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Heutige Diskussionen um 'Artistic Research' oder 'Investigative Aesthetics' reaktivieren die alte Frage nach den Wissens- und Erkenntnisdimensionen von künstlerischer Praxis. Auch in parallel entstehenden literarischen Texten kommt es zu verstärkten Auseinandersetzungen mit Praktiken und Begriffen außerliterarischer Wissensfelder wie den Medien, dem Recht oder den Wissenschaften. Ebenso lassen sich erhöhte Ansprüche ausmachen, mit dem eigenen literarischen Schreiben eine Art Wissen zu erzeugen. Der Beitrag stellt dies beispielhaft an deutschsprachigen Texten zum Jugoslawien-Krieg in den 1990er Jahren dar und diskutiert die literarische Hinwendung zu Formen des Wissens und Ermittelns als ein den forschenden oder investigativen Künsten verwandtes Phänomen.
Lara Tarbuk widmet sich dem Gedichtband "dachbodenfund" von Nicolas Mahler, dessen Texte aus Spielzeugauktionskatalogen montiert werden. Ihre Lektüren ausgewählter Gedichte zeigen, wie, vermittelt über die montierten Texte, die Materialität des Bandes und seiner Texte selbst zum Gegenstand der Reflexion wird.
"Der Atem reinster Gegenwärtigkeit: no future" : Zukunft in Roman Ehrlichs Klima-Dystopie "Malé"
(2024)
Dieser Aufsatz beschäftigt sich mit der Frage, welche Krisen und Potenziale sich in Roman Ehrlichs 2020 erschienener Klima-Dystopie "Malé" aus dem Entwurf einer apokalyptischen Zukunft für das Erzählen ergeben. "Malé" thematisiert vor dem Hintergrund der Klimawandel-Bedrohung eine Utopie-Krise und erzählt im Modus der Rückblende eine Weltuntergangsgeschichte. Der Roman postuliert im Angesicht einer prekären Zukunft eine Identitäts- und Sprachproblematik, die auch die Literatur betrifft. Dabei deutet sich anhand von Raum- und Körperdarstellungen das Ende anthropozentrischer Konzepte an. Der Roman schlägt seine eigene synekdotische, polyphone Form als Überwindungspotenzial vor und sucht nach einer neuen Sprache und Ästhetik, in der eine Einheit mit nicht-menschlichen Entitäten gedacht und formuliert werden kann. So zeigt sich in "Malé" immer wieder utopisches Potenzial. Dies betont aus der Zukunftsperspektive die Gegenwart als Moment, an dem eine Verhinderung der durch multiple Krisen ausgelösten Apokalypse durch radikales Umdenken und Handeln noch möglich ist.
Der Beitrag untersucht die für den Protagonisten Dr. Franz von Stern vorherrschenden (Un-)Möglichkeiten des Erinnerns in Angelika Meiers dystopischem Klinikroman "Heimlich, heimlich mich vergiss". Dabei wird argumentiert, dass der Subjektstatus des Protagonisten verloren gegangen ist, weil durch die Technisierung des Körpers und Geistes des Arztes Erinnerungen ausgelöscht wurden und dadurch ein fehlendes Bewusstsein für die eigene Geschichte entstanden ist. Der Beitrag zeigt, dass das vergangene Handeln erinnert und das zukünftige reflektiert werden muss, um Einfluss auf die Zukunft nehmen zu können. In diesem Zusammenhang werden die im Roman aufgenommenen und kritisierten gesellschaftlichen Entwicklungen der Selbstoptimierung, des Gesundheitsdispositivs und des problematischen Verhältnisses von Arbeit und Leben diskutiert. Es wird veranschaulicht, wie Meier mit ihrer Dystopie die Leser:innen dazu zwingt, innezuhalten und über ihre, die Zukunft mitprägende, Gegenwart zu reflektieren.
