BDSL-Klassifikation: 03.00.00 Literaturwissenschaft > 03.12.00 Interpretation. Hermeneutik
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Aus dem Leben das Werk und aus dem Werk das Leben zu verstehen, lautet die Devise. Das Leben lässt sich deshalb aus dem Werk verstehen, weil auch und gerade das Werk, wie Peter Szondi Schleiermacher referiert, „aktive, aktuelle Äußerung des Lebens“ ist. Gerade dort, wo es Werk wurde, war das Leben wirklich Leben im Sinne Schleiermachers „hervorbrechendem Lebensmoment“ […], also bezeichnend für den Autor als Individuum und nicht gleichgültig allgemein. Aus der Menge der Erlebnisse eines Lebens gelten also nur die als wichtig, die es wert sind, in die Welt der Dichtung einzugehen. So kann der Interpret bei seiner Arbeit gar nicht fehlgehen, da am Leben des Autors nur das von ‘bleibender Bedeutung’ ist, was vom Werk ‘abgespiegelt’ wird. Im Zirkel zwischen Leben und Werk, Wahrheit und Dichtung bleibt dann nichts mehr übrig, das zum wechselseitigen Verstehen nichts beitrüge – alles andere wird aus der hermeneutischen Lektüre ausgeschlossen. Ich möchte nun diesem hermeneutischen Zirkel bei der Arbeit zusehen, um seine ungeheure Produktivität und seine Grenzen zu erkunden. Dazu greife ich aus der deutsche Literaturgeschichte einen Fall heraus, der besonders geeignet ist, die selbstverständliche Annahme eines Zusammenhang von Leben und Werk bei der Produktion wie der Rezeption von Texten vorzuführen und zu irritieren[:] Der Fall George Forestier.
Mit dem Aufkommen schriftlicher volkssprachiger Literatur wurde im Mittelalter ästhetische Erfahrung im Medium der Lektüre möglich, einer Lektüre, die nicht mehr im religiösen Rahmen praktiziert wurde. Das bis zu dem Zeitpunkt vom Klerus – der den Genuß des Textes um seiner selbst willen verbot – kontrollierte Medium wurde von einer Literatur in Anspruch genommen, die sich nicht mehr primär als religiöse verstand. In der neuen volkssprachigen Literatur wurden die ihr spezifischen Leseformen im Modus des Literarischen reflektiert. Ästhetische Erfahrung läßt sich dabei aus den Texten erahnen und in der Interpretation herausarbeiten. Die Analyse von Chrétiens Lektüreanweisung und von Wolframs Titurel, dessen Handlung ab dem Erscheinen der beschrifteten Unterlage Lektüre und ästhetische Erfahrung ins Zentrum stellt, bekräftigt das, wovon die jüngere Forschung, trotz gelegentlicher Einwände, überwiegend ausgeht: dass bezüglich der Reichweite des Konzepts der ästhetischen Erfahrung auch das Mittelalter unbedingt zu berücksichtigen ist. Ästhetische Erfahrung in der profanen Lektüre, ohne dem Vorwurf der Sünde direkt ausgesetzt zu sein, ist kein rein neuzeitliches Phänomen.
Der folgende Beitrag widmet sich einem blinden Fleck in vielen Theorien literarischer Erfahrung - nämlich nichtprofessionellen Leser*innen - und versucht zu zeigen, dass diese Blindheit nicht in der Ignoranz der Literaturwissenschaft, sondern in erkenntnistheoretischen und methodischen Problemen begründet ist, die wiederum mit dem Objektivitätsideal geisteswissenschaftlicher Forschung zusammenhängen, das die Auswahl der als untersuchbar angesehenen Gegenstände und die bei der Untersuchung angewandten Methoden determiniert.
Die Bibel ist Weltliteratur 'und' eine heilige Schrift - damit spreche ich sowohl bereits den Kern des Beitrages als auch die Schwierigkeit dieser Konstellation an. In welchem Verhältnis steht die Bibel als Literatur zu dem Begriff der Heiligkeit, der ihr kanonisch, normativ und auch inhaltlich zuerkannt wurde und teils wird? Beide Aspekte, sowohl ihre Literarizität (1. 'Bible as Literature') als auch ihre Einordnung als eine heilige Schrift (2. Die Bibel als heilige Schrift), werden im Folgenden in einem Wechselspiel aus literaturwissenschaftlicher und theologischer Hermeneutik untersucht, da diese beiden Disziplinen die Bibel als literarisches und/oder religiöses Medium wahrnehmen und aufgreifen.
