CompaRe | Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft
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Die Diskrepanz zwischen dem wissenschaftlichen Anspruch objektiver Erkenntnisfindung und den Niederungen der davon abweichenden Empirie zeigt sich hier am Beispiel der Gemütszustandsgutachtung" gerichtlich bestellter akademischer "Physici" im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts. Anhand des Fallbeispiels eines jungen Handwerksgesellen wird gezeigt, wie "aufgeklärte" Ärzte versuchten, konkurrierende Theorien, alte und neue physische Modelle zu "Wahnsinn" in eine kongruente Struktur zu bringen. Dabei waren sie jedoch nach wie vor in erster Linie auf Gespräche mit den Patienten / Inquisiten und anderen Zeugen angewiesen, von deren Beschreibungen und Deutungen physischer und somatischer Symptome sie beinahe völlig abhingen. Dennoch versuchte man gemäß der zeitspezifischen Mode der detaillierten Kategorisierung auf dieser einzig möglichen Basis subjektiver Narration akribisch geschlechtsspezifische und andere Typisierungen von verschiedenen Arten und Graden des Wahnsinns zu entwickeln und diese wiederum am Einzelfall nachzuweisen. Der Beitrag führt (in eben jener Tradition) diese wissenschaftlichen Tautologie exemplarisch vor Augen.
Auf der Basis der vorgestellten Ausführungen wird klar, dass es bereits um die Wende zum 19. Jahrhundert ein ausdifferenziertes Spektrum an Ansichten zur höheren Mädchenbildung und eine entsprechende öffentliche Debatte gab, die vor allem von der Überzeugung beherrscht wurde, dass Frauen eine formale Vorbereitung auf ihre später zu erfüllende Aufgabe als Hausfrau und Mutter brauchten. Diese Überzeugung taucht wiederholt unter dem Schlagwort der weiblichen Bestimmung auf. Im 19. Jahrhundert wurde auf der Grundlage der politischen und sozialen Veränderungen die Erziehung vor allem der bürgerlichen Mädchen immer wichtiger. Bald konnten nicht mehr genug Hauslehrer, Erzieherinnen und Gouvernanten bezahlt werden. So wurde die Einrichtung von Anstalten zur Mädchenerziehung notwendig. Dies führte zur Entwicklung vieler öffentlicher und privater Mädchenschulen zwischen 1800 und 1860. Von höheren Mädchenschulen konnte hierbei jedoch in den meisten Fällen keine Rede sein; gewöhnlich wurden in diesen Schulen vier bis fünf Schulstunden täglich unterrichtet für Mädchen im Alter bis zu 14 oder 15 Jahren; es wurde streng darauf geachtet, dass den Mädchen parallel zur Schule ausreichend Zeit für häusliche Beschäftigungen blieb. Schwerpunkte waren Handarbeiten und Fächer, die den weiblichen Geist im Sinne einer religiössittlichen Bildung des Gemüts ausbilden sollten.
In his paper, "The Canonization of German-language Digital Literature," Florian Hartling discusses "Net Literature," a relatively young phenomenon, that has its roots in experimental visual and concrete poetry and hypertext. With the use of new media technology, this new genre of literature has acquired much interest and is now considered to be one of the most important influences in contemporary art. Not only does Net Literature connect sound, video, and animation with interactivity and allows new forms of artistic expression, it also impacts significantly on the traditional functions of the literary system. Hartling suggests that, in relation to Net Literature, the notion of the "death of the author" gives birth to the "writing reader." Hartling presents the results of his study where he applies the concept of "canon" to German-language Net Literature and where he attempts to find out whether, in this new form of literature, a "canon" has already been formed. Based on Karl Erik Rosengren's framework of "mention technique," a sample of Germanlanguage reviews of Net Literature was analyzed. The study intends to test the applicability of Rosengren's method to the analysis of Net Literature, that is, whether it is valid to use a method that was originally developed for the empirical study of the traditional literary canon for the study of an emergent Net Literature.
Selten wurde ein Werk so heftig diskutiert wie Otto Weiningers Geschlecht und Charakter, das 1903 im Braumüller Verlag erschien. Mehr oder Weininger bietet einen vielschichtigen Einblick in diesen Diskurs, der sich zwischen den Prinzipien M (Idealtypus Mann) und W (Idealtypus Weib), zwischen Emanzipation und Prostitution, Hysterie und Genialität bewegt und vom jungen Philosophen Weininger auf umstrittene Weise abgebildet wird. Schriftstellerinnen und Autoren, Journalistinnen und Interviewpartner, bewegte Frauen und haltungsstarre Mediziner äußern sich dazu in literarischen, publizistischen und theoretischen Texten. Dies ergibt eine spannungsreiche Sammlung, deren historischer diskursiver Kontext in kurzen kulturwissenschaftlichen Einführungen erschlossen wird. Etwa die Hälfte der Texte sind Erstübersetzungen aus dem Ungarischen und stellen eine bedeutende Pionierarbeit dar auf dem Weg zu einer Literatur, die es noch zu entdecken gilt. ...
Zwei vielbeachtete Enthüllungsschriften brachten 1787–89 die Politik des preußischen Königs Friedrich Wilhelm II. in Zusammenhang mit rosenkreuzerischen Umtrieben in Berlin: die „Histoire secrete de la cour de Berlin“ des Grafen Mirabeau und die „Geheimen Briefe über die Preußische Staatsverfassung“, welche einem Freiherrn von Borcke zugeschrieben wurden, der zuvor als Verteidiger des friderizianischen Tabakmonopols aufgetreten war. Diese Zuschreibung hält Reinhard Markner für ebenso fragwürdig wie die Vorstellung, dass die Gold- und Rosenkreuzer seinerzeit in Preußen die Macht übernommen hätten.
Die Faust-Illustrationen erschienen 1828 mit der französischen Übersetzung von Albert Stapfer. Im November 1829 zeigte Eckermann Goethe zwei Skizzen dieser Lithographien: Faust und Mephisto auf den Sturmpferden und die Trinkszene in Auerbachs Keller. „Goethe war von Delacroix’ ungestümem Strich mehr beeindruckt als begeistert, blieb aber durchaus verbindlich: Der Zeichner sei >ein großes Talent<, sagte er zu Eckermann, „das gerade am >Faust< die rechte Nahrung gefunden hat. Die Franzosen tadeln an ihm seine Wildheit, allein hier kommt sie ihm recht zu statten.<“ (Die Gazette, Nr.17, September 1999)
Andreas Müller (1831-1901) ist ein Schüler von W. Kaulbach und M. Schwind, er lehrte als Professor für kirchliche Kunst an der Münchner Akademie und war als Historienmaler und Zeichner für den Holzschnitt tätig. Der in der Tradition der Münchner Spätromantik stehende Zyklus zeigt detailgenaue, dichte Kompositionen, deren Erzählfreudigkeit anspricht. Mit dieser Serie liegt die vierte Folge von Illustrationen zu Schillers „Glocke“ vor. Vergleiche lassen sich ziehen mit Hans Kaufmann, Alexander von Liezen Mayer und Ludwig Richter.
Otto Peter : Wilhelm Tell
(2005)
Diese Serie zu Schillers „Wilhelm Tell“ gehört der Popularkultur an. Die Kompositionen wirken wie „stills“ eines alten Heimatfilms: Zwischen bewegten Gruppenszenen vor wechselnder Bergkulisse sind teils statuarische, teils pathetisch wirkende Auftritte mit wenigen Darstellern eingestreut. Auch die Mischung aus historischen und zeitgenössischen Kostümen und Charakteren unterstützt diesen Eindruck. Die Farbdrucke sind wohl in den 30er Jahren entstanden; der Künstler konnte nicht eruiert werden.
Friedrich (Fred) Kaskeline, geb. 1863 in Prag, war Schüler der Akademie in Wien unter dem Historien- und Porträtmaler Christian Griepenkerl. Er arbeitete als Illustrator des humoristisch-satirischen Wiener Arbeiterblattes "Glühlichter" (1889/90-1915) und war in Berlin Repräsentant und Spezialzeichner der illustrierten Journale "The Graphic" und "The Daily Graphic" (London). Im Ersten Weltkrieg schuf er Propagandagraphik, in den 20er Jahren stammen von ihm zahlreiche, sehr unterschiedliche Postkarten: modische, teils witzige, teils frivole Künstlerpostkarten, die auch in England Erfolg hatten, sowie Silhouetten mit diversen Themen (z.B. "Mein schönes Fräulein, darf ich's wagen?"). Aus dieser Schaffenszeit stammen wohl auch die Faust-Illustrationen.
Unter den äußerst zahlreichen Illustrationen zu Schillers „Glocke“ ist Hans Kaufmanns Illustrationsfolge durchaus eigenständig. Durch ihre Skizzenhaftigkeit und ihre zarten Aquarelltöne erhalten die Staffagefiguren Bewegung, was durch lebhafte Gestik und Körpersprache noch unterstrichen wird. Ausschmückende Erzählfreude, eine stets wechselnde Stadtkulisse wie auch der Wandel der Tageszeiten locken zum genauen Schauen.
Johann Christian Ruhls Umrißradierungen zu Bürgers Ballade „Lenore“ (1773) stehen in der Tradition der klassizistischen linearen Illustrationskunst (Flaxman). Die 12 Blätter setzen die Schauerballade mit all ihrer Leidenschaft adäquat um. Diese Geschichte – sagt A. W. Schlegel über „Lenore“ – „welche die getäuschten Hoffnungen und die vergebliche Empörung eines menschlichen Herzens, die alle Schauer eines verzweiflungsvollen Todes in wenigen leichtfasslichen Zügen und lebendig vorüberfliehenden Bildern entfaltet, ist ohne conventionelles Beiwerk.“ Als Regieanweisung zur rechten Lektüre rät Bürger einem Freund: Wenn Sie die Ballade „vorlesen, so borgen Sie einen Todtenkopf von einem Mediciner, setzen solchen bei einer trüben Lampe, und dann lesen Sie“.
Die Metropole als kultureller und ästhetischer Erfahrungsraum : komparatistische Perspektiven
(2005)
Bericht zur Tagung der Abteilung für Vergleichende Literaturwissenschaft am Germanistischen Seminar der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn, vom 12. bis 14. Juni 2003, gefördert durch die Fritz-Thyssen-Stiftung.
