisch Stellung zu beziehen? Die folgende Auseinandersetzung mit dem Chorwerk soll zeigen, dass seine besondere Wirkung gerade durch eine eigentümliche Verbindung aus zeitgebundenen Elementen, historischem Kontext und einer überzeitlichen Dimension entsteht.
In der Forschung findet die Gattung Spam zumeist als linguistisches Phänomen wissenschaftliche Berücksichtigung; insbesondere die sprachlichen Merkmale und rhetorischen Strategien der Vorschussbetrugs-E-Mails werden in diesem Zusammenhang untersucht. Der großen Bandbreite an künstlerischen Versuchen, den digitalen Müll ästhetisch zu verwerten, zu imitieren oder zu thematisieren, wurde bisher kaum Aufmerksamkeit geschenkt. Vor allem während des ersten Jahrzehnts des neuen Jahrtausends lassen sich kreative Auseinandersetzungen mit den Werbemails beobachten; hier wirkt zum einen die zunehmende Kommerzialisierung des Internets im Zuge der Einführung des World Wide Web und zum anderen die durch die Installation von Anti-Spam-Filtern hervorgerufene Weiterentwicklung der Textform als schöpferischer Impetus. Der erste Teil der Darstellung widmet sich im Besonderen der lyrischen Verarbeitung des Spams, der zweite Teil befasst sich dann primär mit verschiedenen Formen und Funktionen einer narrativen Aneignung.
Als Forschungsfeld der Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft ist die Karibik aufgrund ihrer Sprach- und Kulturvielfalt eigentlich prädestiniert, doch wird sie aus komparatistischer Perspektive eher stiefmütterlich behandelt. Je nach Sprachraum scheint sie dagegen entweder aus anglistisch-amerikanistischer oder romanistischer Perspektive eingenommen zu werden. Komparatistische innerarchipelische als auch transatlantische Studien, die auch nicht-romanischsprachige Literaturen berücksichtigen, sind im Vergleich zu einzelphilologischen Studien rar. [...] In Europa zu verortende Autor*innen verhandeln Transkulturationsprozesse nicht nur in fiktionalen, sondern - wie ihre karibischen Kolleg*innen - auch in poetologischen Texten, in denen sie sich mit transkulturellen Prozessen als kaum zu ignorierende Voraussetzung für ihr Schreiben beschäftigen, über diese transkulturelle Prozesse reflektieren und eine transkulturelle Schreibweise als Konsequenz diagnostizieren. Tatsächlich lässt sich eine Tendenz zu einer poetologischen Reflexion über transkulturelle Phänomene als auch transkulturelle Schreibweisen bei europäischen Autor*innen erkennen. Fraglich ist vor diesem Hintergrund also, ob Europa von karibischen Ideen zur Transkulturalität profitieren kann. Damit werden die europäisch-karibischen Beziehungen aus einer neuen Perspektive beleuchtet: Nicht der Einfluss europäischer Literatur auf die karibische steht im Sinne eines postkolonialen 'writing back' im Mittelpunkt, sondern die Karibik wird zum Modell für Reflexionen über europäische (literarische) Transkulturationsprozesse. Darüber hinaus stellt sich die Frage, inwieweit karibische Poetiken - und gemeint sind damit vor allem poetologische Reflexionen in Form von Manifesten, aber auch Schreibweisen - nicht nur als Modell für eine transkulturelle Poetik in Europa fungieren können, sondern inwieweit transkulturelle Poetiken als neue weltweit aktuelle und über ein neues Weltbewusstsein reflektierende Poetik - als Weltpoetik - betrachtet werden können. Diese Fragen können im Folgenden noch nicht beantwortet werden, vielmehr skizziert der Beitrag einem Problemaufriss. In einem ersten Schritt möchte ich verdeutlichen, inwieweit sich in theoretischen Ansätzen zur Transkulturalität, vor allem den neueren Studien zur Postmigration die Tendenz beobachten lässt, Transkulturalität nicht mehr als Ausnahmezustand, sondern als Normalfall zu begreifen. Darauf folgt ein exemplarischer Blick auf drei Gegenwartsautor*innen, Salman Rushdie, Yoko Tawada und Ilija Trojanow, die in poetologischen Texten - 'transkulturellen Poetiken' - kulturellen Austausch nicht nur als Kulturphänomen beschreiben und sich damit als Kulturpoetolog*innen zeigen, sondern auch über die Konsequenzen dieser transkulturellen Prozesse für das eigene transkulturelle Schreiben reflektieren. Vergleichend werden diesen Reflexionen Überlegungen aus karibischen transkulturellen Poetiken gegenübergestellt und die Frage wird aufgeworfen, ob sie als Modell nicht nur für einen europäischen, sondern für einen weltweiten Kontext betrachtet werden können, sodass sich abschließend die Frage nach einer neuen Weltpoetik nach karibischem Vorbild stellt.
