BDSL-Klassifikation: 03.00.00 Literaturwissenschaft > 03.03.00 Studien
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Die folgende Skizze verbindet Betrachtungen zur Wirkungsgeschichte des Deutungsmusters „Goethe und Bismarck" (ohne sich jedoch an die zeitlichen Grenzen des Weimarer „Silbernen Zeitalters" halten) mit der Schilderung von Ereignissen im Großherzogtum Sachsen-Weimar-Eisenach, die in direkter Beziehung zur zeitgenössischen Goethe- und Bismarckverehrung stehen. In diesem Zusammenhang sind der Besuch Bismarcks in Jena 1892 sowie die Erbauung des Weimarer Bismarck-Turmes 1900/1901 von besonderem Interesse. Nicht geleistet werden kann an dieser Stelle eine lückenlose Rekonstruktion der regionalen Fest- und Feierkultur, in der sich die Verschränkung von „Goethe" und „Bismarck" — über die hier thematisierten Ereignisse hinaus — nachzeichnen ließe. Doch dienen die folgenden Bemühungen der Rekonstruktion eines kulturellen Klimas und der entsprechenden Diskurse, in dem während der Jahrzehnte zwischen den sogenannten „Einigungskriegen" und dem Ersten Weltkrieg über Leistungen und Chancen des „klassischen Erbes" für Weimar und Deutschland debattiert wurde.
Kategorien wie "nationales" oder "europäisches" Kulturerbe sind [...] nicht selbsterklärend. Immer aber werden sie mit großen Ansprüchen verbunden, sollen "Identität" stiften, zivilgesellschaftliche Normen beglaubigen oder den Bürgern eines bestimmten Landes dessen kulturelle und politische Bedeutung suggerieren. Touristisch vermarktet werden dabei zumeist die ästhetisch ansprechenden, politisch korrekten, also eher die unproblematischen und kulturell angenehmen Überlieferungen. Die negativen Seiten der Geschichte, die verstörenden Ereignisse der Vergangenheit und die Traumata der individuellen wie kollektiven Biographie sperren sich eher gegen eine glatte Nutzung im kulturtouristischen und ökonomischen Sinne. Mit ihnen kann man sich professionell in der Abgeschiedenheit von Akademien und Universitäten leichter beschäftigen als im Streit der öffentlichen Meinungen oder im Kontext touristischer Event-Kultur. [...] Die Tourismusindustrie und deren Werbung setzen immer wieder auf die Beschwörung der Präsenz längst gestorbener Geister. So behauptet beispielsweise das diesjährige Prospekt der "Thüringer Tourismus GmbH" mit dem saisonal bedingten Titel "Schiller lockt", dieser "klassische" Autor sei noch heute an den Stätten seines ehemaligen Wirkens "präsent". [...] In dem vor einigen Jahren erschienenen Sammelwerk "Deutsche Erinnerungsorte" steht auch ein Artikel über "Schiller" [...] Doch wird dort festgestellt, dass Schiller heute kein "deutscher Erinnerungsort" mehr sei, sondern ein Fall für Spezialisten und ein lebendiger Autor für allenfalls einige Hunderttausend Bundesbürger, die regelmäßig ins Theater gehen und dort ab und zu auch ein Stück von Schiller sehen. [...] Die Diskrepanz zwischen der nüchtern, wissenschaftlich konstatierten Bedeutungslosigkeit eines Dichters für das nationale Selbstverständnis der Nation und der emphatischen Behauptung der Tourismusbranche, der Autor sei bis heute präsent, verweist auf spezifische Probleme und Widersprüchlichkeiten im Umgang mit dem kulturellen Erbe, denen ich mich [...] etwas genauer zuwenden möchte, und zwar am Weimarer Beispiel.
Weimar ohne Goethe gibt es nicht im Bewußtsein der Weltkultur. Die Stadt verdankt ihren Mythos zuallererst der originären Gestalt Goethes, dem bürgerlichen Dichter, der zum Anbruch der Moderne neue Bereiche des Fühlens und Denkens literarisch-poetisch erschließt, der hier den größten Teil seiner Lebenszeit verbringt. Aber daß "die berühmtesten Deutschen [...] lange hier gewohnt, dafür kann man billigerweise Weimar selbst nicht verantwortlich machen. Der Ort ist keine Fabrik berühmter Leute", wußte man bereits kurz nach Goethes Tod.