Keiner will im Ruhrgebiet leben : Deindustrialisierung und Nachbergbau in der Ruhrgebietsliteratur
(2024)
Seit dem Ende des Steinkohlenbergbaus im Ruhrgebiet steht die Region durch den Verlust dieser identitätsstiftenden Industrie vor einer unklaren Zukunft. Dies spiegelt sich auch in der Literatur wider, die sich etwa ab 2010 vermehrt mit dem Erbe des Bergbaus und den Aussichten für eine Zukunft der Region befasst. Hierbei beschreiten Autor:innen ganz unterschiedliche Wege. In den Romanen "Wie hoch die Wasser steigen" (Anja Kampmann) und "Marschmusik" (Martin Becker) sind Rückblicke auf das Zeitalter der Montanindustrie zentrale Bestandteile der Erzählung. Die Prognosen für die Zukunft bleiben jedoch andeutungsweise und vage, Kampmanns und Beckers Protagonisten scheinen mit der Bewältigung der Vergangenheit ausgelastet. Anders machen es die Romane "Anarchie in Ruhrstadt" (Jörg Albrecht) und "Am Ende der Welt liegt Duisburg am Meer" (Sascha Pranschke). Beide entwickeln auf Basis der Montanindustriegeschichte des Ruhrgebiets dystopische Erzählungen des Ruhrgebiets der Zukunft.
"Und jetzt ich" : Gegen-Ästhetik und algorithmische Autorschaft in Jan Brandts "Tod in Turin" (2015)
(2021)
Als "Buchpreisverarbeitungsbuch" (TiT, 290) mit einer Erzählinstanz, die sich explizit als der empirische Autor zu erkennen gibt und geradezu leitmotivisch ihren beruflichen Status offenlegt - "'[i]ch bin Schriftsteller'" (TiT, 18 u.ö.) -, ist "Tod in Turin" Metaliteratur, Literatur über Literatur und vor allem über deren Produktions-, Rezeptions- und Verwertungsbedingungen. Metatextuell im Sinne Gérard Genettes, das heißt: Prätexte nicht nur referierend, sondern 'kommentierend', ist "Tod in Turin" aber schon qua Titel und Thema. "Die reiche, Jahrhunderte umspannende deutsche Italienliteratur" füllt längst eine schon wieder überholte Bibliographie von monographischer Dimension. In diese Tradition schreibt sich Jan Brandt ein und betreibt mit ihr ein "postmoderne[s] Spiel" (TiT, 291), dessen Telos, wie im Folgenden zu zeigen sein wird, über die Subversion oder Persiflage bestehender literarischer Italienbilder hinausreicht. Es besteht vielmehr in einer neuartigen, nämlich 'algorithmischen' Fruchtbarmachung des überwältigenden Prätext-Kanons.
Es ist wohl dem bedauerlichen Abgrund zwischen literaturwissenschaftlicher Textanalyse und theaterwissenschaftlicher Performanztheorie zu verdanken, dass es bisher kaum wissenschaftliche Arbeiten zu Lotz' Texten gibt. Wolfram Lotz hat sich bisher stets um eine zeitnahe Publikation seiner Stücke und Monologe bemüht, so auch im Fall der "Politiker", die noch im Jahr 2019 bei Spector Books in Leipzig erschienen. Das hat Gründe, handelt es sich doch nicht nur um flexibel handhabbare Spielvorlagen, sondern zugleich um streng organisierte Wortkunstwerke. Im Folgenden soll gezeigt werden, mit welchen poetischen Verfahren "Die Politiker" das große Thema der politischen Gegenwart traktiert: das Ressentiment, also die affektive Lage und Ohnmacht jener vielen Konsumenten von Politik, die derselben erst ihre Autorität und Wirksamkeit verleihen. Das Politische der "Politiker" nämlich, das heißt "[d]as wirkliche Soziale [...] in der Literatur ist: ihre Form".