Im Universum der Texte findet das Ungeschriebene nicht bloß keine Stelle, es findet nicht statt. Allerdings – ein zunächst zaghaftes, jedoch bald sich auswachsendes 'allerdings' – lässt die hermeneutische Praxis, verstanden als tatsächliche Praxis, als geräuschlos-geschmeidig auslegender Betrieb, ein Problem offen, das so einfach ist, dass viele sich scheuen, es zu benennen oder seine Benennung auch nur in Erwägung zu ziehen. Die Auslegung literarisch-ästhetischer Texte lebt – jedenfalls weitgehend – von dem Geheimnis, das diese Texte umgibt. Entweder also sind die zum besseren Verständnis herangezogenen Vorgänger-Texte so schatten- und geheimnislos, dass das Geheimnis der ästhetischen Produktion sich in ihnen von selbst verflüchtigt, oder es gleitet in die Vorgängigkeit zurück, aus der ihm Aufklärung zuteil werden soll. In beiden Fällen ist es gerecht, von einer optischen Täuschung zu sprechen, im ersten Fall durch die per se dunkle Literatur, im zweiten Fall durch ihre interpretative Erhellung.
Den Stand der Psychoanalyse in Deutschland kann man nicht anders beschreiben, als indem man konstatiert, sie stehe im Mittelpunkte der wissenschaftlichen Diskussion und rufe bei Ärzten wie bei Laien Äußerungen entschiedenster Ablehnung hervor […].
Mit dieser Beschwerde, die hier den Anfang machen soll, kommt Sigmund Freud in seinem 1914 erstmals veröffentlichten Aufsatz "Zur Geschichte der psychoanalytischen Bewegung" auf die Widerstände zurück, denen die Psychoanalyse seit ihrem Auftritt auf der Bühne der Wissenschaft ausgesetzt ist. Genau 50 Jahre später wird Jacques Lacan, dessen vielzitierte "Rückkehr zu Freud" den wohl konsequentesten Versuch einer Fortführung der Freudschen Lehre darstellen dürfte, sich an ebenso grundlegender Stelle, in einem Seminar über "Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse", über ganz ähnliche Probleme beklagen. Ähnlich, aber nicht identisch - denn Lacan klagt über seine "Exkommunikation" aus der psychoanalytischen Vereinigung Frankreichs, also über die Wider stände, die seiner Lehre von Seiten seiner Analytiker-Kollegen entgegengebracht werden, just zu dem Zeitpunkt, als er auf das zurückkommen will, was bisher nie analysiert worden ist: das Begehren Freuds. Wer also allgemein nach dem unbewussten Begehren der Menschen fragt, hat mit Widerständen von Laien und Wissenschaftlern zu rechnen, wer nach dem unbewussten Begehren Freuds fragt, mit denen der Analytiker. Widerstände aber, so lehrt die Psychoanalyse, gehen vom Unbewussten aus und treten dort auf, wo der Patient mit verdrängten und somit Unlust erregenden Vorstellungen konfrontiert wird.
Rezension zu Horst Jürgen Gerigk: Lesen und Interpretieren, Göttingen (Vandenhoeck & Ruprecht) 2002 (= UTB für Wissenschaft; Bd. 2323). 192 Seiten.
Wenn ein professioneller Leser bei seiner Lektüre eines literarischen Werks innehält, um sich zu fragen, was denn da eigentlich beim Lesen überhaupt geschehe, welche Sensibilisierungen es erzeuge, welche Einsichten es bewirke, so mag dies ein Anlaß sein, sich den grundsätzlichsten aller Fragen zuzuwenden, mit denen es der Literaturtheoretiker zu tun hat: Was charakterisiert literarische Texte als solche? Welche Einstellung und welche Kompetenz verlangen sie ihrem Leser ab? Gibt es spezifische Modi literarischer Darstellung? Gerigks Buch ist, wie einleitend betont wird, von einer solchen Lese-Pause stimuliert worden. In der Form von zwölf thematisch miteinander vernetzten, dabei relativ selbständigen Teilen - Grundlage des Buches waren Gerigks Heidelberger Vorlesungen zur Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft - werden im Ausgang von vielfaltigen Beispielen aus der europäischen und amerikanischen Literatur grundsätzliche Thesen und Modelle zum Wesen des Literarischen selbst entwickelt.
