BDSL-Klassifikation: 05.00.00 Deutsche Literaturgeschichte > 05.09.00 Gattungen und Formen > 05.09.03 Epik
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Zum Schluß ein vergleichendes Resümee der Einzelinterpretationen und ein paar allgemeinere Überlegungen zum historischen Ort der 'doppelten Welten'. In der Gruppe der untersuchten Werke steht Goethes Roman nicht nur in zeitlicher Hinsicht zuerst. Von den "Wahlverwandtschaften" aus lassen sich die anderen Werke als Modifikationen eines Paradigmas beschreiben. Dafür ist es nur von zufälliger Bedeutung, daß Hoffmann in "Der Zusammenhang der Dinge" auf die "Wahlverwandtschaften" ausdrücklich verweist und daß Mann während der Arbeit an "Der Tod in Venedig" Goethes Roman mehrmals gelesen hat. Es geht hier nicht um genetische Abhängigkeiten, sondern um Unterschiede innerhalb des systematischen Rahmens einer Textsorte. Auf dieser Basis stellen sich die anderen vier Werke als Ästhetisierung (Hoffmann), ridikülisierende Psychopathologisierung (Vischer), phantastische Psychologisierung (Mann) und tendenzielle Trivialisierung (Perutz) der paradox verdoppelten Motivationsstruktur der "Wahlverwandtschaften" dar.
Die meisten neueren Interpretationen der "Wahlverwandtschaften" beruhen auf einem realistischen Verständnis des Romans – 'realistisch' in dem Sinn, daß die Interpreten von einer grundsätzlichen Ähnlichkeit der im Roman beschriebenen Welt zu unserer Alltagswelt ausgehen. Was uns im Rahmen heutiger Auffassungen in einem lebensweltlich-praktischen Sinn als notwendig, wahrscheinlich oder möglich gilt, wird wie selbstverständlich als Erklärungsrahmen für die erzählte Welt des bald zweihundert Jahre alten Romans eingesetzt. Was immer als unwahrscheinlich oder unmöglich aus dem Rahmen des empirisch Möglichen herausfällt, wird in den realistischen Interpretationen anhand mehr oder weniger akrobatischer Konstruktionen als uneigentlicher, symbolischer Ausdruck eines eigentlich gemeinten realitätskompatiblen Gehalts aus dem Weg geräumt – offenbar in der Meinung, man brauche die für ein realistisches Verständnis unbequemen Teile des Romans "allzu wörtlich [...] nicht verstehen". So kann dann behauptet werden: "the principle of verisimilitude [...] controls every detail of the text", und: "no real miracles occur in 'Die Wahlverwandtschaften'".
Diesen Versuchen steht ein Interpretationsansatz entgegen, der eine radikale Verschiedenheit unserer modernen Welt von der in den "Wahlverwandtschaften" dargestellten behauptet und die erzählte Welt des Romans als eine mythische auffaßt. Das entschiedenste Beispiel hierfür ist Walter Benjamins Essay, in dem es heißt, in der Romanwelt herrsche eine Ordnung, "deren Glieder unter einem namenlosen Gesetze dahinleben, einem Verhängnis, das ihre Welt mit dem matten Licht der Sonnenfinsternis erfüllt". "Das Mythische ist der Sachgehalt dieses Buches: als ein mythisches Schattenspiel in Kostümen der Goethezeit erscheint sein Inhalt." Vor allem mit Bezug auf die Ottilie-Figur und auf Goethes Begriff des Dämonischen haben auch andere, meist ältere Interpretationen gemeint, im Romangeschehen sei einiges "nicht geheuer".
Ziel des Buches ist es, einen bestimmten Typ literarischen Erzählens zu bestimmen und an einigen Beispielen zu untersuchen. Dieser Typ ist durch eine besondere narrative Struktur gekennzeichnet. Das in ihm dargestellte Geschehen ist auf paradoxe Weise doppelt motiviert: kausal und final. Die so konstituierte erzählte Welt ist insofern 'doppelt', als in ihr zwei miteinander unvereinbare Arten erzählter Welten kombiniert werden.