Auch einige Autoren, die der interkulturellen Literatur zugerechnet werden, haben sich in den letzten Jahren verstärkt den Figurationen des Ökonomischen, nämlich den Mechanismen des Geldes und den geldorientierten Konstellationen und Verhaltensweisen im modernen Wirtschaftsleben gewidmet. Vor allem bei dem deutsch-irakischen Schriftsteller Abbas Khider und bei der deutsch-ungarischen Schriftstellerin Terézia Mora finden sich wesentliche Funktionen und Transaktionen des Geldes im globalen Finanzkapital sowie das Ineinandergreifen von wirtschaftlichen, politischen und soziologischen Faktoren. Es geht hierbei "nicht nur um die finanziellen Transaktionen von Individuen, Firmen oder Staaten, sondern auch um die tieferen Fragen, wie Lebensenergie eingesetzt wird, wie die Menschen miteinander leben". Bei der Auseinandersetzung mit diesen Aspekten, konzentriert sich der vorliegende Aufsatz exemplarisch auf zwei Texte, nämlich auf Abbas Khiders Roman "Brief in die Auberginenrepublik" (2013) sowie auf den Roman "Der einzige Mann auf dem Kontinent" (2009) von Terézia Mora. Zum Ausgangspunkt hat der Vergleich zwischen beiden Texten die Verortung des Geldmotivs zum einen in einer von vormodernen Traditionen geprägten und deformierten Geldwirtschaft, zum anderen auf einem autonomisierten, globalisierten und tendenziell digitalisierten Kapitalmarkt. Die hieraus abgeleitete Problemstellung betrifft vor allem die existentiellen Konsequenzen für die Handlungs- und Lebensmöglichkeiten des einzelnen, nämlich die Zwänge und die Freiheiten, die Überforderungen und Widerstände, die daraus erwachsen.
Obwohl der Autor und Künstler Andreas Neumeister mit zu den bekanntesten deutschen Popliterat*innen zählt, setzt sich dieser Band erstmals umfassend wissenschaftlich mit seinen collagenartigen Texten auseinander. Unter dem 'Deckmantel' des Romans verschmelzen bei Neumeister zahlreiche mediale Versatzstücke zu einem dichten Abbild gesellschaftlicher Gegenwart und stellen die politische Dimension alltäglicher und/oder urbaner Kulissen aus. Seine Texte arbeiten dabei mit popästhetischen Methoden - wie Montagen, Wiederholungen oder Listen -, die die vorliegende Studie definiert und als Analyseschema fruchtbar macht. Dabei nimmt die Autorin auch die Überforderung der Leser*innen durch die dichte, 'anarchische' Romanform Neumeisters in den Blick und entwickelt ein Rezeptionskonzept, das der unkonventionellen Textform adäquat begegnet. Inwiefern sich Städte und Architekturen mittels dieser popästhetischen Poetik darstellen lassen, wird exemplarisch an Neumeisters Text "Könnte Köln sein" (2008) untersucht: Die profunde, aber fragmentarisch inszenierte Auseinandersetzung des Erzählers mit den Bauwerken, die er während seiner Reisen in Städte wie München, Berlin, Moskau, New York und Los Angeles besucht, verschränkt literarische wie architektonische Expertise eng miteinander. Anarchitext zeigt, wie bei Neumeister auf literarischer Ebene Raum geschaffen wird, ohne diesen zu bauen - und folgt dabei dem Begriff der "Anarchitektur" von Gordon Matta-Clark, der eine Verbindung von Anarchie und Architektur bezeichnet.
Im 'neuen deutschland' nimmt der Kritiker Björn Hayer am 9. Februar 2023 Stellung zur Tatsache, dass die Autorin Judith Zander den mit 15.000 € datierten Huchel-Preis gewonnen hat. Dieser Text hat ein einziges Ziel, auch wenn er behauptet, zwei Anliegen zu verfolgen, wie Hayer bei Twitter schreibt: "Der #Huchel-Preis an #JudithZander wirft nicht nur die Frage auf, warum er nicht an begabtere Stimmen geht. Wie ich in @ndaktuell diskutiere, erklärt die Vergabe auch, warum der #Lyrik unserer Zeit die Leser abhanden gekommen sind. #Gedicht #Poesie #Preis". Hier sei behauptet, dass Hayer nur vorgeblich die Lyrik als solche im Blick hat, wenn er sich am Werk einer einzelnen Autorin abarbeitet. Im Folgenden sollen alle Kriterien untersucht werden, die Hayers Offensiv-Text zugrunde liegen. Auf diese Weise kann sich zeigen, dass es ihm in erster Linie darum geht, Zanders preisgekrönten Gedichtband 'im ländchen sommer im winter zur see' als das Gegenteil von 'starker Lyrik' auszuweisen. Die Auswahl der Kriterien, ihr Passungsverhältnis und ihre argumentative Einbettung entlarven Hayers Text als erstaunlich bodenlos.