CompaRe | Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft
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Aufgrund der vielfältigen Parallelen zwischen 'Walden' und 'Un balcon en forêt' und der Dominanz von Landschafts- und Naturschilderungen im Werk beider Autoren scheint ein typologischer Vergleich der fraglichen Texte durchaus legitim, zumal diese auch in poetologischer Hinsicht konvergieren. Sowohl Thoreaus Bericht als auch Gracqs Roman weisen nämlich Merkmale des klassischen pastoralen Modus auf, für den Terry Gifford das Schema "retreat, renewal and return" (Gifford 1999, 174) in Anschlag bringt. Der Rückzug aufs Land beziehungsweise in die Natur impliziert demnach eine innere Reform des Helden, die seiner Rückkehr in die Stadt vorausgeht. Thoreau und Gracqs Protagonist Grange erfahren während ihres Aufenthalts im Wald gemäß dem pastoralen Paradigma einen äußeren und inneren Wandel, den ich als Naturalisierung bezeichne. Dieses "Zurück zur Natur" erweist sich in Wahrheit jedoch als Kulturalisierung, wie David Abram Iuzid schließt: "Becoming earth. Becoming anima!. Becoming, in this manner, fully human" (Abram 2010, 3). Dies meint nicht die Rückkehr zu einem naturnahen Lebensstil, sondern vielmehr die Schärfung unserer 'animalischen' Sinne für die phänomenale Realität, das heißt, die Wiederaufnahme des großen Dialogs mit der belebten und unbelebten Natur, um auf diese Weise zu einem höheren Menschsein zu gelangen. Ziel dieser Studie ist es, diesen manifesten Prozess entlang der dynamischen Grenze von Kultur und Natur nachzuzeichnen und zu analysieren. Der Gewinn dieser komparatistischen Lektüre wäre dann ein besseres Verständnis zweier unterschiedlicher Naturkonzepte, die - sowohl bei Thoreau als auch bei Gracq - vom Geist der Romantik durchdrungen sind.
Der Wald ist eines der wichtigsten Landschaftselemente im Kulissenfundus der Literatur - mit entsprechender Bedeutungsvielfalt: Die christlich-abendländische Tradition sieht ihn als Ort der Finsternis, der durch das göttliche Licht erhellt werden muss. In den berühmten Eingangsversen der 'Divina Commedia' erscheint er als rauer, wilder und dunkler Raum, Dantes "selva oscura" ist Stätte des Verwirrtseins und Zeichen irdischer Sündhaftigkeit. Aufgrund seiner transzendenten Unermesslichkeit jenseits rein geographischer Dimensionen kommt Gaston Bachelard in seiner 'Poetik des Raumes' zu dem Schluss: "Der Wald ist ein Seelenzustand". Als Metapher für die Seele des Menschen ist der Wald nicht nur in der Romantik beliebt, als Ausdruck des kollektiven Unbewussten interessiert er auch die Psychoanalyse, etwa in Gestalt der Archetypenlehre C. G. Jungs. In seiner Studie 'Masse und Macht' rechnet Elias Canetti den Wald zu den "Massensymbolen", mit durchaus unangenehmen Konnotationen für das Individuum. Da jeder einzelne Stamm, aus denen sich dieser zusammensetzt, fest verwurzelt und unverrückbar in der Erde stehe, sei "der Wald zum Symbol des Heeres geworden: ein Heer in Aufstellung, ein Heer, das unter keinen Umständen flieht; das sich bis zum letzten Mann in Stücke hauen läßt, bevor es einen Fußbreit Boden aufgibt". In diametralem Gegensatz zu diesem Szenario der Bedrohung des Einzelnen durch die Masse zusammengerotteter Bäume erscheint der Wald jedoch gleichermaßen als Ort der Freiheit, als Abbild der ursprünglichen Natur jenseits der einengenden menschlichen Zivilisation, als fruchtbare Wildnis, in der sich das Individuum frei entfalten kann. In dieser Bildtradition stehen zwei Texte, die ungefähr im Abstand von 100 Jahren und auf zwei verschiedenen Kontinenten entstanden sind: Henry David Thoreaus 'Walden' (1854) und Ernst Jüngers 'Der Waldgang' (1951). Wenn diese beiden in ihren historischen Voraussetzungen so unterschiedlichen Essays im Folgenden miteinander verglichen werden, so geschieht dies deshalb, weil sich in den Werken Jüngers und Thoreaus die einschlägige Rede von der Freiheit des Waldes mit einer dezidiert individualanarchistischen Programmatik verbindet, die dieser Raumsymbolik eine neue Bedeutungsdimension verleiht, die bisher in der einschlägigen topologischen Forschung unterbelichtet geblieben ist.