BDSL-Klassifikation: 14.00.00 Romantik > 14.12.00 Zu einzelnen Autoren
Refine
Language
- German (5)
Has Fulltext
- yes (5)
Is part of the Bibliography
- no (5)
Keywords
- Tieck (5) (remove)
Ludwig Tieck war 58 Jahre alt und hatte als Dramaturg am königlichen Theater in Dresden erstmals in seinem Leben eine Stelle, ein Gehalt und einen Titel („Hofrat IV. Classe“) inne, als im Novellenkranz auf das Jahr 1831 die Novelle Die Wundersüchtigen erschien. Der 1829 entstandene Text schildert die Verwirrungen, die zwei konspirativ agierende Geheimbund-Emissäre in zwei Städten, insbesondere aber in der Familie eines Geheimrats anrichten. Die Handlungszeit der Novelle ist ziemlich genau markiert, denn im ersten der zahlreichen Dialoge wird die Furcht vor einem erneuten Aufflammen mystizistischer Praktiken mit einem Hinweis auf die lebenden Garanten der Aufklärung abgewiesen.
Der Germanist traditioneller Prägung, der sich auf einer Tagung der Evangelischen Akademie Tutzing zum Thema "Versuchung und Verführung in Märchen, Romanen und Lyrik" äußern soll, wird sich, von dem für ihn etwas fremdartigen Thema zunächst etwas verschreckt, an ein theologisches Handbuch wenden. Zum Stichwort "Versuchung" wird er zum Beispiel im "Handbuch theologischer Grundbegriffe" fündig. [...] Diese Definition hat für den Literaturwissenschaftler etwas tief Unbefriedigendes, das möglicherweise produktiv gemacht werden kann. Sie geht aus von einem zeitlosen Anthropos, gesteuert von einem psychischen Apparat jenseits von Raum und Zeit. Literatur - zumindest der Romantik - stellt diese Vorstellung gerade auf den Prüfstand. Wie kann - so fragt diese Literatur, und mit ihr der Literaturwissenschaftler - dieses Schema, in dem der Christ in freier Willensentscheidung, in Verantwortung vor seinem Gewissen und seinem Gott handelt, in einer Zeit funktionieren, in der die traditionalen Weltbilder (Religion) von den alles verschlingenden Imperativen der Ökonomie abgelöst werden? Wie ist Versuchung in der Sattelzeit zu denken? Stimmen die alten Normen von gut und böse noch, die der (konservativen) moraltheologischen Definition zugrundeliegen? Tieck ist (mit anderen romantischen Autoren) diesen Fragen nachgegangen, und zwar in einer literarischen Gattung, die er selbst als "Allegorie" oder "Märchen" bezeichnet hat, und die - nach herkömmlichem Verständnis - jedem konkreten Zeitbezug gerade fernsteht. Tatsächlich aber rekurriert das Tiecksche Märchen auf die empirische, für Tieck gegenwärtige Welt; "allegorein", also "anders, bildlich reden" heißt, daß die raum- und zeitenthobene Bilderwelt ein historisch-gesellschaftliches Substrat verfremdet und damit bis zur Kenntlichkeit entstellt.
Das Drama der deutschen Romantik : ein Überblick (Tieck, Brentano, Arnim, Fouqué und Eichendorff)
(2005)
Wie steht es um die Aufführbarkeit des romantischen Dramas, von Theaterpraktikern wie Goethe vehement bestritten? Tatsächlich ist es so gut wie nie aufgeführt worden – eine Konsequenz seiner gattungspoetologischen Voraussetzungen: Das romantische Drama nämlich ist, verkürzt gesagt, für eine "imaginäre Bühne" geschrieben worden, selbst wenn Tieck oder Fouqué den theatralischen Effekt immer im Blick behielten. A. W. Schlegel zufolge kann ein dramatischer Text nur dann einen „lebendigen Eindruck“ hervorrufen, wenn der Lektüre Theatererfahrungen zugrunde liegen. Voraussetzung dafür ist ein probates Publikum, das auf Aufführungen verzichten kann, weil es in der Lage ist, sich die theatralische Umsetzung vorzustellen. Die "imaginäre Bühne" stellt demnach ein elitäres Modell dar, das sich allerdings nicht nur in der Lektüre angemessen rezipieren läßt, sondern auch durch Vorlesungen, die Leseakt und theatralische Darstellung zusammenbringen. Vor allem Tiecks Vorlesekunst ist legendär – nicht nur ihrer zuweilen ermüdenden Länge wegen. Schließlich beruhte z. B. Goethes Begeisterung über Tiecks Genoveva auf einem Hörerlebnis.