Teilen Juden und Christen einen erheblichen Teil ihrer heiligen Texte, kommt das Abgrenzungsbedürfnis bei der Kommentierung dieser Texte umso stärker zum Tragen. Die rabbinische Bibelinterpretation der Spätantike scheint sich in der Methodik radikal von der christlichen Auslegungsweise zu unterscheiden. Neben inhaltlichen Unterschieden spielt dabei insbesondere die eigentümliche Methodik der rabbinischen Schriftauslegung eine Rolle, wie sie uns im Midrasch, der wichtigsten Gattung rabbinischer Bibelauslegung, begegnet. Obwohl es keine einheitlich christliche Auslegungsmethodik gibt, ist die Auslegung, die dem rabbinischen Midrasch für gewöhnlich gegenübergestellt wird, die Allegorie. Die aus der stoischen Interpretation Homers hervorgegangene Allegorese kommt als Methode der Bibelauslegung bereits in den Arbeiten des alexandrinischen Juden Philon zu ihrer ersten Blüte. Während die rabbinische Auslegungstradition allerdings Philon völlig unbeachtet lässt, wird er zum Vorbild der patristischen Bibelinterpretation.
Im vorliegenden Artikel soll nachgewiesen werden, dass die erzählerische Unzuverlässigkeit in Shida Bazyars "Drei Kameradinnen" passförmig ist zu einer im 21. Jahrhundert in Mitteleuropa diskursiv formulierten Unerfassbarkeit und Unfassbarkeit der Welt und des Selbst sowie zu einem Misstrauen gegenüber Objektivität und der Objektivier- und Vermittelbarkeit des eigenen Standpunkts. Leitende These dabei ist, dass fantastische Exkurse, Selbstkorrekturen, Leerstellen, die Gleichzeitigkeit mehrerer Wahrheiten, Realitätsreferenzen und deren Brechung sowie Fiktionsbrechungen tragfester auf eine Realität referieren, die als unerfassbar gilt, als eine geschlossene Romanhandlung es hätte erreichen können.
Aus dem nun mehr als sechzig Jahre zurück liegenden Streit zwischen Staiger und Heidegger über das rechte Verständnis einer Verszeile von Eduard Mörike, der im Laufe der Jahre immer neue Stellungnahmen provozierte, läßt sich Aufschluß über die blicklenkenden Kategorien hermeneutischer Interpretation gewinnen, wenn man die Position einer Beobachtung zweiter Ordnung einnimmt. Es zeigt sich dann in großer Klarheit, daß die Interpretation literarischer Polyvalenzen und Ambiguitäten ihre Eindeutigkeit aus der Zuhilfenahme regulativer Ideen gewinnt, die nicht dem literarischen Text, sondern ästhetischen Vorlieben, philosophischen Axiomen oder politisch – moralischen Überzeugungen entstammen. Sie erzielen Sinneffekte, weil sie sich mehr oder weniger erfolgreich als subjektive Setzungen unsichtbar machen und aus der "Sache" heraus zu sprechen vorgeben. Werden diese regulativen Ideen aus der Perspektive einer Beobachtung zweiter Ordnung ins Sichtfeld gerückt, erscheint die Kontingenz jeder Interpretation, die immer auch anders möglich ist. Sie hat sich freilich am Wortlaut des literarischen Werkes zu bewähren, der jedem Konstruktivismus eine unüberschreitbare Grenze setzt. So verstanden ist die berühmte und nicht selten auch bespöttelte Kontroverse zwischen Heidegger und Staiger noch heute eine anregende Hilfestellung für jeden Versuch eines neuen Verständnisses von Mörikes Gedicht und eine grundsätzliche Herausforderung der Reflexion auf die Voraussetzungen literaturwissenschaftlicher Interpretation.