Anläßlich des 60. Geburtstages von Prof Dr. Dolf Oehler veranstaltete die Abteilung für Vergleichende Literaturwissenschaft am Germanistischen Seminar der Universität Bonn im Juni 2003 ein dreitägiges Colloquium zum Thema 'Die Metropole als kultureller und ästhetischer Erfahrungsraum: Komparatistische Perspektiven'. Forscherinnen und Forscher aus Deutschland und Frankreich trugen Ergebnisse ihrer Arbeiten in verschiedenen Disziplinen zusammen und diskutierten den Gegenstand sowohl in seinen historischen als auch in seinen komplexen aktuellen Bezügen.
Philosophiegeschichte, das ist evident, ist mit den klassischen Säulen Theorie und Begriffsgeschichte eine bewährte Disziplin. Ergänzt durch relativ neue Zweige wie Diskurs-, Institutionen-, Medien- oder Metapherngeschichte besteht ein breites Spektrum philosophiegeschichtlicher Methodiken, das sich beständig bereichert. Aber eine Nichtgeschichte der Philosophie? Was sollte sie leisten? Sollte sie post festum attestieren, begründen und besiegeln, was nicht geschehen konnte? Sollte sie a posteriori diagnostizieren, unter welchen Bedingungen bestimmte Entwicklungen hätten eintreten können? Oder sollte sie im Nachhinein diktieren, was hätte eintreten müssen, aufgrund bedauerlicher ephemerer Umstände aber nicht eintrat? In den Geschichtswissenschaften ist das methodische Bewußtsein für die Alternativen historischer Situationen gewachsen, für die Möglichkeitsform von Geschichte, die aus eingetretenen und nichteingetretenen Ereignissen besteht. Es scheint legitim, auch Philosophie- bzw. Ästhetikgeschichte auf diese Möglichkeitsformen hin zu befragen, ihre Nichtereignisse und ihre Konjunktive des Negativen zu thematisieren, um daraus wenn nicht Antworten so doch weiterführende Fragen zu ziehen.
Um die Jahrhundertwende vom 18. zum 19. Jahrhundert konvergierte im intellektuellen Raum Weimar-Jena eine Vielzahl von kulturellen Entwürfen, deren Angelpunkte zwischen (Spät-)Aufklärung, Klassizismus, 'Deutscher' oder 'Weimarer Klassik', Idealismus und (Früh-)Romantik liegen. Dieses produktive Zusammenwirken verschiedenster intellektueller Kräfte nannte der englische Jurist und Publizist Henry Crabb Robinson (1775-1867) in Ermangelung treffenderer Begriffe "the new German philosophy", "the new poetical school" oder kurz die "New School". Das einzigartige Kulturgefüge um den Weimarer Hof und die Jenaer Universität zeichnete verantwortlich für die besondere internationale Wirkungsmacht der Ära.
Für die Intensivierung der deutsch-englischen Literaturbeziehungen um 1800 erfüllte gerade auch Robinsons Kulturberichterstattung eine Katalysatorfunktion: Sie sensibilisierte für die Eigenheiten deutscher Denk- und Schreibweisen, ebnete den Weg für ihre populäre Vermittlung und formte die Einstellungen, mit denen das deutsche Geistesleben in England aufgenommen wurde. Robinson machte es sich gezielt zur Aufgabe, den idealistischen Tenor der deutschen Literatur und Philosophie um 1800 im sensualistisch-empiristisch geprägten England den Weg zu ebnen. Seine Bemühungen für ein wechselseitiges Verständnis des intellektuellen Lebens zeitigten vor allem in deutsch-englischer Richtung beachtliche Erfolge.
'Komparatistik' - 'Vergleichende Literaturwissenschaft' - 'Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft': Was ist das für eine wissenschaftliche Disziplin, die unter drei verschiedenen Bezeichnungen firmiert und damit Verwirrung stiftet. Will diese Wissenschaft durch die Methode des Vergleichs allgemeine Gesetzmäßigkeiten der Literatur herausfinden? Ist der Vergleich die einzige Methode dieser Wissenschaft? Wie stehen Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft zueinander? Ergänzen oder fliehen sie sich? Im folgenden stelle ich zunächst einige komparatistische 'Vergleichsmodelle' vor (I.) und klassifiziere und diskutiere anschließend unterschiedliche Verwendungsweisen des Vergleich-Begriffs (II.).
Statt die fruchtlosen Debatten über die Erweiterung oder Ergänzung ihres Aufgabenbereichs fortzusetzen, sollte sich die Vergleichende Literaturwissenschaft auf die Zeit ihrer Entstehung besinnen, da sie sich (vor allem in Frankreich) parallel zur Philosophie und den Sozialwissenschaften entwickelte. Emile Durkheims Einladung an Gustave Lanson, einen Vortrag zum Thema 'L'Histoire littéraire et la sociologie' (1904) an der Ecole des Hautes Etudes zu halten, hatte damals eine symbolische Bedeutung, die heute im sozialwissenschaftlichen Kontext aktualisiert werden könnte. Denn nur eine Vergleichende Literaturwissenschaft, die Anschluß an die sozialwissenschaftlichen Debatten der Vergangenheit und der Gegenwart sucht, kann hoffen, eine theoretische Dynamik zu entfalten, die sie für ihre Gesprächspartner in den Sozialwissenschaften interessant werden läßt. Zu diesen Gesprächspartnern gehören vor allem die anderen Komparatistiken, die von Philologen bisher kaum beachtet wurden: die Vergleichende Soziologie, Semiotik, Politikwissenschaft, Wirtschaftswissenschaft und Rechtswissenschaft. Von ihnen, ihren Problemen und Lösungsvorschlägen, kann die literarische Komparatistik einiges lernen. Zugleich kann sie in bestimmten Fällen den Sozialwissenschaftlern helfen, ihre Probleme zu lösen und neue Probleme zu erkennen.
Wenn sich die Systemtheorie nicht als theoretisches Fundament der Komparatistik eignet, weil Komparatistik nicht theoriefähig ist, sondern schlicht eine pragmatische Option, bei der 'die Literatur überhaupt' im Vordergrund steht, dann stellt sich jetzt die Frage, inwiefern die Systemtheorie einer solchen "Allgemeinen Literaturwissenschaft" behilflich sein kann. Das kann sie in sehr vielfältiger Weise und entsprechende Arbeiten in ihrer unterschiedlichen Ausrichtung können hier natürlich nicht aufgezählt werden. Hier soll- nach einer übergeordneten Bemerkung - nur gezeigt werden, wie die Systemtheorie einen bereits dynamischen Zeichenbegriff in der Vorstellung einer gesamtgesellschaftlichen Dynamik zur Geltung bringen kann: Relevant wird Semiotik erst als Systemtheorie. Das sagt natürlich mehr über Systemtheorie als über Komparatistik aus, aber wie anders wäre komparatistisch zu arbeiten als unter Zuhilfenahme von "fremden" Theorien und Methoden - was im Übrigen für jede andere Philologie auch gilt.
Die Frage nach der Position der Komparatistik im Rahmen der kulturwissenschaftlichen Neuorientierung der Literaturwissenschaft berührt grundsätzlich das fachliche Selbstverständnis. Jede Standortbestimmung hängt deshalb wesentlich von den Vorstellungen ab, worin die Aufgaben und Kompetenzen der Komparatistik überhaupt bestehen sollen. Neben einer historischen Orientierung des Faches und einer von Fachvertreterin zu Fachvertreter unterschiedlichen Idealvorstellung, die jeweils viel mit dem persönlichen akademischen und wissenschaftsbiographischen Werdegang zu tun hat, gilt es deshalb auch, die institutionellen Rahmenbedingungen in den Blick zu nehmen.
Volltextsuche
(2005)
[...] Und nun die Komparatistik? Sie mutiert zu einer Volltextwissenschaft. Die Weltliteratur, egal ob im summarischen oder qualitativen Sinn, ist noch nicht homogen digital erschlossen. Dadurch wird es noch lange bei der Bevorzugung großer Namen bleiben. Zugleich aber wird sich allmählich eine Nivellierung einstellen, die die Prioritäten der literaturwissenschaftlichen Suche synchronisiert mit denen der gängigen Suchmaschinen. Netzsuche und Volltextsuche auf begrenzten Datenträgern werden einander überlagern und den Resultaten eine egalitäre Struktur verleihen. Und dies wird auf längere Sicht zweierlei befördern: 1. Die Emanzipation der Trivialliteratur seit den 1960er Jahren, die Ausweitung des Textbegriffs und die kulturwissenschaftliche Orientierung werden in komparatistischen Arbeiten daran ablesbar sein, daß jegliches Kulturzeugnis, das beispielsweise einen bestimmten Mythos berührt, als potentiell zur Sache gehörig betrachtet wird. Alles kommt erst einmal in Frage. 2. Die Anonymität des weltweiten digitalen Korpus führt dazu, daß gerade die Volltextsuche die diskursanalytische These verwirklichen wird.
Auf der Grundlage einer Textauswahl von 110 Werken der einschlägigen Literatur wird versucht, das okkulte Schrifttum des 18. Jahrhunderts zu ordnen und die einzelnen Genres, die sich herausstellen lassen, durch exemplarisch zu verstehende Texte zu charakterisieren. Eine Ausnahme bilden die alchemistischen und theosophischen Veröffentlichungen, die lediglich erwähnt werden.
Die ältere Bezeichnung "okkult", das "Okkulte", wird beibehalten und den Begriffen "Esoterik" und "esoterisch" vorgezogen. "Okkultismus", zu sehr an die entsprechenden Bestrebungen des 19. Jahrhunderts gebunden, wird nur in diesem spezifischen Sinne gebraucht. "Esoterik bzw. esoterisch" haben sich zwar als Begriffe in der neueren Aufklärungsforschung eingebürgert - man vergleiche dazu die Veröffentlichungen der letzten Jahre -, doch erscheinen mir diese neuen Bezeichnungen noch schwammiger als die alten. Sie lassen gegenwärtig die heterogensten Elemente im Begriffsfeld zu. Ein Ausweg wird gesucht, indem man - wie in einem Ausstellungskatalog - die Begriffe ganz eng auf geheime Gesellschaften einschränkt, so wie auch in den genannten Beiträgen der Germanistik das Schwergewicht auf Logen und geheimen Verbünden liegt. Das Dilemma beschreibt Antoine Faivre und sucht festen Boden zu gewinnen, indem er "Esoterik" als "Denkform" mit vier, bzw. sechs "Komponenten" beschreibt und auf inhaltliche Abgrenzungen verzichtet. Diese Komponenten sind auch auf den Begriff "okkult" anwendbar. Sie sind Definitionen wie der folgenden: "Okkultismus ist das Sammelwort für die Fülle der geheimnisvollen Kräfte und Beziehungen, die im Bereich der Seele, im Haushalt der Natur und zwischen diesen beiden wirken" insofern überlegen, als sie das Wesen des "Geheimnisvollen" und "Dunklen" mit begrifflich faßbaren Sachverhalten beschreiben.
