BDSL-Klassifikation: 03.00.00 Literaturwissenschaft > 03.06.00 Literaturtheorie
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Unter Zuhilfenahme der Lotmanschen Raumtheorie, deren Prägnanz für die Beschreibung fantastischer Literatur nicht neu ist, sondern von Marianne Wünsch, Hans Krah und Henning Kasbohm bereits beschrieben wurde, werden in vorliegendem Aufsatz die Grenzen der literarischen Fantastik abgesteckt. Im Anschluss hieran bleibt zu erörtern, wie sich das Moment der Unschlüssigkeit, also die "Unordnung der Räume", wie Kasbohm es formuliert hat, einstellt.
Dass der Erzähler hierbei eine immens wichtige Rolle einnimmt, haben Thomas Wörtche und Uwe Durst bereits angenommen. Gegenstand des zweiten Abschnittes ist die Frage, welche Aufgabe ihm genau zukommt.
Dabei wird erläutert, wieso die These vom destabilisierten Erzähler als "inszenatorische Grundlage der phantastischen Literatur" derartige Anerkennung findet. Nach einer Beschreibung dessen, was mit Destabilisierung genau gemeint ist, ist die Annahme zu plausibilisieren, dass für eine exaktere Bestimmung der Art der vorliegenden Fantastik mithilfe der Raumtheorie eine Verbindung mit der Theorie der erzählerischen Unzuverlässigkeit gewinnbringend sein kann. Abschließend finden die raumtheoretischen Folgerungen, die aus den ungleichen Möglichkeiten der Evokation des Moments der Unschlüssigkeit resultieren, Erwähnung. Ich werde mithin der Frage nachgehen, wer hier auf der Schwelle steht, wer der Grenzgänger in fantastischer Literatur ist.
Erzählen
(2011)
Was ist Erzählen? Erzählen ist eine sprachliche Handlung: Jemand erzählt jemandem eine Geschichte. An dieser Handlung lassen sich – in Analogie zu der linguistischen Grundeinteilung zwischen der Pragmatik, Semantik und Syntax der Sprache – drei Dimensionen unterscheiden.
(a) Erstens ist das Erzählen eine Sprachhandlung, die in einem bestimmten Kontext zwischen einem Erzähler und einem oder mehreren Rezipienten stattfindet. Diese Kommunikation kann unterschiedlich gestaltet sein, beispielsweise als mündliches Erzählen mit kopräsenten Gesprächsteilnehmern oder zerdehnt als schriftlicher Kontakt zwischen räumlich und zeitlich voneinander entfernten Autoren und Lesern. Die Praxis des Erzählens kann unterschiedlichen Funktionen dienen: Man kann erzählend informieren, unterhalten oder belehren, moralisch unterweisen, geistlich stärken oder politisch indoktrinieren, Erzählgemeinschaften bilden, individuelle oder kollektive Identität en stiften usw. Pragmatische Aspekte des Erzählens stehen insbesondere bei der Untersuchung nicht-literarischer ›Wirklichkeitserzählung en‹ (Klein/Martínez 2010) im Vordergrund, also beim Erzählen in institutionellen, quasi-institutionellen und alltäglichen Situationen, etwa Gerichtserzählungen, Predigten, Krankheitsgeschichten beim Arzt oder Therapeuten, journalistischen Reportagen oder dem Klatsch unter Arbeitskollegen.
(b) Eine zweite Dimension der Erzählhandlung umfasst das, was mitgeteilt wird: den Erzählinhalt, nämlich bestimmte Figuren, Schauplätze und Ereignisse, die sich zu einer Geschichte zusammenfügen.
