BDSL-Klassifikation: 03.00.00 Literaturwissenschaft > 03.07.00 Ästhetik
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Das 18. Jahrhundert ist in vielen Belangen der Kunst und des Wissens weniger modern als gemeinhin angenommen. Trotz aller Unterschiede zwischen den verschiedenen Phasen der Aufklärung und der Romantik basieren Sprach- und Bildkonzepte, Körper- und Subjektvorstellungen sowie Wissens- und Kunstfragen noch auf einem metaphysisch, moralisch und auf Ganzheit gerichteten Natur- und Wirklichkeitsbegriff. Für die Künste bedeutet das weiterhin eine enge Verschränkung mit Wissens- und Erkenntnissystemen im Sinne der klassischen 'artes'- und 'techne'-Komplexe. Kunst und Literatur stehen daher weitgehend im Kontext mit und in direkter Abhängigkeit von den Wissenschaften und den angewandten artes. Sie gelten noch lange als lehr- und erlernbar. Das bedingt auch, dass Ordnungsverhältnisse der Künste und Fragen der funktionalen, medialen und gattungsbezogenen Vergleichbarkeit, Legitimierung und Abgrenzung sowohl innerhalb des Kunstsystems als auch gegenüber anderen Diskursen verhandelt werden müssen. Diese Prozesse der Verschiebung und Verständigung, Abgrenzung und Zusammenführung von künstlerischen und nicht-künstlerischen Diskursen tragen die Künste.
In einer besonderen politischen Situation befanden sich die Architekten der russischen Avantgarde. Nach der Oktoberrevolution im Jahre 1917 bekamen sie (neben anderen Künstlern) die seltene Chance, sich an den gesellschaftlichen Entwicklungen – am Aufbau des staatlichen Sozialismus – zu beteiligen. Sie entschieden mit über die Einrichtung neuer Kunstinstitutionen, entwickelten Lehrprogramme und Aufklärungsprojekte, gestalteten die Infrastruktur der Städte, machten sich Gedanken über Wohnprobleme. Dabei waren sie in der paradoxen Situation, dass sich die sozialistische Bevölkerung, für die sie handelten, erst noch herausbilden musste. Im Zuge der Bürgerkriegswirren und Inflation strömten um 1920 große Menschenmengen aus den ländlichen Regionen in die Städte, die vom Wandel hin zum Sozialismus noch nicht viel gehört hatten. Für diese Bevölkerung moderne Wohnverhältnisse zu schaff en war eine doppelte Herausforderung: Es galt nicht nur die Gebäude der neuen politischen Ideologie gemäß zu gestalten, sondern auch die überforderten und meist ungebildeten Ankömmlinge so zu beeinflussen, dass sie überhaupt Zugang zu den veränderten sozialen Verhältnissen fanden. Neben den sozialistischen Gebäuden waren also auch ihre Bewohner erst noch zu entwerfen, denn es gab Anfang der 20er Jahre in Russland weder sozialen Wohnungsbau noch die für diesen vorgesehenen Arbeitermassen.
Persönliche Dokumente wie die zwischen Freunden gewechselten Briefe liefern unschätzbare historische Evidenz: für das, was sie sagen, ebenso wie für das, wovon sie schweigen. Offen ausgesprochene, vertrauliche Bemerkungen und stillschweigendes Wissen wechseln sich auf der gleichen Seite, in ein und demselben Absatz ab. Niedergeschriebene Worte wirken dabei als Stellvertreter für faziale Reaktionen, Tonfälle, Zwinkern oder auch Schweigen.
Dies gilt in besonderer Weise für die zwischen Niccolò Machiavelli und seinem Freund Francesco Vettori gewechselte Korrepondenz, da beide ihre Briefe mit einem hohen Maße an literarischem Bewusstsein verfassten. Hinter den Zeilen vernehmen wir häufig Ungesagtes, das ihren Dialog angetrieben hat.
Es gibt Sätze, die Lächeln als physiognomische Ausdrucksform überlegener Distanz zu erzwingen scheinen. Einen solchen Satz erkenne ich in einen Diktum, das Max Weber in seiner Rede Wissenschaft als Beruf 1917 nennt und das Helmuth Plessner 1924 in seiner Schrift Grenzen der Gemeinschaft1 zitiert: "Bedenkt, der Teufel, der ist alt, so werdet alt, ihn zu verstehen."