Im Folgenden werde ich über den Naturalismus als eine literarische Bewegung sprechen, von der es in der Forschung immer wieder heißt, sie habe ihre ästhetische Programmatik zwar publizistisch wirksam in Szene gesetzt, nicht aber auch in ihrem Anspruch entsprechende literarische Werke umsetzen können. Dem ist zunächst einmal zuzustimmen; zumal sich die hervorragenden literarischen Texte des Naturalismus nicht gerade als naturalistische auszeichnen lassen. Zugleich stellt sich die Frage, wodurch diese Disproportion zu erklären ist; in welchem Verhältnis steht die Insuffizienz der Leistungen in der literarischen Praxis zur ästhetischen Theorie? Ich möchte zeigen, daß es vor allem die Theoriedefizite in 'aestheticis' selbst waren und nicht so sehr kontingente Probleme der literarischen Umsetzung, die das rasche Abflauen des Naturalismus nach seinem kaum erreichten Höhepunkt 1890 bewirkten. Dieser fällt zusammen mit dem Beginn der literarischen Moderne im engeren Sinne. Aber beginnt diese 'erste' Moderne mit einem gescheiterten Versuch 'modern' zu sein?
Traumdiskurse der Romantik
(2005)
Bericht zur Internationalen Tagung an der Bayerischen Julius-Maximilians-Universität Würzburg, vom 25. bis 27. März 2004
Die Traumtheorien des romantischen Diskursfeldes um 1800 entfalteten erstmals die Vorstellung, dass der Traum selbst narrativen Techniken folgt. Die poetischen Traumerzählungen im Zeitalter der Romantik entwickelten nun neue Darstellungsverfahren, um den Traum ästhetisch abbilden zu können. Dabei wurde ein literarisches Wissen vom Menschen freigelegt, das über die Erkenntnisse der aufklärerischen Anthropologie und der Erfahrungsseelenkunde hinauswies. Das von der Fritz Thyssen Stiftung geförderte Symposion 'Traumdiskurse der Romantik' fand im Rahmen des von Peter-André Alt geleiteten DFG-Forschungsprojekts 'Literatur und Traum in der Kulturgeschichte Alteuropas bis zum Beginn der Moderne (1600-1820)' statt. Im Mittelpunkt der von Peter-André Alt und Christiane Leiteritz organisierten Tagung standen die Fragen nach dem Zusammenhang von Traum und Sprache, der Entdeckung des Unbewussten sowie der Beziehung zwischen Individualität und Universalität in den romantischen Traumtexten.
In den letzten Jahren gab es verstärkt Versuche, die komparatistische Literaturwissenschaft an kulturwissenschaftliche Methodiken anzuschließen. Ob es die Diskussionen um die so genannte Postmoderne waren, ob es das Aufkommen bestimmter methodischer Zugriffe war, die unter den Stichworten Poststrukturalismus, Cultural Studies, Historische Anthropologie usw. subsumiert werden, ob medientechnische Entwicklungen (globale Kommunikationsformen und -netzwerke) daran beteiligt waren oder ob es der selbstlegitimatorische Versuch war, literaturwissenschaftliche Kernbestände im Zeichen einer spätkapitalistischen Ökonomie an die so genannte Informationsgesellschaft anschließbar zu machen - wem diese Erweiterung letztlich zu verdanken ist, werden wohl erst die Historiker der Zukunft entscheiden. Was man auch immer von diesen Annäherungen halten mag, sie haben zu einer enormen Ausdehnung des komparatistischen Fachgebietes geführt. Und nicht nur das: Es dürfte schon jetzt klar sein, dass es keinen Weg zurück gibt, auch wenn die altehrwürdigen literaturwissenschaftlichen Disziplingrenzen der Komparatistik weiterhin Bestand haben. Allerdings ist die Adaption neuerer Methodiken relativ selektiv geschehen. Kann etwa für die Diskursanalyse, Systemtheorie, Dekonstruktion oder Medientheorie gesagt werden, dass sie nach mehr als zwanzig Jahren Diskussion für manche Bereiche literaturwissenschaftlicher Forschung, auch und gerade komparatistischer Provenienz, fast kanonischen Charakter haben, so gibt es zahlreiche andere Ansätze, die, zumal in Deutschland, bislang kaum gewürdigt wurden (vgl. Ernst 2000, 160). Einen dieser 'vergessenen' Ansätze hat der französische Philosoph Gilles Deleuze geliefert.
Nach dem Ende Jugoslawiens bleibt Indien der 'Testfall' dafür, daß ethnische, religiöse und sprachliche Vielfalt mit dem Konzept eines einheitlichen Staates kompatibel ist. Dies rechtfertigt Überlegungen zum Problem der Homogenität und Heterogenität im postkolonialen Umfeld und den Rückgriff auf die indische Kulturdiskussion aus der Zeit der antikolonialen Bewegung. Postkoloniales Denken wird dabei begriffen als widersprüchliches Ensemble von Haltungen zum Prozeßcharakter von Kulturen. Ihr Reflexionsfeld umfaßt plurikulturelle, multilinguale, multireligiöse und multiethnische Zusammenhänge.
Jahrhunderte lang betonte man die unhistorische Auffassung der Sprachreinheit. Den Mythos der „reinen“ Sprachen zu dekonstruieren, bedeutet, die mythische Verbindung zwischen Muttersprache und Literatur in Frage zu stellen. Vorgeschlagen wird, dem Weg vom sprachlichen Kreolismus zur literarischen Anthropophagie zu folgen. Anthropophagie ist vielleicht die bestmögliche Haltung gegenüber der Globalisierung. Anstatt Angst zu haben vor einer kulturellen Uniformierung sollten wir fremde Einflüsse aufnehmen, wissend, dass wir nachher nie wieder so sein werden wie vorher. Wir brauchen ein neues, anthropophagisches Sprachverhältnis, eines, das akzeptiert, dass alle Sprachen Kreolensprachen sind. Wer die Kreolisierung akzeptiert, verwirft jede Form der absoluten Wahrheit und betrachtet jede Ideologie als vergänglich.
Let’s not forget that 1492, one of the first landmarks of Modernity, was both the year of the conquest of the Americas and of the fall or of the Reconquista of Granada, both of inner and outer ethnic cleansing of the nation state; that the national state was a colonial state and is now a securitarian state, that colonialism was the very form of Western Modernity, that the French Revolution itself was colonial, that the leader of the first Black revolutionary independence movement, Toussaint Louverture (Haiti), died in a French prison though inspired by the French Revolution. - No-one has access to reason as whole: there is no such thing as the whole of Reason, or Reason as a whole, or the Totality of reason. Reason is patched up of disconnected bits and pieces that reside at different addresses.
Iqbal and Goethe : a note
(2005)
The recourse to Goethe plays an important role in the work of Mohammad Iqbal (1873-1938), one of the few important writers from the Indian subcontinent who knew German literature. Iqbal situates his own writing in the context of western colonial expansion and the corresponding world-historical loss of power of Islam in the East. The recourse to Goethe becomes an import reference point in his work. It enables him to stylise himself as a Messenger of the East in reply to Goethe as a representative of the West. By establishing a comparative cultural constellation with his German predecessor Iqbal affirms a cultural position consisting of a mode of historical complaint and cultural revival.
Im Mittelalter war der Begriff der Nation zwar schon klar umrissen, aber die Nation in unserem Sinne gab es nicht. Das Wort ›Nation‹ ist entlehnt aus dem Lateinischen nâtio (-ônis), einer Ableitung von nâscî (nâtus sum), geboren werden, das mit dem lateinischen genus‚ Geschlecht, Art, Gattung verwandt ist. Das Wort bezeichnet seiner Etymologie nach eine Gemeinschaft von Menschen derselben Herkunft, die durch gemeinsame Abstammung verbunden sind; dann anschließend eine Gemeinschaft von Menschen gleicher Kultur, Sprache. Demgemäß bezeichnete lat. natio schon in der Antike und noch lange im Mittelalter die Abstammung oder den Herkunftsort einer Person und zwar in Bezug auf politisch nicht organisierte Bevölkerungen. Anfangs bezeichnete also die Nation die Herkunft einer Gruppe von ausgewanderten Menschen, die sich mit der Bevölkerung vermengte, in die sie sich eingliederte. So wurde das Wort besonders gebraucht, um die Herkunft der Studenten einer Universität zu bezeichnen: es ist die Rede von ›Universitätsnationen‹, wobei »mit diesem Wort […] ursprünglich eher Himmelsrichtungen als Nationen im späteren Sinne gemeint«
waren. Es entstand in Paris die Einteilung in vier Nationen: Gallikaner oder Gallier, zu denen auch Italiener, Spanier, Griechen und Morgenländer zählten, Picarden, Normannen und Engländer, die auch die Deutschen und weitere Nord- und Mitteleuropäer beinhalteten. […] Es gab an der 1348 gegründeten Universität Prag ebenfalls vier gleichberechtigte ›Nationen‹, in die sich die einzelnen Studenten organisierten. Die polnische Nation umfasste die Studenten aus Preußen, Schlesien oder aus einer polnischen Stadt mit deutscher Bevölkerung, d. h. aus dem gesamten östlichen Raum; zur böhmischen Nation gehörten die Böhmen, die Tschechen, die Ungarn und die Südslaven, zur bayerischen Nation die Schwaben, die Bayern, die Franken, die Hessen, die Rheinländer und die Westfalen, zur sächsischen Nation die Norddeutschen, die Dänen, die Schweden und die Finnen. So hatte der mittelalterliche Nationbegriff nichts zu tun mit dem modernen, seit der Französischen Revolution in den Vordergrund getretenen, und noch weniger mit dem Nationalismus.
Die 'Weimarer Beiträge' haben in der Wissenschaftsgeschichte der DDR-Ästhetik eine wichtige Rolle gespielt. Sie waren Wegbegleiter einer hochschul- und wissenschaftspolitischen Innovation, die ebenso große Chancen wie Risiken barg. Mitte der sechziger Jahre setzte die Abteilung Ästhetik am Institut für Philosophie der Berliner Humboldt-Universität Stellung und Charakter der Ästhetik als philosophischer Disziplin aufs Spiel, ohne daß die Beteiligten wissen konnten, ob dies möglicherweise der erste Schritt zur allmählichen Selbstabschaffung war. Im Jahre 1965 wurde nach einiger Vorbereitung spruchreif, was sogleich unter dem Schlagwort "Auszug der Ästhetik aus der Philosophie " kursierte. Die Ästhetik machte sich (institutionell) selbständig und riskierte fortan die Marginalisierung im Feld der philosophischen Diskurse. Ein ähnlicher Vorgang vollzog sich in Leipzig. Zum Wintersemester 1963/64 wurde in Leipzig und Berlin ein neuer Studiengang Kulturwissenschaft eingerichtet, der bei den Studienbewerbern einen unerwartet starken Zulauf fand.