(c) Drittens schließlich ist das ›Wie‹ des Erzählens von Interesse, die Gestaltungsweise der Erzählung. Dazu gehören rhetorische und stilistische Mittel, aber auch die verschiedenen Gestaltungsmöglichkeiten der Erzählstimme, etwa der aus dem Text erschließbare ›Standort‹ des Erzähler s (der sich innerhalb innerhalb oder außerhalb seiner eigenen Geschichte befinden kann), das Verhältnis zwischen dem Zeitpunkt des Erzählens und dem Zeitpunkt der erzählten Handlung oder auch die Perspektive der Darstellung. Während die erste Dimension den pragmatischen Kontext des Erzählens umfasst, betreffen der Erzählinhalt (das ›Was‹) und die Erzählweise (das ›Wie‹) textinterne Aspekte.
Figur
(2011)
Wenn literarische Geschichten ('mythoi') gemäß der Bestimmung des Aristoteles "menschliche Handlungen" darstellen ('mimesis praxeōs'; Aristoteles 1982, 1449b), dann sind die Akteure dieser Handlungen zweifellos ein zentrales Element von Erzählungen, genauer gesagt: eine Grundkomponente der erzählten Welt (Diegese). Die Bewohner der fiktiven Welten fiktionaler Erzählungen nennt man 'Figuren' (engl. 'characters'), um den kategorialen Unterschied gegenüber 'Personen' (oder 'Menschen') hervorzuheben. Autoren fiktionaler Texte erfinden Figuren, Autoren faktualer Texte berichten von Personen. Aus diesem Unterschied folgen einige Besonderheiten, die Figuren. Fiktionaler literarischer Welten sowohl von der Darstellung realer Personen in faktualen Texten wie auch von der Wahrnehmung realer Personen in unserer Alltagswelt unterscheiden.
Figuren müssen nicht menschlich oder menschenähnlich sein. Viele literarische Akteure besitzen phantastische Qualitäten, die mit dem Begriff einer Person unvereinbar sind – man denke an die tierischen Handlungsträger in Fabeln. Selbst unbelebte Dinge wie Roboter in der Science Fiction oder die titelgebenden Protagonisten des Grimmschen Märchens "Strohhalm, Kohle und Bohne" können in der Fiktion zu Handlungsträgern und damit zu Figuren werden. Gibt es überhaupt eine notwendige Voraussetzung dafür, dass ein Textelement als eine Figur gelten kann? Das einzige unerlässliche Merkmal für den Status einer Figur ist wohl. dass man ihr Intentionalität, also mentale Zustände (Wahrnehmungen, Gedanken, Gefühle, Wünsche, Absichten) zuschreiben können muss.
Erzählt wurde und wird überall. Erzählen ist eine Grundform unserer Wirklichkeitserfassung. Das Zentrum für Erzählforschung (ZEF) der Bergischen Universität ist deshalb interdisziplinär ausgerichtet. Drei Beispiele aus Kunstgeschichte, Journalismus und Rechtsprechung: Der Teppich von Bayeux (11. Jh.) benutzt bei seiner bildlichen Darstellung der Eroberung Englands durch den Normannen Wilhelm Abweichungen von der Chronologie, um die Sympathien der Betrachter zu lenken. Die pietätlose Hast des angelsächsischen Kontrahenten der Normannen, Harold, sich nach dem Tod seines Vorgängers krönen zu lassen, wird visuell durch die unmittelbare Konfrontation der Krönungsszene mit dem Bild des kranken Edward angezeigt. In solchen erzählerischen Kunstgriffen zeigt sich politische Wirkungsabsicht. Zweitens: Fußballspiele stellen den Live-Reporter vor große erzählerische Herausforderung. Er muss eine Geschichte erzählen, deren Ende er nicht kennt. Dafür verwendet er prospektiv Plotstrukturen, die dem disparaten Spielgeschehen Sinn verleihen, die aber auch gegebenenfalls ad hoc abweichendem Spielverlauf anzupassen sind. Drittens: Vor Gericht wird die Glaubhaftigkeit von Zeugenaussagen u. a. nach erzählerischen Kriterien wie Detaillierungsgrad und Inkontinenz beurteilt. Wer besser erzählt, gewinnt.