Plessner erinnert in der gleichen Schrift auch an eine Variation des Satzes, die lautet "Wer mit dem Teufel isst, muss einen langen Löffel haben." Beide Sprichwörter sind 1919 (angesichts der Bürgerkriegssituation) und 1924 (zu Beginn der Stabilisierungsphase, wo dies eigentlich gar nicht mehr nötig ist) gegen die Ungeduld der Jugend, die revolutionäre Neigungen hegt, gerichtet. Sie unterstreichen die Notwendigkeit, sich in die faktischen Züge des Gegners zu versenken, um in kühlem Verstande und gehöriger Distanz ihre Reichweite abschätzen zu können, statt die feindliche Macht durch unbeherrschte Affekte, durch Entrüstung oder Flucht zu stärken. Es ist im Übrigen ein Lächeln, das, wie jedes Lächeln erwachsener Kombattanten, keinen ausgeprägten motorischen Impulswert ausstrahlt. Man wird bei solchen Verlautbarungen mit leicht asymmetrischen Gesichtszügen rechnen. Die Aufhebung der Augenpartie steht in einem merkwürdigen Widerspruch zu den Mundwinkeln, die sich weigern, Heiterkeit zu mimen. Der Zygomaticus-Muskel zieht diesmal den Mund nicht nach oben und zurück, wodurch normalerweise physiologisch die Bühne für ein glückliches Lächeln bereitet wird. Für Helmuth Plessner, dessen Theorie des Lächelns wir bald behandeln werden, lag diese Asymmetrie des Mienenspiels im Schiefen der Situation. Plessner vermutet sogar, dass die Physiologen Recht haben könnten, wenn sie behaupten, dass Lächeln immer dann entstehe, wenn die durchschnittliche Gespanntheit der mimischen Muskulatur nur einer Enthemmung bedürfe, um in Lächeln überzugehen. Er beruft sich dabei auf den niederländischen Wissenschaftler Buytendijk, für den das Paradox des Lächelns "in der Spannung einer Muskelgruppe, welche Spannung als Entspannung einer aktiven Ruhelage erlebt werde", besteht. In jedem Fall zeugt es davon, wie viel muskuläre Arbeit Lächeln zuweilen erfordert, um verlorene Balance wieder herzustellen – und wie viel Mühe, dieser Anstrengung den Schein des Lässigen zu verleihen.
[D]ie Analogie zwischen den vertikalen Ordnungen der Körper- und der Gesichtszonen [wird] in mindestens einem wesentlichen Detail gestört. Dieses Detail ist die Nase. In der alteuropäischen Physiognomik bildet sie ein herausragendes Detail in dem umfassenden System der Ähnlichkeiten, das den Menschen nicht nur zu den kosmischen Elementen, sondern auch zu den Tieren und deren Eigenschaften in Beziehung setzte. [...] Spätestens seit dem 18. Jahrhundert wird diese Tierähnlichkeit als ganze prekär, und das macht gerade die Nase zu einem physiognomischen Ärgernis.
Gesichter spielen eine herausragende Rolle in Rosemarie Trockels Kunst, wobei deren Unsichtbarkeit genau so pointiert Bedeutung anzeigen kann wie die Erscheinung von Gesichtsmerkmalen. Ihr Werk reflektiert oftmals die Bedingungen, unter denen Subjektivität entstehen kann. Solche Reflektionen ergeben sich über den Bezug zur Geschichte der bildenden Künste, zur Literatur und zur Psychoanalyse. Ich sehe Effekte dieses künstlerischen Ansatzes nicht alleine in den Werken, in welchen Trockel sich explizit mit Kunstgeschichte und literarischen Texten sowie psychoanalytischen Theorien auseinandersetzt, sondern auch dort, wo dies offenkundig nicht geplant oder bewusst geschieht – vielleicht sogar gerade hier. Im Folgenden konzentriere ich mich auf ein paar Werke Trockels, in denen, wie ich meine, die scheinbare An- oder Abwesenheit von Gesichtszügen entscheidend ist für die durch die Werke aufgeworfenen Fragen der Subjektivität und Sexualität, insgesamt deren Präsentation als Kunstwerk.