Der Studiengang Kulturwissenschaft verband eine philosophische Grundausbildung mit einer für alle Studierenden verbindlichen Spezialisierung (Ästhetik oder Kulturtheorie). Zugleich war ein einzelwissenschaftliches Nebenfach zu absolvieren, in Berlin zunächst beschränkt auf eine Kunstwissenschaft oder Philologie. Der Ansturm der Studenten war so groß, daß die kleinen Ästhetikabteilungen an den philosophischen Instituten hoffnungslos überfordert waren. Die Gründung selbständiger Institute für Ästhetik war nicht nur eine theoretische, sondern eine eminent praktische Frage. Das Netz der betrieblichen und kommunalen Kultureinrichtungen breitete sich damals über das ganze Land aus und war auf qualifizierte und kreative "Kulturarbeiter" angewiesen.
Der 200. Todestag Friedrich Schillers - wären zu diesem Anlaß folgende Feiern vorstellbar: In vielen deutschen Städten werden nicht einzelne, sondern ganze Zyklen von Festreden gehalten, nicht nur von Germanisten, sondern auch von Ministern, Ministerpräsidenten, vom Bundespräsidenten und von Ehrengästen aus dem Ausland; sie füllen Hör- und Festsäle, die für den Publikumsandrang nicht groß genug sein können; die Theater sowieso, aber auch viele Laiengruppen spielen und rezitieren Schiller, so daß von der Großstadt- bis zur lokalen Vereinsbühne ein flächendeckendes Angebot herrscht; dessen Popularität wird nur noch von Denkmalseinweihungen übertroffen, die zu Volksfesten auswachsen; der Bundespräsident ruft zur nationalen Schiller-Spende für Forschung und Nachlaß-Pflege auf; die Kinder haben schulfrei. Überwältigend. Und auch: unvorstellbar - jedenfalls für das Jahr 2005 sowie für die absehbar weiteren Jahre, etwa 2009, wenn Schillers 250. Geburtstag ansteht. Die Vorstellung eines nationalen Spektakels gehört nicht in die Gegenwart und nicht in die Zukunft, sondern in die Vergangenheit der Schiller-Jubiläen.
Auch 50 Jahre nach seinem Tod ist Thomas Mann kein ungelesener Klassiker, keine Regalleiche wie manch anderer Autor des deutschen Bildungskanons. Bei einer Leserbefragung des ZDF gelangte er unlängst, im Herbst 2004 erst, gleich mit mehreren Werken in die oberen Ränge: beinahe in den Olymp der Schmökerhits, den er nicht scheute. "Mich verlangt auch nach den Dummen", antwortete Mann an Hermann Hesse im ersten Brief vom 1. April 1910 auf dessen Bemerkung, daß "zweierlei oder mancherlei Leute" bei seinen Sachen auf ihre Kosten kämen. Er leugnete die "populären Elemente" in seinen Werken nicht, sondern bejahte sie und verwies auf Nietzsches Bemerkung zu Wagners "wechselnder Optik", die gröbsten und die raffiniertesten Bedürfnisse anzusprechen. Diesem Spagat und Kunststück verdanken wir es auch, daß sein Werk heute noch polarisiert und runde Jubiläen noch bedacht werden.
Thomas Mann wollte nicht nur unterhalten, sondern auch belehren und erziehen. Als Künstlerphilosoph in romantischer Tradition und nach Nietzsche vertrat er die Einheit von "Kunst und Kritik". Er wollte kein "naiver" Dichter sein, sondern ein moderner, "sentimentalischer" Künstler, der nicht nur die Selbstverantwortung seiner Lebensführung, sondern auch eine philosophisch-kritische Selbstbegründung seiner Kunst anstrebte. Ich verstehe ihn als einen Künstlerphilosophen, der die Möglichkeiten und Bedingungen seines Lebens in Deutschland erkundete. Mann fragte philosophisch nach den ethisch-anthropologischen Möglichkeiten "guten" Lebens und stellte diese Frage in den Rahmen einer historisch-politischen Bedingungsanalyse des Lebens in Deutschland zurück. Die Antwort des Doktor Faustus, ein Schlußwort des Dichters, ist düster: Dieses Land ist des Teufels. Es ist dort nicht möglich, ein subjektiv beglückendes und moralisch-politisch verantwortliches Leben ernsthaft zu führen. Es bleibt nur der Rückzug in die "innere" Emigration und das Reservat der deutschen Bildung.
In Elias Canettis jüngst posthum herausgegebenen Erinnerungen an die Londoner Jahre, Party im Blitz, gibt es den schönen Ausdruck der "Nichtberührungsfeste ", der die Besonderheit "englischer Parties" charakterisieren soll. Canetti hat seine autobiographischen Bücher gleichsam als Gegenentwurf dazu geschrieben: als Feste der Berührung, der menschlichen Kontakte. In der 'Geretteten Zunge' zumal geben die Figuren einander im buchstäblichen Sinne die Klinke in die Hand, wenn man die vielen wechselnden Länder, Pensionen, Institutionen bedenkt, in die sich der Knabe immer wieder aufs Neue einleben muß. "Die Kunst besteht darin", so Canetti über die gesellschaftlichen Spielregeln seiner Wahlheimat, "einander so nahe zu sein und doch nichts Wichtiges von sich zu verraten. […] Wer etwas Besonderes ist, hat es sorgfältig zu verbergen."
Diese Umstände mögen erklären, warum die englische Literatur nur wenige Autobiographien von weltliterarischem Rang hervorgebracht hat. Die explosionsartige Zunahme britischer Autobiographien seit der Mitte des 20. Jahrhunderts geht denn auch mit dem Niedergang des Gentlemanideals einher. Canettis Schreiben über sich selbst ist eine Reaktion auf seine Exilsituation in England, wo er immerhin seit 1938 ansässig war. Wissentlich begeht er den ultimativen Fauxpas, nämlich hemmungslos über die eigene Person zu sprechen. Er kompensiert damit all die abgebrochenen Gespräche, er entbirgt sich in einer Weise, die seinem britischen Umgangskreis ein Grauen gewesen sein wird.
Friedrich Schillers Schrift 'Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen' reagiert auf ein Paradox, das der Entstehungsgeschichte der neuzeitlichen Demokratie anhaftet: Ausgerechnet zu Beginn einer Epoche, die immer mehr die Fähigkeit des Einzelnen, bei Fragen allgemeinen Belangs ein fundiertes Urteil abzugeben, unterminieren wird, fiel diesem das Stimmrecht und damit die Mitverantwortung für die öffentlichen Angelegenheiten zu. Die Welt wieder einfacher werden zu lassen, das weiß Schiller, ist ausgeschlossen; er akzeptiert als irreversibel den Prozeß der Differenzierung, der das Wirtschaftsleben, die Technik und die Wissenschaft ergriffen hat. Aber etwas anderes scheint ihm machbar: dem Menschen zumindest aus der Deformation seiner Fähigkeit zur wahrhaften Welterfahrung herauszuhelfen und ihn so eher in die Lage zu versetzen, der Verantwortung gerecht zu werden, die die Demokratie ihm aufbürdet.
Dem Menschen soll sowohl eine Offenheit für das Konkrete als auch eine Freiheit für das Allgemeine zurückgegeben werden. Die im Lauf der Zivilisation in eine schiefe Lage geratenen sinnlichen und intellektuellen Persönlichkeitskomponenten des Menschen, so Schillers Programm, sollen neu in eine Gleichgewichtsstellung gebracht werden. Nur so kann der Mensch den beiden von Schiller diagnostizierten Komplementärfehlern der Neuzeit entgehen, entweder im Typus des "Barbaren" seine Begriffe ohne Unterfütterung durch Erfahrungsmaterial blindwütig aufzuoktroyieren, oder im Typus des "Wilden" sich begriffslos in den Horizont seiner individuellen Erlebnisse und Gefühle einzuschließen.
Als am späten Abend des 25. Juni 1935 die Lichter gelöscht und die Türen des Pariser Versammlungsgebäudes der Mutualité geschlossen sind, ist der Schriftstellerkongreß zur Verteidigung der Kultur nicht Vergangenheit. Um seine Bedeutung zu begreifen wie um zu verstehen, warum sie sich so schnell verflüchtigen konnte, genügt die Betrachtung des Ereignisses nicht. Wie ist er von denen aufgenommen worden, die ihn nicht aktiv gestaltet haben oder am Rande bleiben mußten? Wie haben die Akteure ihr Engagement und ihre Divergenzen fortgesetzt? Was hat die Schriftstellervereinigung, die in Paris gegründet worden ist, getan und was ist aus ihr geworden bis zum Beginn jenes Krieges, der aus heutiger Sicht das Jahrzehnt so weitgehend bestimmt und den - bei allem, was auf ihn hindeutet - die Kongreßteilnehmer noch zu verhindern, nicht leben zu müssen hoffen? Auf diese drei Fragen sollen im folgenden Antworten versucht werden.
"Gewiß ist die Zerstörung der deutschen Judenheit, die wir staunend an uns selber miterleben, wir Zeitgenossen des Frühjahres 1933 - gewiß ist die Unterdrückung, Beschmutzung, wirtschaftliche Vernichtung eines schöpferischen Bestandteiles der deutschen Bevölkerung [...]." Mit dieser Gewißheit machte sich Arnold Zweig unmittelbar nach dem Reichstagsbrand - schon auf der Flucht über die Schweiz und Frankreich nach Palästina - daran, eine Bilanz der deutschen Judenheit zu ziehen, so der 1934 in Amsterdam erschienene Essay, in dem er die Leistung der deutschen Juden in Wirtschaft, Technik und vor allem in Wissenschaft und Kultur aufzeigte. Zweigs Perspektive ist symptomatisch für die Selbstwahrnehmung der unmittelbar betroffenen deutschen Juden angesichts des Jahres 1933. Sie ist geleitet von zwei Elementen: erstens dem rasch sich einstellenden Bewußtsein eines endgültigen Endes des jüdischen kulturellen Lebens in Deutschland nach der Machtergreifung der Nazis 1933, wie Zweig auch im ernüchternden Satz "Die Sache der deutschen Juden [...] ist rund, abgeschlossen darstellbar" unterstreicht; zweitens - und von diesem Standpunkt aus gesehen - der Aufgabe eines erinnernden Rückblicks auf die 150 Jahre zwischen Aufklärung und Weimarer Republik als einer denkbar kreativen Phase jüdischer Geschichte in der Diaspora.
