BDSL-Klassifikation: 03.00.00 Literaturwissenschaft > 03.06.00 Literaturtheorie
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„Ich will zu diesem Vorkommnis aus dem psychischen Binnenleben das Seitenstück aus dem sozialen Leben suchen.“ Mit diesem Satz gelangt [Sigmund] Freud zum Begriff der Zensur und kann dann all dessen Ausdruckskraft nutzen – Unterdrückungsinstanz unangenehmer Wahrheiten, Zwang zur Mäßigung und Verstellung –, um seine neue psychologische Entdeckung zu erläutern: „eine bis ins einzelne durchzuführende Übereinstimmung zwischen den Phänomenen der Zensur und denen der Traumdeutung“. [André] Breton verdankt Freuds Zensurbegriff den entscheidenden Anstoß. Sein Programm des Surrealismus besteht im wesentlichen darin, traditionelle sprachreligiöse Idee auf moderne und provokante Art neu zu formulieren – und Freuds Zensurbegriff ist es, der dabei die Modernität und Provokation ausmacht. Die ‚écriture automatique’ folgt der literarisch-religiösen Idee von der sich selbst sagenden, sich selbst schreibenden Wahrheit. Die wichtigen Texte haben keinen Verfasser, heißt es, jedenfalls nicht einen Menschen bei wachem Verstand, sondern sind Offenbarungen aus göttlicher Quelle oder, sprachreligiös gewendet, der Sprache selbst.
(...) [J]eder Theorieentwurf über die Literatur oder das Literarische überhaupt lebt von seiner Beziehbarkeit auf konkrete Exempla. Deren Auswahl ist nicht ist nicht beliebig. Die Beispiele, d.h. ausgewählte literarische Werke sind nicht nur der Anwendungsfall und Prüfstein einer Theorie, sondern zugleich auch deren Voraussetzung, der Stoff für eine Vorstellung von Literatur, die sich zu einer wissenschaftlichen Theorie abstrahieren kann. Erst kommt die Literatur und dann deren Theorie. Das ist trivial. Nicht trivial ist die Konsequenz, daß jede auch auf das Allgemeinste zielende Literaturtheorie auf einer Vorauswahl beruht, woran man sich zum Verständnis der Sache orientiert. Zwischen einer Theorie und ihren Beispielen besteht – ausdrücklich oder stillschweigend – eine prinzipielle Solidarität.
„In Blumenbergs ‚Arbeibt am Mythos’ zeigt sich der Philosoph als vergleichender Literaturwissenschaftler. (...) Blumensbergs philosophische Erklärung des Mythos handelt nicht begrifflich abstrakt von ihrem Gegenstand, sie folgt vielmehr ganz den konkreten literarischen Überlieferungen und deren Darstellungsvielfalt. Begriffliche Orientierungen – grundsätzlich die, dass der Mythos menschliche Selbstbehauptung gegen den Absolutismus der Wirklichkeit sei – werden gegeben, doch treten sie gegenüber dem Interesse am Stoffgeschichtlichen, an den literarischen Variationen etwa der Prometheus-, der Odysseus- oder der Faust-Figur zurück. Damit vertritt und vollzieht Blumenberg den Primat der erzählenden Imaginationen vor jeder thematisch lehrhaften Zuordnung, den Primat der Geschichten vor dem, was religiöse, kosmologische, physikalische, moralische, historische, psychologische und andere Deutung aus ihnen abstrahiert.“