Kopiert, infam, allegorisch : Gesichter der Renaissance zwischen Duplizierung und Deplatzierung
(2013)
Obgleich die kunsthistorische Literatur zum Renaissanceporträt viele Regalmeter füllt, sind Publikationen, die sich gezielt Fragen des Gesichts in der Kunst und Kultur der Renaissance zuwenden, kaum untersucht. Die folgenden Überlegungen möchten einen Schritt in diese Richtung gehen, indem sie den Blick auf zwei unterschiedliche Pole des Phänomens 'Gesicht' am Beginn der frühen Neuzeit lenken: auf hochindividuelle Gesichter, die ihre Gemachtheit und ihren Status als Duplikat affirmativ zur Schau stellen, sowie auf verallgemeinerte, allegorische Darstellungsformen des Gesichts in 'unmöglichen', verrutschten Positionen. Die Auslotung dieser Pole versteht sich als ein Versuch des Überdenkens der Funktionen und Implikationen, die Prozesse bildlicher Gesichtsgebung historisch mit sich brachten – im Hinblick auf die Techniken der materiellen und technischen Verkörperung des Gesichts einerseits sowie der Transzendierung des Körperlichen in allegorischen Darstellungen andererseits. Ein besonderes Augenmerk liegt dabei auf der erstaunlichen 'Mobilität' von Gesichtern in der Kunst der Renaissance, und zwar sowohl hinsichtlich ihrer materiellen Reproduktion als auch ihrer körperlichen Dislozierung.
Die anthropologischen Aspekte der Christusikone offenbaren erstaunliche und selten eingestandene Widersprüche, die allerdings die eigenen Widersprüche des Christentums sind. Die Behauptungen, die gleichsam das Rückgrat dieser besonderen Bildtradition bilden, benötigten intelligente Theorien, die nicht nur einige erstaunliche Texte, sondern auch weitere Zeugnisse im selben Medium hervorgebracht haben, und zwar Bilder sekundärer Art: Bilder von Bildern. Solche Anstrengungen, die einst auf das Unverständliche abgezielt hatten, wurden in der Moderne durch wissenschaftliche Erklärungen anstelle der theologischen fortgeführt. Wenn Wissenschaftler sich wie früher die Theologen benehmen, obwohl sie gar nicht mehr den christlichen Glauben propagieren müssen, verteidigen sie entweder ihr eigenes Wissen oder lassen alle Zweifel hinter sich, indem sie solche Bilder bewundern, deren Fallstricke einer verwickelten Geschichte ihre Aufmerksamkeit erregt haben.
Ich nähere mich dem Thema Gesicht in einer spezifischen Darstellungsform. Zum einen geht es um die visuelle Formation von Gesicht mit Hilfe der Fotografie. Zum zweiten spreche ich von einem toten Gesicht, und zwar in doppeltem Sinn: auf medialer Ebene, weil fotografierte Gesichter im Moment der Aufnahme gemäß Roland Barthes immer schon "Gewesene" sind, und auf symbolischer Ebene, weil das von mir vorgestellte Gesicht zu einer Person gehört, die uns in einer Aufbahrungsszenerie als Verstorbener gezeigt wird. Damit ist es in ein konventionelles Zeichensystem des Totengesichts eingefügt, dem der lebendige Blick fehlt. Mit Jean Cocteau habe ich eine künstlerische Figur gewählt, die mit diesen beiden Prämissen spielerisch und reflexiv umgeht. Er versucht dabei ein Ding der Unmöglichkeit: nämlich das eigene Totengesicht als Angesicht zu konstruieren, insofern er uns als Betrachterinnen und Betrachter in einen unendlichen Prozess des vis-à-vis verstrickt. Anders als etwa Emmanuel Levinas ging es Cocteau in seiner Versuchsanordnung eines 'Von Angesicht zu Angesicht' jedoch weniger um eine ethische als um eine poetische Frage, und mit einem Augenzwinkern, um im Bild zu bleiben, nicht zuletzt auch um seine eigene Apotheose als genialer Künstler.