Mystische Blendung : zu Gustav Theodor Fechners Selbstversuchen und seinem panpsychistischen System
(2005)
Vielleicht könnte man behaupten, daß im Fall Fechner die humanwissenschaftliche Erkenntnisbeziehung modellhaft zum Vorschein kommt, modellhaft nämlich in ihrer, wie Michel Foucault sagt, doppelten Qualität, "gleichzeitig gefährlich und gefährdet" zu sein, und in ihrer Eigenart, den Menschen als ihre Möglichkeitsbedingung und ihren positiven Gegenstand auszuzeichnen, als "Subject und Object der inneren Erfahrung zugleich", wie es in den Elementen der Psychophysik (1860) heißt. Fechner entwickelte als erblindeter Selbstbeobachter nicht nur eine Theorie über die Blindheit als solche, sondern über die an und für sich: die Blindheit des Sehens für seine eigenen Möglichkeitsbedingungen, die eine Blindheit des denkenden Ichs beim Denken seiner selbst vorstellt. Dem Auge, das ohne Vermittlung oder prothetische Unterstützung sich selbst nicht erblicken kann, kommt hierfür in doppelter Hinsicht eine Schlüsselfunktion zu. Denn was sowohl dem anschaulichen als auch dem begrifflichen Denken undenkbar bleiben muß, obschon es erkannt werden soll, wird zu einem Gegenstand von Dichtung oder Experimentalwissenschaft.
"Unsere Väter hatten vielleicht noch die Zeit, sich zu beschäftigen mit den Idealen einer objektiven Wissenschaft und einer Kunst, die um ihrer selbst willen besteht. Wir dagegen befinden uns ganz eindeutig in einer Lage, in der nicht dieses oder jenes, sondern in der die Totalität unseres Lebens in Frage steht." - Diese Zeilen, die eine tiefe historische Kluft behaupten, welche die gefährliche Gegenwart der Moderne von der sekurierten Welt der Väter trennt, stammen aus dem 1932 veröffentlichten Buch 'Der Arbeiter. Gestalt und Herrschaft". Ihr Verfasser, der ehemalige Frontkämpfer und Autor Ernst Jünger, zieht in dieser in Kreisen der sogenannten "Konservativen Revolution" - diskursiv einflußreichen Schrift eine vorläufige Bilanz seiner nunmehr über zehn Jahre währenden Auseinandersetzung mit der Frage nach den Lebensbedingungen in der von ihm mit einer "mit Blut gespeisten Turbine" gleichgesetzten Moderne. Ihren Ausgangspunkt bei der Beschreibung und Analyse moderner Lebensverhältnisse nehmen Jüngers Überlegungen in dem mehr als dreihundert Seiten umfassenden Essay im Ersten Weltkrieg, jener epochalen "Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts" mit ihrem für das deutsche Selbstverständnis so verheerenden Ausgang. Dieser Krieg wurde in Jüngers wie auch in vielen anderen deutschsprachigen Texten der nachwilhelminischen Ära - zu denken ist hier zum Beispiel an Thomas Manns 'Der Zauberberg', an Robert Musils 'Der Mann ohne Eigenschaften' oder auch an Oswald Spenglers 'Der Untergang des Abendlandes' - als eine tiefgreifende Schwellenerfahrung gedeutet, die das lange 19. Jahrhundert vom nun angebrochenen 20. Jahrhundert trenne und die gezeigt habe, daß das in den letzten beiden Jahrzehnten von soziokulturellen und politischen Umwälzungen schwer gezeichnete Europa in ein neues, postliberales Zeitalter eingetreten sei. "Dem Zustand, den der Krieg hinterlassen hat," so Jüngers Resümee in der Endphase der Weimarer Republik, "ist ein seltsamer Gegensatz eigentümlich zwischen der Lage des Menschen und den Mitteln, über die er verfügt. Man hat sich daran gewöhnt, in Erscheinungen wie der Arbeitslosigkeit, der Wohnungsnot, dem Versagen der Industrie und Wirtschaft eine Art von Naturereignis zu sehen. Diese Erscheinungen sind jedoch nichts anderes als Symptome für den Verfall der liberalen Ordnung."
Nur frühwarnsystembastelnde Optimisten glauben, daß die Auswirkungen der jüngsten Flutwelle auf materielle Schäden begrenzt bleiben könnten. Mit jeder neuen Nachrichtensendung, mit jedem neuen Tsunamiexperten erwischte uns ebenso flutartig und begleitet von zahlreichen wissenschaftlichen Erklärungsmustern eine Welle religiöser Deutungsmuster der Katastrophe. Naturfürchtig rollt sich jede Aufklärung in sich zusammen in Angst und Schrecken vor der Strafe Gottes. Mit anderen Worten: Wie bei jeder Katastrophe hat man es mit einem Wettlauf zwischen verschiedenen konkurrierenden Deutungsmodellen zu tun. Was bei dem Dezember-Tsunami überrascht - und von allen Medien fleißig kommentiert wurde -, war die Tatsache, daß biblische Deutungsmuster erstmals die Nase vorn hatten. Die jüngsten Tsunamis spülten eine Welle von biblischen Bildern und sintflutartigen Metaphern in die Wohnzimmer der nichtüberschwemmten Welt: Die erste globale Naturkatastrophe des neuen Jahrtausends war auch eine Rückkehr in ein wenn nicht biblisches, so doch religiös konnotiertes Weltbeschreibungssystem.
Diese Beschreibungen werfen die Zivilisation weiter zurück als die materiellen Schäden - exakt ins Jahr 1755. Am 1. November erreichte jene legendäre 22 Fuß hohe Welle Lissabon; nur zwei Stunden später war sie schon in Irland. Die schwerste Naturkatastrophe in der Geschichte Europas erschütterte die Iberische Halbinsel und Nordafrika mit drei Erdstößen. Sie zerstörte Lissabon und löste einen Tsunami aus, der zehntausende Menschen tötete und selbst in Deutschland noch zu spüren war. Die erste in London eintreffende Nachricht berichtete folgendes: "Das Handelshaus und der Königspalast sind vollständig zerstört, die Warenhäuser der Überseehändler verloren, und, um die Zerstörung der Stadt zu vervollständigen, wurde sie von schwefligen Eruptionen aus den Gedärmen der Erde in Brand gesetzt. Mehr als die Hälfte der Gebäude sind zerstört und ungefähr 100000 Menschen haben ihr Leben verloren. Der König und seine Familie entkamen halbnackt aus dem Palast."
Große Geschichten der Ästhetik sind selten geworden. Ihr Anliegen, dem ästhetischen Denken durch die Jahrhunderte zu folgen, der Genese und inneren Logik ihrer Begriffe zu vertrauen und deren Dynamik, Vielschichtigkeit und oft Ambivalenz(en) zu rekonstruieren, ist spätestens seit dem ausgehenden 20. Jahrhundert in philosophisch-ästhetischen und kulturwissenschaftlichen Diskursen nicht mehr en vogue. Die Gründe sind so verschieden wie unterschiedlich transparent, das Resultat ist eine weitgehende Abstinenz gegenüber umgreifenden historischen Darstellungen und ein weitgehender Verzicht auf disziplingeschichtliche Gesamtentwürfe, jedenfalls im traditionellen Sinne. Wladyslaw Tatarkiewiczs große Geschichte der Ästhetik in drei Bänden (von der Antike bis zur Neuzeit) aus den Jahren 1962-1966 (dt. 1979-1987) gehört schon in die Kategorie solcher Raritäten, der selten gewordenen Unternehmungen, den historischen Horizont europäischer Geistesgeschichte im Feld ästhetischer Vorstellungen, Ideen und Begriffe auszuschreiben. Die Geschichte der sechs Begriffe wirkt noch viel mehr wie ein geistiger Dinosaurier in der gegenwärtigen Diskurslandschaft.
In ihr ist viel bewahrt und vollendet von dem, was genuine Geistesgeschichte im 20. Jahrhundert mit ihren Wurzeln, die im 19. Jahrhundert liegen, hervorgebracht hat. Die Stringenz ihres Begriffsvertrauens und das Ungebrochen-Enzyklopädische des historischen Wissens gehören zu dem, was Wladyslaw Tatarkiewicz vielleicht als einer der letzten, oder der letzte bedeutende, europäische Denker von Rang in Sachen Philosophie und Kunst noch einmal eindrucksvoll mit aller Reichweite und allen Grenzen - demonstriert hat.
Feuer, Wasser, Erde und Luft in der modernen Kunst : Strategien der Darstellung des Elementaren
(2005)
Zu Ende ihrer Kulturgeschichte von Feuer, Wasser, Erde und Luft diagnostizieren die Brüder Gernot und Hartmut Böhme eine "Wiederkehr der Elemente" in der gegenwärtigen Alltagswelt. In kaum einem Bereich jedoch ist diese "Wiederkehr" so deutlich zu erkennen wie in der modernen Kunst seit Beginn der sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts. Im Zuge der Emanzipation des Stoffs von der Form und den damit einhergehenden Materialuntersuchungen der Avantgarde und vor dem Hintergrund von Umweltzerstörung und Naturentfremdung wurden Feuer, Wasser, Erde und Luft zu bedeutenden Themen der Kunst. Von der Earth-Art bis zur Air-Art, von den Wasserarbeiten Klaus Rinkes, der Lichtkunst James Turells, den Feuerzeichnungen von Jannis Kounellis bis zu den Steinskulpturen von Ulrich Rückriem, um nur einige Beispiele zu nennen, erweitern die vier Elemente das Repertoire der Kunst und werden in eigenen Ausstellungen thematisiert. Wenn hierbei von einer "Wiederkehr" gesprochen wird, so darf nicht übersehen werden, daß die Elemente in der späten Moderne gewissermaßen nackt und vollkommen entsemantisiert präsentiert werden, während sie in der frühen Neuzeit, etwa in den Kupferstichen von Antonius Wierinx (um 1552-1624) oder Jan van de Velde (1593-1641) über den Umweg einer allegorischen und ikonologiegeschichtlich zu deutenden Weise dargestellt wurden.