Einen Roman zu betiteln ist eine der prekärsten ästhetischen Aufgaben. Der Titel sollte den Inhalt spiegeln, weder banal noch kryptisch sein, nicht zu lang - jedenfalls in den letzten zwei Jahrhunderten -, nicht missverständlich, dafür griffig, und bei alldem werden die guten Titel mit der Zeit knapp. [...] "Die Strudlhofstiege" ist für Ortsfremde ziemlich kryptisch, schwer zu merken und zu schreiben, dazu noch ein Roman mit einem Unter- oder besser: Nebentitel, gemäß dem "sive" in Doderers geliebtem Latein: "Die Strudlhofstiege oder Melzer und die Tiefe der Jahre" (1951). Hier beginnt auch schon die Raffinesse, denn Doderers Roman hat nicht weniger als drei 'Helden', und alle drei sind darin genannt: Die Strudlhofstiege, Melzer, die Tiefe der Jahre - der Ort, der Protagonist, die Zeit an sich. [...] Interesse weckt die Titelformulierung schon deshalb, weil sie "Melzer und die Tiefe der Jahre" miteinander konfrontiert. Es ist gewissermaßen eine staunende Begegnung, die hier erzählt wird, denn der vornamenlose Major Melzer wird bekanntlich "Mensch", indem ihm seine Vergangenheit bewusst und ihm via Zeitreise subtil klar wird, was für sein Leben nottut. [...] Im Mittelpunkt jenes Verfahrens, das den polychronen Roman Dodererscher Prägung trägt, steht die Frage: Wie zeigt, wie simuliert man das Vergehen der Jahre? Man ahnt bereits, dass dem typischen memorialen Zeitroman die 'Tiefe der Jahre' als Metapher für subjektives Zeiterleben und die Sondierungsbohrung der Erinnerung dient. Doch wenn man von Polychronie spricht, ist vom Modell des memorialen auch der chronikalische Roman abzugrenzen, der ebenfalls eine - und zwar beträchtliche - Tiefe der Jahre aufbietet, freilich und gerade weit jenseits der Lebens- und Erinnerungsspanne des Individuums. Die zeit- und erinnerungsmimetische Funktion der Vertikalität wird jedoch erst erfüllt, wenn der kognitive Adaptionsprozess in beide Richtungen verläuft. Dann entsteht durch eine Art Hin- und Herzoomen eine (beinahe) sinnliche Erfahrung, die in dem knappen Horizont ästhetischer Erfahrung Zeitbewusstsein und Erinnerung erfolgreich simuliert.
In den im Folgenden vorgestellten Romanen werden Uhrensammlungen beschrieben, die nicht nur auf der Ebene der Handlung von Bedeutung sind, sondern auch als Reflexionsmodelle der Romanwelten, in denen sie ihren Ort haben. Von ihrer Konzeption und Darstellung her erschließt sich auch die Poetik dieser Romane, insbesondere mit Blick auf deren implizite Konzeptualisierung von Zeit, Geschichte und Erinnerung. Und auf jeweils spezifische Weise gleicht sich die Darstellungsweise der Romanerzähler gerade anlässlich der beschriebenen Uhrensammlungen dem eigenen Gegenstand an.
Sinnvoller als eine kategorische Scheidung beider Begriffe, zu der Kant neigt, wäre ein differenzierendes Konzept, demzufolge das Schöne als ein Sonderfall des Angenehmen zu bestimmen wäre, genauer als das Angenehme, sofern es ohne sinnliche Bestimmtheit betrachtet wird. Das Angenehme und das Schöne wären dementsprechend gar nicht als Gegensätze zu erfassen, sondern als komplementäre Bestandteile des ästhetischen Wohlgefallens. Gegen Kants in gewisser Weise kontraproduktiven Versuch, das ästhetische Urteil von allen sinnlichen Bestimmungen frei zu halten - denn was anders als sinnliche Wahrnehmung bedeutet der griechische Ausdruck 'aisthesis', der am Ursprung der Ästhetik steht? - wäre das Schöne als ein bloßer Teilbereich des Angenehmen zu fassen. Kants Purismus des Schönen, der Versuch, zwischen sinnlicher Wahrnehmung und dem von allen Sinnen freien ästhetischen Urteil zu unterscheiden, läuft so letztlich ins Leere. Wo Kant gute Gründe hat, zwischen dem Schönen und dem Guten zu unterscheiden, da gibt es ebenso gute Gründe, das Schöne und das Angenehme einander anzunähern. Was damit in Frage steht, ist eine Ästhetik des Angenehmen, die die Theorie des Schönen als einen Teilbereich in sich einschließen würde, zugleich aber andere Begriffe wie den des Lieblichen, Reizenden, Rührenden, Exquisiten u. a. einbeziehen würde, um der ausschließlichen Betrachtung des Schönen und des Erhabenen entgegenzuwirken, wie sie Kant im Anschluss an Burke für die Ästhetik etabliert hat. Eine neue, an den Sinnen ausgerichtete Ästhetik könnte so unter dem Titel des Angenehmen firmieren.