Die Obsession für das menschliche Antlitz ist dem 20. Jahrhundert ins Gesicht geschrieben. So produzieren die modernen Bildmedien Fotografie, Film und Fernsehen in zuvor ungekanntem Ausmaß endlose Serien menschlicher Porträts, so erzeugen sie gänzlich neue Perspektiven auf das Gesicht und bringen allgegenwärtige faciale Schemata in Umlauf. Dabei wird das Gesicht zu einem maßgeblichen Vehikel gesellschaftlicher Normierung und zugleich zu einem Paradigma, an dem grundlegende Fragen der Subjektivität, der Kommunikation und der Ästhetik verhandelt werden. Dass nicht nur theoretische Diskurse die Funktionen des medialisierten Gesichts reflektieren, sondern auch die Medien selbst, lässt sich an Georges Franjus Les Yeux sans visage (1959) zeigen. Vermag der Film – ein Klassiker des Horrorgenres – es doch wie kaum ein anderer, die Potentiale des menschlichen Gesichts als Medium der Subjektivität und seine Bedeutung als Sujet des modernen Films auszuloten – und zwar gerade, indem er dessen Verlust in Szene setzt.
[...] Macht kommt nicht ohne eng miteinander verknüpfte "Institutionen" und "Techniken" aus, wie es unter anderen Michel Foucault so treffend in Bezug auf die "Biomacht" formulierte [...]. Nun sind alle jene Phänomene, deren institutionelle Rahmen und Apparate Foucault analysiert hat – sei es das Gefängnis, das Krankenhaus oder die psychiatrische Anstalt –, jenem Apparat zeitgenössisch, der das Sichtbare kadriert, und zwar der Fotografie. Insofern andere graphische Verfahren und andere Arten von Porträts durch sie abgelöst wurden – insbesondere die von Lavater kodifizierten physiognomischen Porträts –, spielte sie für die visuelle Apparatur jener "'Biopolitik' der menschlichen Gattung" eine Hauptrolle; eine Apparatur, die man auch als Biopolitik des menschlichen Erscheinungsbilds bezeichnen könnte.
Ohne Zweifel liegt genau hier eines der grundlegenden Probleme der fotografischen Arbeit von Philippe Bazin. Denn über die Pflegeheimerfahrung hinaus, von der seine medizinische Dissertation Zeugnis ablegt, setzt sich Bazin mit den Beziehungen des fotografischen Apparats zu den Apparaten der Macht: dem Krankenhaus, der psychiatrischen Einrichtung oder der Polizeiwissenschaft, auseinander.
Ein trompe-l’oeil ist es nur auf den zweiten Blick, was der Maler, Zauberer, Ingenieur und Cineast Georges Méliès (1861–1938) um 1900 gemalt hat, eher die malerisch gelungene Zerstörung eines fast leeren Bildes und dessen Ersetzung durch ein Porträt. Méliès stellt ein Tafelbild her, das über jenes auf der Staffelei stehende Tableau um ein Weniges hinausragt. Der die Leinwand durchstoßende Kopf (des Malers) – seine realistische Darstellung läßt selbst die weißgefleckten Schrammen auf Nase und Stirn nicht aus und zielt darauf ab, den Betrachter zu erschrecken.
Es gab augenscheinlich ein Bild, eine Darstellung, die vor diesem Augenblick der (gemalten) Zerstörung vorhanden war – und sei es die leere, monochrome Leinwand, auf die die lateinische Zeile "Ad Omnia" und darunter – und damit assoziiert? – "Leonardo da Vinci" wie ein fragmentarisches Logogryph geschrieben ist. [...]
Leonardo wie Méliès waren ubiquitäre Künstler. Sie vereinigten auf sich die Fähigkeiten des Handwerks, die künstlerische Gestaltung sachlicher Zeichnung, konzeptuelles Design und utopische Entwürfe. Méliès war professioneller Zauberer, wie Leonardo planender Ingenieur war. Leonardo hat diese Galerie eröffnet, und Méliès, der heute nur noch als phantasievoller Pionier der Kinematographie gewürdigt wird, sieht sich, zu Recht, in dieser großen Reihe. Mit diesem Bild hat er sich ein Denkmal gesetzt.
