BDSL-Klassifikation: 12.00.00 18. Jahrhundert > 12.13.00 Zu einzelnen Autoren
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Der Schelm, der nur noch gibt, was er hat : Adolph von Knigge und die Tradition des Schelmenromans
(1986)
Wenn jemand zum Ausdruck bringen möchte, daß er sich um eine Sache nach besten Kräften bemüht hat und mehr als das Geleistete redlicherweise nicht anbieten kann, so sagt er unter Umständen: "Ein Schelm gibt mehr, als er hat". Nachgewiesen ist diese Redensart bereits im 18. Jahrhundert, damals noch bevorzugt auf die Bewirtung von Gästen bezogen, von der aus sie sich aber bald auf andere Zusammenhänge übertragen findet. Daß es allgemein Schelmenart ist, mehr zu geben, als man hat, ist aber natürlich nicht erst mit dieser Redensart ruchbar geworden. Denn daß nicht alles Gold ist, was glänzt, oder daß manche einem ein X für ein U vormachen, daß die hohlsten Fasser am vollsten tönen oder die seichtesten Bäche am lautesten rauschen, hat man auch früher schon gewußt und sich vor den Schelmen eine Warnung sein lassen, mag es genutzt haben oder nicht. Und die Schelme ihrerseits? Die literarischen jedenfalls, von denen hier die Rede sein soll, scheinen sich in dieser Hinsicht auf den ersten Blick auch zumeist ganz sprichwörtlich zu verhalten, ihre Umwelt wirklich bevorzugt dadurch hereinzulegen, daß sie etwas vortäuschen, was nicht vorhanden ist. Doch bei genauerem Hinsehen kann man auch gewahr werden, daß dies nicht immer so ist oder daß der Zweck solcher Täuschung auch sein kann, im wesentlichen gerade nichts vorzutäuschen oder gar weniger zu scheinen, als man ist, und um eben diese Unterschiede, die letztlich eine Entwicklung des Schelmenromans aus sozialgeschichtlichen Ursachen bedeuten, soll es hier gehen.
Bodmer und die Folgen
(1992)
Diese Studie soll, von Bodmers Leistungen ausgehend, zeigen, was die nachfolgende Generation damit und daraus gemacht hat, soll auch auf andere Traditionen hinweisen und den Neuansatz der Romantik, vor allem in Gestalt der Mittelalter-Aneignung Tiecks, charakterisieren – die Neubegründung, die dann durch die Grimms im Sinn einer umfassenden Wissenschaft vom deutschen Altertum auf der Basis des romantischen Poesiebegriffs und durch Karl Lachmann als idealistische Philologie erfolgt. (...)
Angenommen, Literatur sei der unalltägliche Ausdruck dessen, was in der Luft liegt. Angenommen weiterhin, es verhalte sich so, wie unser alltägliches Sprechen über Literatur es nahelegt: das in den Wissenssystemen anwesende Wissen sei tendenziell defizitär, bedürfe daher der steten korrigierenden Ergänzung durch ein irreguläres Medium, und die freie, sprich keiner Sparte des Wissens und Handelns, allein der Öffentlichkeit verpflichtete Literatur sei dieses Medium, so ergibt sich daraus zweierlei. Erstens müßte verständlich gemacht werden können, welches Potential gerade die Literatur befähigt, immer neue Lücken im jeweiligen Wissensgefüge ihrer Zeit aufzuspüren und gemäß den eigenen Möglichkeiten zu benennen. Zweitens sollte es möglich sein, die Erfindung dieser Literatur im Zuge der europäischen Aufklärung so zu beschreiben, daß erkennbar wird, welche alle folgenden präjudizierende Lücke sie in ihren Anfängen auf den Plan ruft.
In Lenzens Briefen, seinen „stets unmittelbar und originell hervorsprudelnden Herzensergüssen [...] spiegelt sich des Dichters innerstes Sein und Wesen in lebendiger Treue [...].“(...) Diese Ansicht formulierte Franz Waldmann 1894 in schöner Übereinstimmung mit der allgemeineren zeitgenössischen Überlegung zum sogenannten Sturm und Drang-Brief. (...) Als zunächst vielleicht paradox anmutende These sei vorangestellt: Waldmanns Aussage gilt um so weniger, je „unmittelbarer“ und persönlicher die Briefe erscheinen; sie dokumentieren des „Dichters innerstes Sein und Wesen“ nicht „unmittelbar“, sondern nur in vermittelter Weise, im Bewußtsein des Absenders von seiner Rolle als Schriftsteller und in seiner genauen Kenntnis der literarischen Gesetze des sogenannten Sturm und Drang-Briefes. (...) Nicht auf den Briefschreiber kommt es an, sondern auf den Brief. Dies wäre, wenn die Interpretation stimmt, dem literarischen Charakter der Briefe angemessen.
Der Traum ist für [E.T.A.] Hoffman, neben der Musik, die Möglichkeit, mit dem „fernen, unbekannten Geisterreich“ in Kontakt zu treten, und was er über dieses sagt, trifft auch auf Undine , sowohl auf die Figur, wie auf das Werk zu: „Mag der Traum, den der, bald zum Grausen erregenden, bald zum freundlichen Boten an den irdischen Menschen erkoren (...)“ (Don Juan) (...) mit ‚Undine’ wird die Oper zum Traum, wie der Traum zur Oper.