Die "Wiederkehr der Elemente" in der Kunst ist daher nicht unbedingt als Fortführung einer zwischenzeitlich in Vergessenheit geratenen Tradition zu verstehen, sondern vielmehr als Wiederaufnahme eines alten Motivs auf vollkommen neue Weise. Die Frage, der im folgenden nachgegangen werden soll, ist die, ob bzw. wann die Thematisierung von Feuer, Wasser, Erde und Luft in der modernen Kunst in einer Weise erfolgt, in der diese Phänomene zugleich als Elemente präsentiert und erfahren werden.
Es gehört zu den Gemeinplätzen der Forschung, daß die Wahrnehmung von Rilkes Werk schon immer durch eine gewisse Ambivalenz geprägt war. Stellvertretend sei ein Zitat genannt, in dem Gottfried Benn im Namen der unmittelbar nachfolgenden Generation beides, den Satz und den Gegensatz in einem besagt: "Diese dürftige Gestalt und Born großer Lyrik, verschieden an Weißblütigkeit, gebettet zwischen den bronzenen Hügeln des Rhonetals unter eine Erde, über die französische Laute wehn, schrieb den Vers, den meine Generation nie vergessen wird: 'Wer spricht von Siegen - Überstehn ist alles!'"
Man kennt auch einige Scheidungslinien, durch die sich die ambivalente Wahrnehmung artikuliert hat. So hat gerade seine (hermetisch anmutende) künstlerische Vollkommenheit nicht nur Bewunderung, sondern auch stete Irritation hervorgerufen, zumal Rilke unverhohlen bestrebt war, auch sein Leben als (eine Art von orphisch-narzißtischem) Kunstwerk in Vollkommenheit zu bringen, sein Name sollte ein Lebens-Werk im wahrsten Sinne bezeichnen; hat er doch schriftlich bezeugt, daß er seine Privatbriefe als "Teil der Ergiebigkeit [s]einer Natur" betrachtet. Rilke selbst hat oft betont, daß er dieses Lebens-Werk gegen seine eigene "Zeit", "die keine Dinge hat, keine Häuser, kein Äußeres" (so in dem Rodin-Vortrag aus dem Jahr 1907; [9/240]) errichtete.
"Es geht, denkt man Büchner zu Ende, um einen Wendepunkt in der Literatur, um eine Drehung der Perspektiven in genau dem Augenblick, da ein deutscher Philosoph ein Gespenst an die Wand malte. Und dieses Gespenst hieß 'Der Tod der Kunst'. Wenn der Urteilspruch stimmt, dann war Büchner einer der ersten am Grab, dann ist sein Werk der früheste Kommentar zum eröffneten Testament. Büchner hat [...] einen Ausfall gewagt, einen Befreiungsschlag in höchster Bedrängnis. Mit einem Salto mortale hat er die Dichtung von der Zumutung befreit, hinwegspielen zu müssen gleichermaßen über das elende Reale wie über das reale Elend. Was ihm gelang, war nichts Geringeres als eine vollständige Transformation: Physiologie aufgegangen in Dichtung. Und es war nicht ein Sonderweg, wie sich herausgestellt hat, es war der Anfang einer Versuchsreihe, die bis zum heutigen Tag fortgeführt wird. [...] Zum Vorschein kam eine härtere Grammatik, ein kälterer Ton: das geeignete Werkzeug für die vom Herzen amputierte Intelligenz." Die Beziehung, die Durs Grünbein zwischen Naturwissenschaft - insbesondere Physiologie und Medizin - einerseits und ästhetischer Erfahrung andererseits erblickt, ist für das Verständnis seiner Poetik von entscheidender Bedeutung. Sie entzündet sich an der Kritik des ästhetischen Scheins. In der Ästhetik bestimmt Hegel den Schein als eine Überwindung des sinnlich Unmittelbaren durch die ästhetische Formverleihung, die das Sinnliche zur Manifestation von Wahrheit macht und dadurch vom vorästhetisch Sinnlichen abhebt, das in einem Zustand opaker Faktizität verbleibt, unfähig, an sich das Wahre durchschimmern zu lassen: "In der gewöhnlichen äußeren und inneren Welt erscheint die Wesenheit wohl auch, jedoch in der Gestalt eines Chaos von Zufälligkeiten, verkümmert durch die Unmittelbarkeit des Sinnlichen und durch die Willkür in Zuständen, Begebenheiten, Charakteren usf. [...] die Täuschung dieser schlechten, vergänglichen Welt nimmt die Kunst von jenem wahrhaften Gehalt der Erscheinungen fort und gibt ihnen eine höhere, geistgeborene Wirklichkeit." Dadurch entkräftet Hegel meisterhaft die Vorwürfe von Unwahrheit und Betrug, die an die Adresse des ästhetischen Scheins erhoben werden, indem er zeigt, daß die "ganze Sphäre der empirischen inneren und äußeren Welt [...] in strengerem Sinne als die Kunst ein bloßer Schein und eine härtere Täuschung zu nennen ist".
Wenn Yvan Goll 1920 programmatisch feststellen konnte, die Basis für alle neue kommende Kunst sei das Kino, um einen ästhetischen Avantgardismus in der Annäherung von Künsten und Film zu begründen, dann beginnt Deleuze mit der Frage: "Was offenbart der Film, was die anderen Künste uns nicht offenbaren?" Anstatt Resonanzen oder Affinitäten im ästhetischen Feld herauszustellen, müssen die "Begriffe, die von der Philosophie für den Film vorgeschlagen werden,[…] spezifisch, das heißt nur dem Film angemessen sein." Der Film als Gegenstand der Untersuchung ist eine Singularität, und dementsprechend haben auch seine Begriffe den Charakter von Singularitäten, die von keinen Universalien, Transzendentalien oder Allgemeinheiten eingeholt werden können. Begriffe, zum Beispiel aus der Psychoanalyse, von außen an den Film heranzutragen, würde die Singularität des Films verfehlen, weil sie nicht mehr vom Film sprechen, sondern etwa vom Imaginären, von Kastrationsangst oder Partialobjekten. Übertragungen dieser Art würden die Bewegung des Denkens auf der Ebene der Immanenz, um die es Deleuze zu tun ist, außer Kraft setzen.
Deleuzes Philosophie des Kinos versteht man besser, wenn man den Abstand sieht, den er von den Filmtheorien der klassischen Moderne nimmt, die für lange Zeit die Diskussionen und Untersuchungen in der Kulturwissenschaft der Medien orientiert haben: Walter Benjamin und Siegfried Kracauer. Beide haben sich durchaus auch auf die Besonderheit des Mediums Film konzentriert, aber sie bewegen sich - wie sich zeigen wird - allein im Horizont des Denkens der Moderne, den Deleuze überschreitet.
Die Angst des Menschen, daß sich seine Maschinenschöpfung gegen ihn richten könnte, hat im Motivkomplex des Auges einen wesentlichen Bezugspunkt. So eröffnet E.T.A. Hoffmanns Sandmann jenes poetologische Feld, das Ridley Scotts Blade Runner unter verkehrten Vorzeichen zum Fanal für das "göttliche" Auge des (Maschinen)Schöpfers werden läßt. Während im romantischen Nachtstück Hoffmanns die Menschmaschine Olimpia vom Ingenieur ihrer Hardware der Augen und damit einer imaginierten Einsichtsfähigkeit beraubt wird, ist es im postmodernen Zukunftsentwurf Scotts die Maschine in Form des Replikanten, der seinen Schöpfer zunächst blendet und schließlich gar tötet, indem er ihm die Augen in den Schädel drückt. Im Hinblick auf den prämedialen Vorläufer des Sandmann verkehrt Scott in einem chiastischen Motivzitat nicht nur das Gewaltverhältnis von Geschöpf und Schöpfer, sondern auch die Stoßrichtung des Gewaltaktes.
Wenn sich die Fortschreibung von Kants Kritik in der Anthropologie mit der Grundfrage "Was ist der Mensch?" doch wenigstens auf die biologischen und rein kognitiven Bedingungen der Spezies homo sapiens beschränkt hätte, um wie vieles einfacher wäre es (bei aller Schwierigkeit), das wenigstens einmal zu umreißen, was menschliches Sein im psycho-physischen Sinne heute - bald vier Jahrhunderte nach Descartes - ausmachen könnte. Doch steht nicht einfach nur die Physis des Menschen seiner - wie wir seit Karl Philip Moritzens Erfahrungsseelenkunde ahnen, spätestens aber seit Freud (zu) wissen (glauben) - ebenfalls nahezu undurchdringlich komplexen Psyche gegenüber. Vielmehr schafft der Entwurf eines genuin "menschlichen", transzendentalen Subjekts, das sich nicht nur selbst beschreibt, sondern über die Bedingung der Möglichkeit seiner Erkenntnis nachsinnt, etwas Drittes. Dieses Dritte, der epistemologische Entwurf des "Menschen", ist alsbald schon einem Ende preisgegeben. Dennoch steht er als Phantasma weiterhin zur Disposition.
Im Krebsgang ist eine Erzählung, die einem widerstrebenden Erzähler abgenötigt wird. Paul Pokriefke ist ein mittelmäßiger Journalist, der der für eine Biographie nicht unwichtigen Frage nach den Umständen seiner Geburt ausweicht, indem er sich von jeher strikt geweigert hat, über die damit zusammenhängenden schrecklichen Ereignisse zu reden, bis ihn ein alter Schriftsteller zwingt, sein Schweigen zu brechen. In der Nacht des 30. Januar 1945 befand sich die hochschwangere Tulla Pokriefke auf der "Wilhelm Gustloff", dem Schiff, das Gotenhafen (heute Gdynia) mit 10.000 Flüchtlingen verlassen hatte und kurz darauf von einem sowjetischen U-Boot torpediert wurde und versank. Paul wurde während der Versenkung geboren und geborgen, die so viele Menschen - darunter 4.000 Kinder - das Leben kostete.
Um sein langes Schweigen zu begründen, beruft sich Paul auf seine alles andere als erfreuliche Jugend, über die die Stimme der Mutter einen langen, bedrückenden Schatten wirft. In Tullas Augen gehört die Versenkung des Schiffes nicht in die Vergangenheit, sondern in eine ewige Gegenwart, die seit Pauls verhängnisvollem Geburtstag andauert. Ihr damals weiß gewordenes Haar ist das deutliche Zeichen eines nie überwundenen Traumas, welches die Zeit zum Stillstand gebracht hat.