Wie die Gesichter der Menschen, die in früheren Epochen gelebt haben, ausgesehen haben, wissen wir nicht. Wir haben keine Ahnung, welche Gesichtszüge sie hatten. Uns ist unbekannt, mit welcher Miene sie ihre Zeitgenossen angeschaut haben, wie ihr Lächeln, ihre Trauer, ihre Angst oder ihr Zorn ausgesehen haben mögen. Und wir wissen nicht, ob wir das Antlitz der früher lebenden Menschen als schön und angenehm empfänden oder uns lieber abwenden würden. Wir kennen ihre Züge nur durch bildliche Darstellungen: von Skulpturen, aus deren ebenmäßigen Gesichtern uns die steinernen Augenhöhlen wie blind anschauen, von den Abdrücken der Grabmasken mit ihren toten Blicken, denen immer etwas Fremdes oder Geheimnisvolles anhaftet, oder aus der Malerei, aus deren Geschichte die Gattung des Porträts hervorgegangen ist. In ihm verdichtet sich die Idee vom getreuen Abbild einer Person mit individuellen Gesichtszügen, so dass es zum Modell und Ideal des Bildnisses geworden ist: das Porträt als ähnliches Abbild eines lebenden Urbildes, in dem dessen Gesicht als gleichsam natürlicher Ausdruck des Charakters eingefangen ist. Doch bildet das Porträt nicht nur das Ideal von Gesichtsdarstellungen, es ist auch deren Sonderfall. Sowohl die Gesichter, die uns aus der Zeit vor dem Zeitalter der Porträts überliefert sind, als auch die medialen Gesichter und die Dekonstruktionen in der Kunst der Moderne machen deutlich, dass uns Gesichter überwiegend in Gestalt von Artefakten vertraut sind. Das Bild vom Menschen basiert nicht unwesentlich auf der Geschichte von Bildnissen.
Zwischen 1700 und 1850 erfährt der Begriff des Ausdrucks in Kunst und Wissenschaft eine deutliche Aufwertung und Verbreitung. Die damit einhergehenden praktischen und diskursiven Veränderungen unterschiedlicher Ausdruckskulturen erforscht der vorliegende Band in Form eines interdisziplinären Dialogs.
Ausdrucksphänomene werden dabei als Figuren des Wissens verstanden, zum einen als Darstellungsweisen des Schauspielers, Musikers, Malers, Rhetors oder Wissenschaftlers. Zum anderen als Denkfiguren, die das grundlegende Verhältnis von Affekt und Ausdruck, etwa die Probleme der künstlerischen Gestaltung in Malerei und Schauspiel oder die Systematisierungen der Rede durch die Rhetorik kulturwissenschaftlich erschließen. Erst durch eine Analyse seiner Formierungsprozesse wird die Erfolgsgeschichte des Ausdrucksbegriffs nachvollziehbar.
In genauer Umkehrung des Programms der rhetorischen Kalkulierbarkeit expressiver Gesten einerseits, des Topos ihrer Ursprünglichkeit und Inkommensurabilität andererseits, werden die Bewegungen des Körpers wie die Affekte der Seele nun also als experimentell generierte Reaktionen begriffen. Die Gebärden des Körpers sind unter diesen Prämissen zwar immer noch Ausdruck eines inneren Zustands, dieser Zustand selbst aber ist dem Eindruck gezielt induzierter äußerer Reize geschuldet. Natur und Rhetorik des Körpers werden somit gleichermaßen unter die Ägide experimenteller Kalküle und Steuerungstechniken gestellt.
Wie ich im Folgenden an ausgewählten Beispielen zeigen möchte, ist dieser 'dritte Weg', den die experimentellen Wissenschaften vom Menschen zwischen die rhetorische und die empfindsame Semantik von 'Ausdruck' gebahnt haben, äußerst folgenreich gewesen: Obwohl das System der Rhetorik ebenso wie die Annahme natürlicher Empfindungen im kulturellen Gedächtnis der Moderne beide fest verankert bleiben, werden sie im Feld der Anthropologie im Zuge der Experimentalisierung der Wissenschaften vom Leben zunehmend marginalisiert. Dies allerdings nicht in dem Sinne, dass die Lebenswissenschaften sich schlicht an die Stelle vormals kulturalistisch argumentierender Paradigmen gesetzt hätten. Vielmehr legt gerade ein Prozess wie derjenige der Umcodierung expressiver Gesten zu mechanischen Reflexen die Notwendigkeit offen, Fragen der Wissenschafts- und Kulturgeschichte im Rahmen einer integralen Perspektive zu betrachten. In diesem Sinne ist auch die Geschichte des experimentellen Blicks auf Ausdrucksfiguren, um eine kulturelle Dimension zu erweitern – und das nicht nur hinsichtlich der allgemeinen Begleitumstände experimenteller Forschung wie z. B. der Materialität der Labore, der sozialen Interaktion der Forscher oder der diskursiven und nicht selten imaginären Entwürfe von Wissen.8 Vielmehr kann anhand der Geschichte der experimentellen Wissenschaften vom menschlichen Ausdruck eine ganz spezifische Dynamik der kulturellen Prägung von Wissen nachgewiesen werden: Die Experimentalisierung von Figuren des Ausdrucks führt nicht nur zur Verdrängung rhetorischer und empfindsamer Modelle, sondern wird von einem Diskurs mitgeschrieben, der von beiden Modellen bis weit ins 19. Jahrhundert hinein geprägt wird, und sei es im Modus der kritischen Reflexion: vom Diskurs der Literatur, der in dieser Hinsicht als konstitutiver Bestandteil einer Geschichte des Wissens zu betrachten ist.
