BDSL-Klassifikation: 03.00.00 Literaturwissenschaft > 03.10.00 Stilistik. Rhetorik
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Dass der schlechte Leumund der Rhetorik um 1800 keineswegs zu deren flächendeckendem Verschwinden geführt hat, zeigt der Beitrag von Andreas Keller. Da die Rhetorik sich selbst traditionellerweise immer schon habe unsichtbar machen müssen, um wirken zu können, und da so gut wie jede sprachliche Äußerung rhetorisch verfasst sei, könne allerdings so oder so nur die Analyse des jeweiligen "Wahrnehmungsgrad[s] ihrer Auffälligkeit und Dominanz" verlässliche Auskunft über ihr Fortleben erteilen. Auch wenn insbesondere das auf Innerlichkeit verpflichtete Ideal der Bildung um 1800 vielfach in Konkurrenz oder Opposition zur Rhetorik geraten sei, habe es schnell Versuche vor allem im Rahmen der Pädagogik gegeben, eine "adressatenaktivierende Bildungsrhetorik" zu entwickeln. Zwar stelle die Systemphilosophie deren Hauptgegner dar, doch könne man die Rhetorik mit gutem Recht als "verborgene[ ] Leitdisziplin auch im 19. Jahrhundert" bezeichnen.
Die Beziehung von res und verba ist ihrem Grunde nach eine sprachphilosophische. Sie handelt von jenen Dingen, die überhaupt der Sprache zugänglich sind, bzw. von jenen Gegenständen, welche durch ihre Artikulation erst zu Dingen der Sprache werden. Der Fokus der Überlegungen konzentriert sich auf die Organisation des Verhältnisses von res und verba, für das über Jahrtausende hinweg in erster Linie die Rhetorik zuständig gewesen ist. Diesem liegen allerdings tatsächlich zwei sprachphilosophische Annahmen zugrunde, die von gegensätzlichen Voraussetzungen ausgehen.
Den Traditionsbruch der Rhetorik im 18. Jahrhundert und die Verlagerung ihrer Wissensbestände in andere Disziplinen hat die jüngere Forschung detailliert untersucht. Was das Verhältnis der Rhetorik zu Theologie und Religion betrifft, so konzentrieren sich die Darstellungen häufig auf die Feststellung, der Pietismus habe die Lehre von den Affekten (vom movere und delectare) isoliert, was, verkürzt gesagt, die Entstehung sowohl der Ästhetik wie der Erfahrungsseelenkunde beförderte. Dagegen gelte für die der Ironie verwandten, in den Poetiken, Politik- und Klugheitslehren verwendeten technischen Termini der Simulation (Vorspiegelung des Falschen) und Dissimulation (Verbergung des Wahren), dass sie durch die Codes der Aufklärung (Mensch-Schauspieler, Natürlichkeit-Künstlichkeit, Innerlichkeit-Äußerlichkeit) ihre Selbstverständlichkeit als Mittel der Selbstdarstellung und Selbsterhaltung verloren hätten. Als probates Mittel der höfischen und Ständegesellschaft seien Methoden der Vortäuschung und Verstellung moralisch und politisch desavouiert worden, da sie dem Ideal körpersprachlicher Unmittelbarkeit einerseits, rationaler Argumente und Überzeugungen, aufrichtiger moralischer Intention und einer Sprache unverzerrter Mitteilung andererseits widersprachen. Täuschung und Verstellung lebten in Folge der aufklärerischen Kritik vornehmlich in Theorien des Theaters weiter. In der Theologie dagegen fände das Ideal unverstellter Authentizität seinen Ausdruck zum Beispiel in Lavaters theologisch interessierter Physiognomie. Dem steht zunächst der Befund gegenüber, dass seit dem 18. Jahrhundert gerade in den zentralen Debatten um Religion und Theologie das Spiel mit Maskierungen und Demaskierungen, Verschleierungen und Entschleierungen, Verhüllungen und Enthüllungen (die tatsächlich auf das Theaterregister verweisen, aber zugleich literalisiert werden) ubiquitär ist.
Rhetorik bei Paul de Man
(2011)
Es ist unübersehbar, daß die Texte Paul de Mans in entscheidendem Maße von rhetorischer Terminologie geprägt sind. Unübersehbar ist es aber auch, daß diese Terminologie in erster Linie dem Teil der Rhetorik entstammt, der traditionell als elocutio bezeichnet worden ist: es sind die Tropen und rhetorischen Figuren, von denen aus de Man sein Verständnis der Rhetorik entwickelt. Eine solche reduzierende Rekonstruktion der Rhetorik scheint auf den ersten Blick weit von dem entfernt zu liegen, was man in seiner antiken Ausprägung traditionellerweise Rhetorik genannt hat. Die Übernahme dieser rhetorischen Termini vollzieht sich bei de Man im wesentlichen in seinen Lektüren Nietzsches, in dessen frühen Texten "Darstellung der antiken Rhetorik" (1874) und "Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne" (1872) er bereits jene dekonstruktive Bewegung auszumachen vermeint, von der auch seine eigenen Schriften geprägt sind.