"Wir alle hier wissen, was uns blüht. Daß wir aufhören zu existieren, wenn ihr aufhört, an uns zu denken", meinte Edgar Wibeau im Jahre 1972. "Meine Chancen sind da wohl mau." - Da hat er sich geirrt. Ulrich Plenzdorf war einer der DDR-Autoren mit Format: Kultbuchautor mit breitestem Publikum und über die Grenzen beider deutscher Staaten bekannt. Seine Texte galten als ästhetisch und politisch dissident, brachten ihn in Dauerclinch mit den DDR-Zensurbehörden und wurden von seinen Lesern, Zuschauern und Kritikern kontrovers diskutiert. Sprachgewandtheit, Witz und Widerspenstigkeit galten als seine Markenzeichen.
Bis auf den Wegfall der DDR-Zensurbehörden hat sich daran wenig geändert. Die Umstellung vom Ostautor und (gern gesehenen) Gast im Westen zum Mitkonkurrenten auf dem gesamtdeutschen, nolens volens westlich geprägten Literatur- und Medienmarkt ist ihm offensichtlich gelungen. Nicht mühelos freilich, das sagt er selbst, aber auch nicht um den Preis seiner Identität als Autor: Er hat sich als solcher nicht neu erfinden müssen. Seine Arbeiten haben ihrem Publikum wann und wo auch immer kulturelle und ideologische Reibeflächen zu bieten.
"Hier oder nirgend ist Amerika!". - Denn auch in Deutschland ist Amerika. Es ist kennzeichnend für Goethes Weitsicht, daß er Amerika nicht nur als Flucht- und Schonraum oder als Siedlungsraum für Kolonisten sieht, sondern auch als Vorbild und Anregung für die Alte Welt. Goethe zeigt dies an zwei Personen, Lothario in den Lehrjahren und dem Oheim in den Wanderjahren. Lothario hat "in Gesellschaft einiger Franzosen [gemeint ist wohl Lafayette] mit vieler Distinktion unter den Fahnen der Vereinigten Staaten gedient" und dort die Erklärung der Menschenrechte, die Gleichheit aller vor dem Gesetz und die Abwesenheit von Feudalstrukturen kennengelernt. Er beschließt, diese Ideen auf seinen Gütern in Deutschland zu verwirklichen. "Ich werde zurückkehren und in meinem Hause, in meinem Baumgarten, mitten unter den Meinigen sagen: Hier oder nirgend ist Amerika!" Seine Reformen zielen auf die allmähliche Befreiung seiner Bauern von Abgaben und Dienstbarkeiten, die Abschaffung der Steuerexemtion des Adels und die freie Wahl des Ehepartners für die Bauern. Damit schafft Goethe ein evolutionäres Gegenmodell zu der Wirklichkeit des revolutionären Frankreich; es orientiert sich an Amerika, wobei Goethe die Tatsache ausblendet, daß auch die Vereinigten Staaten das Produkt einer Revolution sind.
John Ford und die 'ruthless Red hand of Communism'. - "Fry 'em out – burn 'em out – cook 'em!' Der Sprecher scheint die US-Truppen anzufeuern, die gerade dabei sind, eingegrabene Gegner mit Phosphor-Granaten und Flammenwerfern zu bekämpfen. Selbst glühendste Verehrer von John Ford tun sich enorm schwer mit dieser Sequenz, die uns Geschehnisse vor Augen führt, welche der Regisseur im Frühjar 1951 auf Celluloid bannen ließ, und zwar für 'This Is Korea!', eine seitens der Forschung sicher nicht zufällig weitgehend ignorierte Marine-Dokumentation. Von Ford selbst als "narrative glorifying American fighting men" apostrophiert, suchte diese das amerikanische Publikum darüber in Kenntnis zu setzen, was sich damals in dem zweigeteilten asiatischen Land abspielte, einem Land, welches, so versichert uns der Off-Kommentar, "peaceful" gewesen sei, "until the ruthless Red hand of Communism reached out to snatch it." Daß die Vereinigten Staaten letzterer in aller Entschlossenheit entgegenzutreten hätten, davon war der Anti-Kommunist Ford überzeugt, der unmittelbar vor 'This Is Korea!' eine andere "narrative glorifying American fighting men" vorgelegt hatte, in der es ebenfalls um die Bekämpfung der "ruthless Red hand of Communism" ging: Rio Grande.
Als dritter Teil von Fords berühmter Kavallerie-Trilogie war der Film im November 1950 in die Kinos gelangt und gilt der Forschung mittlerweile als mustergültiger Cold War Western oder, in Michael Coynes Worten, "scantily disguised frontier equivalent of the communist threat." In denkbar unverhohlener Weise der damaligen Containment-Politik das Wort redend, läßt der Film deutlich werden, wie ausgesprochen eng sich das älteste Genre der Filmgeschichte zuweilen mit dem politischen Diskurs und Geschehen synchronisierte.
Die aktuelle Macht und Allgegenwart der Bilder in der Alltagswelt zwingt die Literatur keineswegs dazu, gegenüber den Bildmedien in die zweite Reihe zurückzutreten. Tatsächlich aber wachsen ihr neue Aufgaben zu. Die Proklamation eines 'iconic turn' impliziert die gerade für das literarische Schreiben in der Moderne maßgebliche Frage nach der Sprache und ihren Grenzen, nach der Beziehung sprachlich-literarisch übermittelter Ideen, Konzepte und Modelle zu Bildern und visuellen Strukturen, sowie nach der latenten oder offen manifesten Sprachlichkeit von Bildern. Wenn aber die Rede vom 'iconic turn' einen bewußteren Umgang mit Bildern und visuellen Strukturen impliziert, dann wird er wohl von der Literatur sogar in besonderem Maße unterstützt und wäre demnach ein von dieser und der Bilderwelt gemeinsam getragenes inter-mediales Projekt.
Wenn es Aufgabe der Literaturwissenschaft ist zu erforschen, „in welchem Maße Literaturen an den Kämpfen um kulturelle Hegemonie beteiligt sind“ (Kirsch), so gilt das besonders für historische Romane, die nationale oder regionale Geschichte rekonstruieren. Solche Romane schreiben entweder die Opposition von Siegern und Besiegten fest oder stellen Geschichte als shared history der beteiligten Akteure dar. Auch innerhalb Europas gibt es Kultur- und Sprachräume, die die letzten Jahrhunderte im Status kolonialer Abhängigkeit verbracht haben und über diese langen Zeiträume hinweg kulturellen Hybridisierungsprozessen ausgesetzt waren. Eine solche Erfahrung hat die Mittelmeerinsel Sardinien zutiefst geprägt; Sardinien ist „eine der ältesten und dauerhaftesten Kolonien der Welt“ (Day). Die heutige sardische Literatur trägt daher alle Züge einer postkolonialen Literatur. Sie präsentiert sich als kulturelles und sprachliches patchwork, als individuelle und kollektive Suche nach dem, was sardische Identität nach dem Durchgang durch den Kolonisationsprozeß ist und sein kann, als Basteln einer imagined community im Zeitalter von Massentourismus und Globalisierung. Mit Sergio Atzeni ist ein Autor angesprochen, der es bis zu seinem frühen Tod im Jahr 1995 als seine Aufgabe angesehen hat, Sardiniens Geschichte(n) Schriftform zu geben.
Die Fragestellung gehört ins Gebiet der literarischen Imagologie, die sich mit der Entstehung von Fremdbildern und von Selbstbildern von Nationen beschäftigt. Was für die Bilder ganzer Nationen und Völker gilt, das besitzt auch seine Geltung für das Bild einzelner, in besonderem Maße öffentlichkeitsrelevanter Personen. Die Verbindung von Rezeptionsforschung und Imagologie kann Ergebnisse über Entstehung, Konstituierung und Entwicklung von Selbstinszenierungs-Strategien erbringen, die über bisher angestellte Untersuchungen hinausgehen. Dabei gehören Fragen nach dem Selbstverständnis des Dichters und nach der Übereinstimmung zwischen Selbstbild und Erscheinungsbild ebenso dazu, wie Fragen nach der Historizität dieser imagotypen Strukturen.
Am Schluß einer Vortragsreihe, die das Verhältnis des Menschen zur Technik beleuchtet, stellt sich die Frage, wie sich die Technik auf den Menschen selbst auswirkt, mit besonderem Nachdruck. Wenn sich auf technische Weise so vieles verändern und verbessern läßt, so trifft dies sicherlich auch auf den Menschen selbst zu - einmal ganz abgesehen von Arm- und Beinprothesen, von künstlichen Gebissen und Herzschrittmachern. Die Phantasie der Menschheit richtete sich von den Anfängen an nicht nur auf Teile, sondern aufs Ganze: Sollte es nicht möglich sein, einen künstlichen Menschen zu schaffen? Und darüber hinaus: Sollte es den Menschen nicht möglich sein, eine künstliche Intelligenz zu konstruieren, die dem Menschen ebenbürtig ist, sich also unabhängig vom Menschen manifestiert? Nach so vielen schwergewichtigen Vorträgen mag ein eher heiterer Ausklang angebracht sein, obwohl auch hier zuweilen einige Töne scharf, ja fast bedrohlich klingen mögen.
In den Einzelphilologien hat die feministische bzw. gender-orientierte Literaturwissenschaft längst Fuß gefaßt (auch wenn sie auch dort mitnichten wissenschaftlicher Standard für alle ist). Warum also ist die Komparatistik - nicht nur, aber ganz besonders in Deutschland - im Vergleich zu vielen anderen Kulturwissenschaften in dieser Hinsicht so konservativ, obwohl sie doch das Selbstbild hat, weltoffen, progressiv und als Literaturwissenschaft auch politisch relevant zu sein? Welche Berührungspunkte gibt es zwischen feministischer Literaturwissenschaft bzw. 'Gender/Queer Studies' einerseits und der Komparatistik andererseits? Welche Konsequenzen hätte die Berücksichtigung von Gender als zentrale Analysekategorie (vgl. Hof 1995) in Theorie und Praxis des Faches Komparatistik?
Im Folgenden wird es darum gehen, die - im doppelten Sinne des Wortes - kritische Position der Dekonstruktion zwischen Hermeneutik und Diskursanalyse herauszuarbeiten. Das mit den Ansprüchen strenger Wissenschaftlichkeit scheinbar schwer zu vereinbarende Paradigma der Enttäuschung, das sich aus den Schriften Jacques Derridas wie Paul de Mans ableiten läßt, dient als Leitfaden für den Nachweis des kritischen Potentials, das die Dekonstruktion als eine anti-hermeneutische Textwissenschaft bereithält, die trotz aller Widerstände auf ihrer literaturtheoretischen Eigenständigkeit beharrt.