Im Folgenden sollen [...] diskursive[] Wechselwirkungen zwischen Schauspieltheorie und Medizin in den Blick genommen werden – und zwar auf zweifache Weise: zum einen, indem schauspieltheoretische und medizinische Auffassungen über die Symptomatik extremer Affekte bzw. pathologischer Leidenschaften zueinander in Beziehung gesetzt werden, zum anderen, indem die Bildlichkeit dieser leidenschaftlichen und leidenden Körper selbst herangezogen wird. Zwischen beiden Wissensfeldern vermittelt der Begriff der 'Figur', der nicht primär als Redefigur, sondern vielmehr unter Berufung auf Roland Barthes "im gymnastischen oder choreographischen" Sinne als Figuration des bewegten Körpers, gewissermaßen als 'Bewegungsmelder' des Diskurses selbst verstanden werden soll: "Die Figuren heben sich nach Maßgabe dessen ab, was sich, im Zuge des Diskurses, daran als Gelesenes, Gehörtes, Erlebtes wieder erkennen lässt. Die Figur ist eingekreist wie ein Zeichen) und erinnerbar (wie ein Bild oder eine Geschichte)." In solchen Abhebungen, Einkreisungen und Erinnerungen des Körpers im Rausch des Affekts wie im Wahnsinn der Leidenschaft begegnen sich Schauspieltheorie und Medizin um 1800. Von ihnen wird als Figuren des Ausdrucks zu sprechen sein.
Mitte des 18. Jahrhunderts versuchten Vertreter der französischen Kunstkritik und Ästhetik die Sprachen des visuellen Ausdrucks, die man aus dem vorausgegangenen Jahrhundert und insbesondere den durch Charles Le Brun (1619–1690) formulierten Prototypen des Ausdrucks übernommen hatte, zu modifizieren und umzuformulieren. Im Mittelpunkt dieses Prozesses der Umformulierung stand die zunehmend populärer werdende Idee des 'Natürlichen'. Der Begriff 'Ausdruck' bezieht sich hier besonders auf die Darstellung der Gesichter und Körper gemalter menschlicher Figuren, und dabei vor allem auf die Konfiguration der Gesichtszüge, der Körperhaltungen und Gebärden. Die Suche nach neuen oder modifizierten Ausdrucksformen trat besonders deutlich bei den Genrebildern zutage, also Gemälden, die Szenen aus dem zeitgenössischen Alltagsleben darstellten und traditionell mit der Erwartung eines stärkeren Naturalismus verbunden waren. Als Ort des visuellen Ausdrucks nahmen Genrebilder einen bestimmten Punkt innerhalb eines breiten Spektrums gegensätzlicher Konzepte im zeitgenössischen ästhetischen Diskurs ein, und ihr Verhältnis zu den rhetorischen Ausdrucksformen der Historienmalerei war häufig problematisch. Die einschlägigen Begriffe im zeitgenössischen ästhetischen Diskurs, zwischen denen die Genremaler ihre Werke zu positionieren versuchten, waren Manierismus und Natur, Unangemessenheit und Schicklichkeit, das Erhabene und das Pathetische, expliziter und suggestiver oder 'offener' Ausdruck. Es handelte sich um eine Frage des visuellen Tons oder Registers, die häufig durch die intellektuellen, moralischen und sozialen Ambitionen der präsentierten Genremalerei und durch die erwünschte Beziehung zum Betrachter geklärt wurde. Das Ausdrucksregister war weniger vielfältig bei Gemälden, die primär dem Ziel der Unterhaltung oder Verzierung dienten, weniger imposant oder explizit bei denjenigen, die eher den interpretatorischen und moralischen Fähigkeiten der Öffentlichkeit vertrauten, und wesentlich größer bei denjenigen, die versuchten eine anspruchsvolle moralische Botschaft zu vermitteln.