Die Kognitionswissenschaften studieren Themen wie Gedächtnis, Problemlösen, Sprache, Wahrnehmung, Aufmerksamkeit und nicht zuletzt den Willen des Menschen. Dies alles sind Untersuchungsfelder, die auch für die Rhetorik von zentralem Interesse sind. Ich möchte in meinem Vortrag vorstellen, wie man einige der wichtigsten Gegenstände vor allem der kognitiven Linguistik für rhetorische Analysen fruchtbar machen könnte – im Sinne einer kognitiven Rhetorik, einer Neuformulierung rhetorischer Problemfelder auf der Grundlage einer zeitgemäßen theoretischen Basis. Aus Zeitgründen werde ich mich auf zwei Felder konzentrieren, auf die conceptual metaphor-Theory George Lakoffs und Mark Johnsons und auf die Theorie der sogenannten "Frames". Weitere Kapitel aus der kognitiven Rhetorik könnten an die conceptual blending-Theorie von Mark Turner und Gilles Fauconnier anknüpfen, oder auch an die Kognitive Syntax eines Ronald Langacker, dessen syntaktisches Ikonizitätsprinzip eine Verbindung zwischen syntaktischer Gestalt und Ausdruckskraft eines Satzes herzustellen vermag. Diese beiden Theorien seien nur genannt. Am Schluss werde ich noch klären wozu wir das als Rhetoriker alles brauchen können.
Das Medium, um das es in meinem Beitrag gehen soll, das Plakat, unterscheidet sich von jenen Medien, die in den anderen Beitragen dieses Bandes verhandelt werden, in einem. wesentlichen Punkt. Ob es sich nämlich um das Buch, die Zeitung, das Internet, die Oper, den Film, das Fernsehen oder das Radio handelt, so betreten wir die Raume, in denen diese Medien wie Rhetorik entfalten, mehr oder weniger willentlich. Das Buch haben wir in der Buchhandlung erstanden oder einer Bibliothek entliehen;' die Zeitung haben wir abonniert; die Fernsehbilder beginnen erst zu rauschen, nachdem wir das Gerät per Fernbedienung eingeschaltet haben; ins Kino oder ins Theater begeben wir uns nach Durchsicht des Spielplans. Ins Internet müssen wir uns einloggen und um Karten für die letzte Ausstellung in der Tübinger Kunsthalle haben wir unter Umstanden lange angestanden – Den Raum jedoch, in dem das Plakat seine rhetorische Wirkung entfaltet, betreten wir in der Regel auf sehr viel unvermitteltere Art und Weise, jedes Mal nämlich, wenn wir auf die Straße hinaustreten. Denn Plakate gehören mit einer solchen Selbstverständlichkeit zum urbanen Lebensraum der Moderne, dass uns für bloßes Vorkommen in einem gewissen Sinne kaum mehr auffällt. Um den Wahrheitswert dieser Aussage zu prüfen, genügt es schon, sich nur einmal zu vergegenwärtigen, an wie vielen Exemplaren dieser Gattung man allein im Verlauf eines einzigen Tages vorbeikommt. Mit ziemlicher Sicherheit werden wir bereits Schwierigkeiten haben, allein die Artzahl zu bestimmen, geschweige denn zu sagen, welchen Gegenständen sie gegolten haben. Aber das heißt keineswegs, dass diese Begegnungen spur- und wirkungslos an uns vorübergegangen waren. Denn auf eben diese Situation, auf den Umstand nämlich, dass ihm oft nur Sekunden bleiben, um seine rhetorische Macht zu entfalten, ist das Plakat sehr gut abgestellt. Fast ist man versucht, in Analogie zur Darwinschen Evolutionstheorie der biologischen Arten von einer optimalen Anpassung dieser Gattung an ihre Umwelt zu sprechen. Ja, diese Anpassung ist so hervorragend, dass von einem Veralten des Plakats selbst im Zeitalter der digitalen Medien nicht die Rede sein kann. 1m Gegenteil verzeichnet die Plakatbranche für die gerade zu Ende gegangenen neunziger Jahre enorme Wachstumsraten. Eine Erfolgsgeschichte also durchaus.
Im Juni 2001, wenige Wochen vor der Tagung, die dieser Band dokumentiert, traten im deutschen Fernsehen zwei Frauen auf, deren Zusammentreffen bereits Wochen zuvor von den Medien intensiv vorbereitet und kommentiert worden war. Auf ein »TV-Duell« der besonderen Art hatte man die ZuschauerInnen eingestimmt, die ihr Interesse denn auch durch hohe Einschaltquoten bekundeten. Was machte die Begegnung von Alice Schwarzer und Verona Feldbusch in einer Talkshow zu einem solchen Medienereignis? Was stand in diesem Duell auf dem Spiel, in dem es offensichtlich nicht um die Entscheidung für oder gegen eine Regierung ging wie etwa in dem ebenfalls traditionell als Duell inszenierten amerikanischen Präsidentschaftswahlkampf oder in den nach diesem Vorbild auch in Deutschland erstmals veranstalteten TV-Duellen zwischen Gerhard Schröder und Edmund Stoiber vor der Bundestagswahl 2002?
Barockrhetorik in Salzburg : zur Rolle der Benediktiner im frühneuzeitlichen Rhetorikunterricht
(2003)
Rezension zu Andreas Härter: Digressionen. Studien zum Verhältnis von Ordnung und Abweichung in Rhetorik und Poetik. Quintilian - Opitz - Gottsched - Friedrich Schlegel. München (Fink) 2000 (= Figuren; Bd. 8). 336 Seiten.
Eine Studie über die Abschweifung (lat. 'excursus', 'egressio' oder 'digressio') setzt sich nolens volens einem Vorwurf aus, nämlich selbst abschweifend zu sein. Nun, dieser Vorwurfkann Andreas Härters Habilitationsschrift, die 1998 von der Universität St. Gallen angenommen wurde, in keiner Weise gemacht werden. Im Gegenteil, seine Studien zu Quintilians 'Institutio oratoria', Opitz' 'Buch von der Deutschen Poeterey', Gottscheds 'Versuch einer Critischen Dichtkunst' und Friedrich Schlegels kunsttheoretischen Schriften, insbesondere den 'Athenäums'-Fragmenten, sowie dessen Roman 'Lucinde' sind alles andere als unsystematisch und abschweifend.