Über die Kanonisierung eines literarischen Werkes entscheidet […] die Nachwelt. Gelegentlich ist jedoch bereits die Produktion durch kanonischen Geltungsanspruch geprägt. Dantes „Commedia“ und Klopstocks „Messias“ sind besonders markante Beispiele […]. Ein Vergleich von Dante und Klopstock kann sich allerdings nicht auf einen direkten Rezeptionszusammenhang berufen. […] Es geht hier vielmehr um einen kontrastiven Vergleich zweier Werke, die im Selbstverständnis ihrer Autoren, im Erzählstoff, in der literarischen Gestaltung und auch in der unmittelbaren Aufnahme durch die Zeitgenossen bemerkenswerte Gemeinsamkeiten aufweisen, deren spätere Rezeption aber diametral auseinanderläuft […] Wie haben diese Autoren ihren kanonischen Geltungsanspruch […] inszeniert? Warum wurde Dantes Werk auf Dauer im Kanon etabliert, Klopstocks hingegen nicht? Meine […] Antworten auf diese Fragen lassen sich vorweg in drei Thesen zusammenfassen: - Die selbstinszenierte Kanonisierung erfolgt bei Dante wie bei Klopstock im Rahmen einer religiös fundierten Poetik, in der das Konzept einer fiktionalen Literatur keinen Platz hat. - In beiden Fällen wird die religiöse Legitimationsstrategie jedoch durch den Einsatz fiktionaler Elemente zirkulär und damit theologisch prekär. - Das Gelingen bzw. Mißlingen einer dauerhaften Kanonisierung ist im unterschiedlichen Potential beider Werke begründet, unter den veränderten Bedingungen eines modernen, autonomen Literaturbegriffs rezipierbar zu bleiben.
Both Percy and Herder establish popular poetry within the horizon of modern literature, accentuating its strangeness compared to learned poetry or "Kunstdichtung". But there is a decisive difference between Percy's and Herder's handling of this strangeness. Percy tries to bridge the gap by way of historico-philological explanation and reconstruction. In the „Reliques“, he not only chooses, corrects and groups his poems. He also adds four historical essays to his edition […] and provides numerous introductory remarks, footnotes, bibliographical references, and glossaries of archaic words and idioms. Contrary to Percy, Herder preserves and even enforces the strangeness of the texts. On the other hand, he also wants his reader to bridge the gap […] through the modern reader's empathic grasping of the supposed archaic face-to-face-communication between poet-singer and audience. In order to reach this goal, the reader must try to supplement the fragmentary text through the intuition of the authentic situation in which the text originally was communicated. Such a supplement seems possible because popular poetry deals with stock situations common to all people. […] In order to reach this goal, by the way, Herder simulates in the „Auszug aus einem Briefwechsel“ and in the introduction to the „Volkslieder“ the same attitude which he wants to convey to his readers. Both essays display the rhetoric of an emphatic, fragmentary and consensual dialogue between friends.
Wo der Name Johann Gottfried Herders im philosophischen Diskurs des gerade vergangenen Jahrhunderts überhaupt eine Rolle spielt, da figuriert er zumeist in der Rolle des großen, wenngleich unsystematischen Anregers bedeutender Diskurse der modernen Philosophie: der Geschichts- und der Sprachphilosophie ebenso wie der Philosophischen Anthropologie. Als dem "Bahnbrecher des Historismus" (Friedrich Meinecke) scheint ihm der Zutritt zu einem anderen Diskurs indes prinzipiell verwehrt: zu jenem der Utopie. Sogar Ernst Bloch, der seinen eigenen Entwurf im Horizont einer Geschichte des utopischen Denkens entfaltet, behandelt ihn lediglich am Rande; immerhin wird die Ode "Genius der Zukunft" anzitiert. Einer der wichtigsten Beiträge der neueren Forschung, Ralf Simons herausragende Studie zum Gedächtnisbegriff Herders, weist diesem sogar die Position eines Posthistoristen zu. [...]
Ich will hier nun nicht in eine systematische Auseinandersetzung mit Simons verkürzender Argumentation eintreten; vielmehr soll mir diese erst jüngst geäußerte These zum Anlaß und Ausgangspunkt meines eigenen Versuches dienen, den Namen Herders in den Utopie-Diskurs einzuschreiben und aufzuzeigen, daß im Grunde sämtliche Bereiche seines Denkens, die Geschichts- und Sprachphilosophie wie auch die Studien zur Ästhetik und schließlich seine Tätigkeit als Anthologe, allesamt Aspekte eines prinzipiell zukunftsgerichteten Denkens darstellen. Das Motiv für diesen Versuch ist zunächst dasjenige, historische Gerechtigkeit zu üben; die Frage, ob und inwieweit Herders Denken heute Anknüpfungspunkte bietet, um über das Thema Utopie neu nachzudenken und dem allgemeinen Konjunkturverlust dieses Diskurses entgegenzutreten, muß leider unberührt bleiben, denn schon die Sichtung der utopischen Intention seines Denkens kann hier nur in einem ersten Aufriß geschehen.
Die vielleicht bewegendste literarische Lebensgeschichte des 18. Jahrhunderts, Karl Philipp Moritz’ Anton Reiser (1785-1790), ist ein in vieler Hinsicht hybrider Text. Weder Liebes-, Familien- noch Bekehrungsgeschichte erzählt sie den ins Leere laufenden Bildungsweg eines Melancholikers. Eingeschrieben ist ihr eine Lektüre- und Autorbiographie, in der Lesenlernen und die Initiation in die Bücherwelt eine Schlüsselfunktion haben. Daß meine Darstellung dieser Initiation in einen so breiten Rahmen eingelassen ist, muß begründet werden. Er soll zeigen, wie die in den Vorreden geforderte Aufmerksamkeit für alltägliche Details über die Ordnung des Erzählens generiert wird; und zwar eines Erzählens, das Kontexten auf der Spur ist. Interessiert hat mich sowohl die Deskription wie auch die Konstruktion dieser Geschichte, und so ist mein Beitrag auf den Umfang von zweien angewachsen...