Um diese Suche nach einem angemessenen moralischen und ästhetischen Register zu veranschaulichen, werde ich mich auf die Salonkritiken Denis Diderots (1713–1784) aus der Mitte der 1760er Jahre, auf einige der von ihm besprochenen Genrebilder sowie auf das Schaffen und die theoretischen Schriften Michel François Dandré-Bardons (1700–1783) beziehen, dessen Ausdruckslehre die Académie royale in Paris in der Jahrhundertmitte (1752–1755) beherrschte.
Charakteristischerweise geht die Praxis der Physiognomie mit deutlichen Linien, Markierungen und Figuren einher und verheißt so etwas wie ein System, Entzifferbarkeit und Universalität. In dieser Hinsicht ist Le Bruns 'Grammatik des Gesichts' exemplarisch. Doch hier werde ich mein Augenmerk auf Situationen und Gemälde richten, in denen die physiognomische Information partiell, mangelhaft, vage oder doppeldeutig ist. Oberflächlich betrachtet sind derartige Szenarien das Gegenteil der Le Brun'schen Lesbarkeit und dem ordnungsbewussten Physiognomiker damit ein Gräuel. Doch ich werde im Folgenden deutlich machen, dass diese pikturalen Lücken und Fehlstellen Bedeutung keineswegs negieren, sondern die Imagination des Betrachters vielmehr anregen und ihn emotional einbeziehen. Es gilt, einen physiognomischen Prozess des Entschlüsselns und Analysierens zu untersuchen, der sich etwas von dem Le Brun'schen Modell unterscheidet, gleichwohl aber auf körperlicher Expressivität beruht. Außerdem werde ich die These vertreten, dass die hier identifizierten Tendenzen in der Malerei sich im Einklang mit kognitiven Prozessen und Betrachtungsweisen jener Zeit befinden.
In früheren Jahrhunderten wurde Krankheit teleologisch begriffen; man nahm also an, die natürliche menschliche Verfassung sei die körperlicher wie geistiger Gesundheit. Krankheit war ein Abweichen von diesem idealen, ordnungsgemäßen Zustand – daher auch die englischen Termini 'disorder' und 'distemper'. Ehe sich die moderne Auffassung von Infektionskrankheiten entwickeln konnte, wurden Krankheiten von Ärzten meistens als eine Unausgewogenheit der physischen Beschaffenheit des Menschen verstanden. Die antike und mittelalterliche Physiologie – deren Spuren sich, Fortschritten der medizinischen Wissenschaft zum Trotz, bis ins 18. Jahrhundert finden – hatte Gesundheit im Sinne des Gleichgewichts der für den Körper konstitutiven Elemente definiert. Der Terminus 'Temperament' war ursprünglich ein Hinweis auf eine Veränderung der Qualitäten (heiß oder kalt, feucht oder trocken) oder des Gemüts, das durch verschiedene Mischungsverhältnisse der Körpersäfte (Blut, Schleim, gelbe Galle, schwarze Galle) die Natur oder die 'Komplexion' einzelner Menschen – deren körperliche wie geistige Verfassung – bestimme. Im Falle der Gesundheit seien die konstitutiven Elemente im Gleichgewicht – 'tempered' –, und dementsprechend im Falle der Krankheit – 'distempered'.
Auch nachdem man Krankheit nicht länger als Unausgewogenheit von Körpersäften verstand, blieb die Vorstellung, Gesundheit erfordere ein Gleichgewicht körperlicher Elemente, bestehen. Der Terminus 'Temperament' kam im Laufe der Zeit nicht außer Gebrauch, obwohl die Medizin und die Physiognomie die Idee der Humoralpathologie als obsolet verabschiedeten. Nach und nach bezeichnete 'Temperament' eine allumfassende Qualität des Charakters, des geistigen Wesens oder der natürlichen Veranlagung, statt eine körperfunktionale Qualität zu meinen. Dieser Bedeutungswandel beeinflusste die Geschichte von Physiologie und Physiognomie, weil er Änderungen der Konzeption menschlicher Leidenschaften und ihrer Ausdrucksformen einschloss.