Es gehört wohl zu den wichtigsten Leistungen der jüngeren Romantikforschung, die starre Grenze zwischen Aufklärung und Romantik geschleift zu haben. Wo sich früher zwei monolithische Einheiten gegenüberstanden, zeigen sich inzwischen, ohne daß dadurch der Epochencharakter beider prinzipiell verabschiedet würde, gemeinsame Problemlagen, Kontinuitäten, Übergänge und Transformationen. Dieser Befund bewahrheitet sich, wenn man den herkömmlichen Fragenkreis der Literaturwissenschaft in Richtung einer sozialhistorisch fundierten Geschichte des Subjekts, des Ichs, der Seele erweitert. Die Romantik, hat Hartmut Böhme geschrieben, formuliere "das Unbewußte der Aufklärung. Sie ist nicht deren Opposition, sondern die Komplettierung der bürgerlichen Subjektproduktion [...]". Tatsächlich spielt die Literatur seit der Frühromantik eine durchaus avantgardistische Rolle bei der "Entdeckung des Unbewußten", die in den letzten Jahren anhand vorwiegend theoretischer Texte rekonstruiert worden ist. [...] Ludwig Tiecks Märchenerzählung "Der getreue Eckart und der Tannenhäuser" von 1799 [...], die die Germanistik zumeist in einer Mischung aus Hilflosigkeit und Geringschätzung links liegen gelassen hat, schreitet in einem mythisierenden Szenarium von hoher Raffinesse die Sehnsüchte und inneren Zwänge aus, die sich am Ende der bürgerlichen Aufklärung ausgebildet haben. Er macht auf diese Weise nicht weniger als eine neue psychische Struktur, das Resultat lang- wie kurzfristiger sozialer Prozesse, sichtbar, und zwar in einem doppelten Sinn: Denn diese ist nicht nur auf Inhaltsebene Gegenstand der Erzählung, sondern schreibt sich strukturbildend dem Text selbst ein. In psychogenetischer Perspektive wird erkennbar, daß sich die Romantik, selbst wo sie es will, nicht von dem befreien kann, was ihr die Aufklärung hinterlassen hat.
Die Tieck-Philologie hat sich nur wenig mit den Reisegedichten beschäftigt. Überhaupt nicht diskutiert wurden für die Reisegedichte, die aus Tagebuchnotizen hervorgegangen sind, Konsequenzen, welche sich aus dieser besonderen Genese für Schreibweise und Textpräsentation ergeben. [...] Gründe für eine Neubesichtigung der Tieckschen Verse sind also reichlich vorhanden. Die Analyse erfolgt in drei Arbeitsschritten: Nach einigen Basisinformationen zur Entstehungs- und Editionsgeschichte der Reisegedichte, die in der Form von zwei Zyklen dem Lesepublikum vorgelegt wurden, soll das Programm der Tieckschen Gelegenheitsdichtung skizziert werden, das der Autor zum Teil selbst im Paratext der Vorrede entwickelt. Es wird zu zeigen sein, in welcher Weise Tieck die antiquierte Form der Casuallyrik modernisiert und dadurch aufnahmefähig für neue Inhalte macht. Der zweite Teil befaßt sich mit dem spezifischen Italienbild, das Tieck in diesen Versen bietet. Es geht um seinen Blick auf das Land, auf dessen Bewohner, Geschichte und Kultur. Was erscheint Tieck berichtenswert, welche Stationen und Situationen werden festgehalten, und in welcher Weise werden Wirklichkeitserfahrungen transformiert in einen poetischen Text. [...] Der dritte Abschnitt widmet sich der Wirkungsgeschichte. Hier ist auf Ludwig Robert, den Bruder von Rahel Varnhagen, und vor allem auf Heinrich Heine einzugehen. Teil der Wirkungsgeschichte ist auch die respektlose Parodie Arnold Ruges in dem gemeinsam mit Theodor Echtermeyer herausgegebenen Manifest Der Protestantismus und die Romantik. Schließen möchte ich mit einigen Überlegungen zur Aktualität Tiecks. Wo liegen die Gründe für das offensichtliche Faszinosum, das für Rolf Dieter Brinkmann von Tiecks Reisegedichten ausgeht? Gibt es noch einen Ludwig Tieck als Anreger der Lyrik der Neuen Subjektivität zu entdecken?