Nicht nur steht die Literatur vor dem Gesetz, sondern auch das Recht im Theater. Das Theater inszeniert juristische Verhältnisse. Die Rollen, die der Prozeß von den Beteiligten verlangt, die erzählerischen Elemente der Ermittlung, der stete Verdacht des Schauspielens vor Gericht - all dies ergibt eine traditionsreiche Konstellation, in der sich die Ordnung des juristischen Diskurses mit der Ordnung des theatralen Diskurses vermischt und vermengt. Es sind vor allem die Parallelen hinsichtlich des Verfahrens, in denen diese Konstellation lesbar wird. Gerichtspraktiken sind vor aller Archivierung, so hat es Michel Foucault an der Tragödie König Ödipus gezeigt, auf der Bühne zur Schau gestellt und damit zur Verhandlung gebracht worden. Sophokles' Tragödie lasse sich, so Foucault, als "Prozess der Wahrheitsfindung" lesen, in der die exklusive 'Wahrheitsverwaltung' des Orakels und der Prophetie durch die Wahrheitsproduktion per Befragung ersetzt wird. Die Prophetie wird am Ende der Sophokleischen Tragödie durch den Hirten als "Zeugnis" wiederholt. Der Hirte ist Zeuge im juristischen Sinne des Wortes. Er hat die Tat gesehen, er muß darüber berichten, und die Evidenz des Gesehenen und Erlebten ist in der Lage, die Wahrheit der Tat gegen die Wahrheit der Macht ins Spiel zu bringen. Sophokles Stücke könne man sogar, so Foucault, als eine "theatralische Ritualisierung der Rechtsgeschichte" lesen.
In einer Antwort auf die im Jahr 1990 von der Redaktion an zahlreiche Autoren gerichtete Umfrage zu 'Irrwegen' oder 'Weiterzuführendem' der Vergangenheit sowie möglichen Perspektiven für die Weimarer Beiträge heißt es über die Zeitschrift: "Sie hat über die Jahre ein durchaus unverwechselbares Profil entwickelt, wobei mir die DDR-spezifische Mischung von Literaturanalyse, Soziologie und Kulturtheorie gut gefallen hat [. . .]". Diese Konstatierung eines 'unverwechselbaren Profils' spricht gleichsam die Intention der folgenden Ausführungen an. Gefragt wird danach, wohin jene Neuprofilierung Anfang der siebziger Jahre führte, mit der aus der Zeitschrift für Literaturgeschichte (so der Untertitel 1957-1963) bzw. Zeitschrift für Literaturwissenschaft (1964-1969; 1968: Literaturwissenschaftliche Zeitschrift) die Zeitschrift für Literaturwissenschaft, Ästhetik und Kulturtheorie wurde, was daraus erwuchs für die Zeitschrift, ihre Arbeitsweise, ihre Inhalte und ihre Bedeutung in der damaligen Wissenschaftslandschaft, und inwiefern sich hierin 'Unverwechselbares', Innovatives, Weiterweisendes, auch womöglich heute noch oder wieder Aktuelles zeigte.
Dem liegt ein wissenschaftsgeschichtliches Interesse zugrunde: Fachzeitschriften organisieren, bündeln und forcieren wissenschaftliche Kommunikation. Sie schreiben Fachgeschichte, und zugleich vermag eine Beobachtung ihrer Geschichte institutionen-, personen-, konzept- und methodengeschichtliche Erscheinungen, Vernetzungen und Prozesse der Wissenschaft aufzuzeigen. Ein Rückblick auf die Entwicklung einer national wie international renommierten Zeitschrift wie der Weimarer Beiträge im angegebenen Zeitraum (1989 wurde ihr der Alfred-Kerr-Preis verliehen) kann somit ein Stück Wissenschaftsgeschichte in der DDR erhellen. Der Fokus ist gerichtet auf 'Organisation von wissenschaftlicher Kommunikation' in den mit der Neuprofilierung bearbeiteten Gegenstandsbereichen, wobei es auch um Fragen der 'Repräsentativität' und Wirksamkeit - der Zeitschrift als Organisator und Akteur jener Kommunikation wie in ihr präsenter Diskurse, Institutionen, Personen - im Kommunikationsraum Wissenschaft und darüber hinaus geht. Immanent werden einige Probleme von Fachgeschichtsschreibung für Wissenschaft in der DDR thematisiert.
Politik der Aneignung : die "Erbetheorie" in den "Weimarer Beiträgen" Anfang der siebziger Jahre
(2005)
Die Jahresinhaltsverzeichnisse der 'Weimarer Beiträge' rubrizieren zwischen 1970 und 1981 die literaturgeschichtlichen Aufsätze der Zeitschrift unter dem Doppeltitel "Literaturgeschichte und Erbetheorie". Auch wenn sich diese Gliederung in den einzelnen Heften nicht wiederfindet, macht sie doch das redaktionelle Anliegen deutlich, jegliche literarhistorische Arbeit programmatisch mit einer Theorie zu flankieren, die eine Methodologie der Literaturgeschichtsschreibung liefern und auf diese Weise das Interesse an der literarischen Überlieferung als solches in den Blick nehmen sollte. Mit Hilfe der Jahresinhaltsverzeichnisse läßt sich schon rein quantitativ ermessen, einen wie hohen Stellenwert diese Theoretisierung in den siebziger Jahren für die Weimarer Beiträge und für einen großen Teil der in dieser Zeitschrift maßgeblich repräsentierten Literaturwissenschaft in der DDR hatte - auch jenseits der ausdrücklich so zusammengefaßten Artikel, übergreifend in allgemeine Überlegungen zur Ästhetik und Literaturtheorie, aber auch mit höchst wichtigen Implikationen für die Sicht auf die zeitgenössische DDR-Literatur. Warum war der Bezug auf Tradition für die "Literaturgesellschaft" der DDR von so fundamentaler Bedeutung? Und welche Funktion hatte in diesem Zusammenhang der Begriff des Erbes?
Literatur ist mehr als eine Belegstelle für literatur- oder medientheoretische Thesen, anderseits erschließt sie sich nicht selbst, sondern antwortet auf Bezugsprobleme. Das Problem, das ich mit Blick auf "Schrift" an Heinrich Heine herantragen möchte, ist die Frage, ob die Literatur sich selbst als Medium beobachtet und ob mit der Figur des 'Jehuda ben Halevy' womöglich Autorschaft unter Bedingungen konkurrierender Medien reflektiert wird. Meine medienkomparatistische Lektüre zielt auf jene Medien der Literatur, die Heine im 'Romanzero' thematisiert und als Bedingung seines eigenen Schreibens reflektiert. Ausgehend von dieser vergleichenden Analyse der Medien des 'Romanzero' werde ich in einem zweiten Teil die hinzugezogenen Medientheorien daraufhin befragen, welche Fragen sie an die Literatur herantragen und welche Antworten sie auf Probleme literarischer Texte geben können.
Kafka und die Weltliteratur
(2005)
Tagungsbericht zum internationalen Symposion an der Universität des Saarlandes, Saarbrücken, vom 20. bis 23. September 2004
Die Veranstalter des Saarbrücker Symposions 'Kafka und die Weltliteratur', Manfred Engel (Saarbrücken) und Dieter Lamping (Mainz), wußten, daß sie mit ihrer Tagung die vielfältigen Differenzen innerhalb der Kafka-Forschung nicht würden ausräumen können. Wohl aber hofften sie, die schmale Konsensbasis der Kafka-Forschung durch einen neuen Zugangsweg zu vergrößern: Statt den Autor, wie schon so oft, als (bewunderten) Einzelgänger innerhalb der klassischen literarischen Moderne zu betrachten und alle Anstrengungen auf eine Deutung der Einzeltexte zu konzentrieren, ging es in Saarbrücken erstmals darum, Kafkas Dichtungen in komparatistischer Hinsicht zu kontextualisieren.
Das Interesse an Leben und Werk Paul Celans hat in den letzten Jahren stetig zugenommen. Es überrascht daher nicht, daß nun auch eine neue arabische Auswahlübersetzung von Gedichten und Prosastücken des Dichters vorliegt. Dieser an sich begrüßenswerte Umstand wird allerdings, um dies vorwegzunehmen, durch die vielen sprachlichen Mängel der Übertragung sehr beeinträchtigt.
In this essay I want to begin with a short survey on the reception of Schiller in England and Portugal, especially in regard to the impact of the play "The Robbers" and the narrative "The Ghostseer". As a matter of fact, Schiller was not only read and translated, but he actually imprinted his mark on (the) literature outside Germany. His ideas and works made important contributions to the Romantic movement – that of Brazil, where his writings arrived through France and Portugal, but Schiller was read directly in German at least by Gonçalves Dias. Schiller's contribution to the works of Gonçalves Dias can be most clearly seen in the drama "Patkull", in which there are similarities to "Wallenstein", and in the translation of "The bride of Messina", which was unfinished when the Brazilian writer prematurely died.
This essay aims at making a survey of Kafka’s reception in Brazil. After justifying the importance of this study, I show how intermittently Kafka’s work was translated into Brazilian Portuguese in the very beginning of his reception, that is to say, 1956. The first text published in Brazil was "Die Verwandlung", which was written in German in 1915. However this text was not translated from the German, but from the English. Other texts were translated from the French. Translations from the German only appeared in 1983, among them the one with the 'short stories' "Kleine Fabel", "Der Geier", "Gibs auf!" and "Vor dem Gesetz". It is interesting to notice that essays and other articles in newspapers on Kafka and his work preceded the translations. For example, the first essay on the author was written by Otto Maria Carpeaux in August 1941 in the newspaper "Correio da Manhã". Nowadays Kafka’s work is object of considerable research in Brazil.
A tradução para a criança e para o jovem: a prática como base da reflexão e da relação profissional
(2005)
This article deals with the attempt of systematizing my experience as translator of literature written for children and young people. On the basis of some considerations about aspects shared by both, the production and the translation of this kind of literature, this article presents a number of examples taken from translations of German texts into Brazilian Portuguese. Consequences concerning the importance of concepts like interaction and creativeness in translation are then briefly discussed. A claim for a more systematic consideration of the question by Translation Studies and for a special position to be occupied by this genre of texts in the professional field is the background of the article.
Jarzebina czerwona
(2005)
Der Begriff der Nationalliteratur fungiert bei Herder […] vor allem als eine Differenzkategorie, die in Frontstellung zu den Konzepten eines universalistischen Rationalismus :und einer durch ihn begründeten klassizistischen Ästhetik entworfen wird, weil in ihrem Horizont das Problem der kulturellen Differenz nicht gedacht werden kann. Herders Konzept ist daher primär zu lesen als ein solches, das nach Wegen sucht, die Frage kultureller Differenz sowohl in synchroner wie in diachroner Perspektive zu erfassen.