Wie vielleicht schon die kippenden Bezüge, insbesondere des timeshifters "Now", in den ersten Versen von "Richard III" aufzuzeigen vermögen, adelt Tom Bishop (Shakespeare and the Theatre of Wonder) Shakespeare völlig zu Recht dafür, auf metatheatrale Weise die Zuschauer*innen auf das Spiel zwischen den Zeiten, auf die Gleichzeitigkeit von Ungleichzeitigem in der Performanz des Theaters aufmerksam zu machen. Shakespeares Tanz auf der Fiktionsgrenze, zwischen den Zeiten, beschränkt sich aber nicht auf Aufklärungsarbeit über die Funktionsweise des Mediums Theater. Sein Spiel mit dem schillernden "Now" ist radikaler, weil es auch die rahmende Gegenwart (der Rezeption) - die Gleichzeitigkeit - erfasst, auf der das theatertypische Spiel zwischen den Zeiten bequem aufruht. Diese These soll im Folgenden an Shakespeares Tempest knapp skizziert werden. [...] Der zweite Text, den ich einer ausführlicheren Lektüre im Hinblick auf ein unbequemes Verhältnis der Zeiten unterziehen möchte, ist so klassisch, dass die Beschäftigung mit ihm fast verzichtbar erscheint: Laurence Sternes "Tristram Shandy". Sternes Meisterwerk ist für die Frage nach der Poiesis der Un(-Gleichzeitigkeit) des Un(gleichzeitigen) aber nicht nur ein historischer Meilenstein, sondern erweist sich bei näherem Hinsehen auch als herausfordernd komplex. [...] Sternes "Tristram Shandy" stellt den Leser*innen den Zwie-gang ('di-gression') einer (Un)gleichzeitigkeit des (Un-)Gleichzeitigen vor Augen. Die sonderbare Erzählmaschine konfrontiert die Leser*innen mit ihrem bizarren, staunenerregenden und erheiternden Mechanismus - der sich zu erkennen gibt, thematisch aber nicht in die erzählte Welt rückgebunden ist. Die Maschine hat zudem außerhalb der Narration kein Korrelat, sie kann deshalb ein Kuriosum bleiben, das wenige Folgen zeitigt für die Art, wie wir 'unsere' nichtfiktive Welt ordnen und ihr Sinn geben. In just jenem Zug unterscheidet sich Sternes Roman von Marcel Prousts monumentaler "À la recherche du temps perdu", der die verbleibenden Seiten dieses Artikels gewidmet sein sollen.
Schriftsteller, die in ihren poetischen oder philosophischen Texten die Kunst des Zitierens kultivieren, können auf eine lange literarische Tradition zurückblicken, denn seit den Anfängen der literarischen Überlieferung stellt das Zitieren eine zentrale Kulturtechnik dar. Bevor im folgenden Beitrag die Frage nach einer 'Poetik des kreativen Zitats' in den Texten von Autoren des 20. und 21. Jahrhunderts näher erörtert werden soll, bietet es sich daher an, einen selektiven Blick auf die Vorgeschichte der gegenwärtigen poetischen Zitiertechniken zu richten.
Der vorliegende Beitrag möchte die frühneuzeitliche Transformation des astronomischen Wissens im Horizont ihrer 'Vorgeschichte' sowie ihres historischen Wirkungspotentials betrachten. Die astronomischen Arbeiten von Kopernikus, Kepler und Galilei sollen dabei in einer Perspektive der 'longue durée', d. h. vor dem Hintergrund jener wissensgeschichtlichen (insbesondere antiken) Bezugspunkte beleuchtet werden, die sich von einem Blickpunkt der Rückschau als mögliche Antizipationen der kopernikanischen Reform zu erkennen geben. Die antiken Vertreter einer heliozentrischen Kosmologie sind dabei freilich weniger als 'Vordenker' oder 'Vorläufer' anzusprechen, sondern vielmehr als "Indikatoren für die jeweilige Erweiterung des Horizonts möglicher Variationen" in Betracht zu nehmen. Darüber hinaus möchten die folgenden Untersuchungen ein Moment in den Blick rücken, das vor allem für einen literaturwissenschaftlichen und komparatistischen Zugang von näherem Interesse ist: die sprachlichen und medialen Formen, in der sich jene Umstellungen des kosmologischen Denkens artikulieren. Denn der gedankliche Gehalt, den die frühneuzeitlichen Astronomen in ihren Schriften vorbringen, ist nicht unabhängig von den sprachlichen und ästhetischen Formen, in denen er sich manifestiert. Dies gilt nicht zuletzt im Blick auf die Wirkung und Überzeugungskraft jener Schriften, für die rhetorische und ästhetische Verfahrensweisen der Evidenzerzeugung nicht weniger bedeutend sind als die darin zur Geltung gebrachten mathematischen und empirischen Beweismittel.
Der folgende Beitrag widmet sich einem blinden Fleck in vielen Theorien literarischer Erfahrung - nämlich nichtprofessionellen Leser*innen - und versucht zu zeigen, dass diese Blindheit nicht in der Ignoranz der Literaturwissenschaft, sondern in erkenntnistheoretischen und methodischen Problemen begründet ist, die wiederum mit dem Objektivitätsideal geisteswissenschaftlicher Forschung zusammenhängen, das die Auswahl der als untersuchbar angesehenen Gegenstände und die bei der Untersuchung angewandten Methoden determiniert.