BDSL-Klassifikation: 01.00.00 Allgemeine deutsche Sprach- und Literaturwissenschaft > 01.08.00 Zu einzelnen Germanisten, Literaturtheoretikern und Essayisten
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Philosophieren heißt überleben lernen. Ursprünglich schien das Gegenteil der Fall. Bei den Stoikern hieß philosophieren sterben lernen. Doch auch sterben lernen hieß natürlich überleben lernen. Die stoische Einübung in den Tod war letztlich eine Entmächtigungsstrategie, mit der die überwältigenden täglichen Ängste in Bann gehalten werden sollten - eine elitäre, weil intellektuelle Strategie, denn sie setzte darauf, - vermeintliche - Fehlurteile zu entlarven. Wer sich vor dem Sterben fürchtet, erliegt, so die Logik dieser Philosophie, nur einer falschen Einschätzung dessen, was wirklich furchtbar und fürchtenswert ist. Hans Blumenberg hat das Ensemble der Mächte, die uns in Furcht schlagen, unter den Sammelbegriff eines "Absolutismus der Wirklichkeit" gebracht. Damit meinte er schon die archaische Situation, in der "der Mensch die Bedingungen seiner Existenz annähernd nicht in der Hand hatte und, was wichtiger ist, schlechthin nicht in seiner Hand glaubte. Er mag sich früher oder später diesen Sachverhalt der Übermächtigkeit des jeweils Anderen durch die Annahme von Übermächten gedeutet haben." Es geht dabei um die Umwandlung von Angst in Furcht, also von einem unspezifischen Ohnmachtsgefühl angesichts der Vielzahl von Bedrohungen, die oft auch nicht versteh- und erklärbar sind, in eine durchschaubare Macht, der das Übel zugeschrieben und die so auch ein Stück weit gebannt werden kann. Auch wenn der Mensch keine Waffe gegen die wirkliche Gefahr in Händen hält, so glaubt er es doch zumindest und wird durch diese Waffe handlungs- und überlebensfähig - ein, wenn man so will, narratives Placebo. Vorgeschobene imaginative Instanzen sind für Blumenberg, was der Lebensangst abhilft.
Daniel Weidner untersucht die (als 'absolut' begriffene) Metapher der Welt im Werk Hans Blumenbergs und wirft in enger Auseinandersetzung mit der phänomenologischen Tradition die Frage auf, ob 'Welt' im Plural überhaupt noch eine Ganzheit meinen könne. Der philosophische Zugriff auf die 'Welt' oder auf 'Welten' - ähnliches gelte mit Blick auf Blumenberg vornehmlich für den 'Horizont' - gestalte sich insofern als schwierig, als sie auf Gegenstandsebene immer implikativ bleiben müsse. Diesem Problem begegne Blumenberg mit der Ausgestaltung vierer historischer Wirklichkeitsbegriffe, die die 'Welt' in einer "Spannung von Evidenz und Mitpräsenz, von Intention und Erfüllung" situierten, und zwar als Anschauung (in der Antike), als Offenbarungsmitteilung (im Mittelalter), als sukzessive sich entfaltende "Verläßlichkeit" (in der Neuzeit) oder als Widerstand. Letzteres scheint vornehmlich für die Moderne zu gelten, der Welt und Wirklichkeit oft als ein "ganz und gar Unverfügbares" erschienen. Anschließend beleuchtet Weidner die unterschiedlichen Vorstellungen von Kunst, die Blumenberg diesen Modellen von Welt und Wirklichkeit attribuiert. Die von Blumenberg dem Roman als "formale Totalstruktur" zugeschriebene "Welthaltigkeit" entspreche dem Wirklichkeitsbegriff der Neuzeit. Durchaus also würden Wirklichkeit oder Welt Blumenberg zufolge in der Kunst tentativ erfahrbar; dies jedoch gerade nicht im Sinn der einen Totalität des vollkommenen Kunstwerks, wie es die idealistische Ästhetik in der Regel suggerierte.
Vorahmung
(2018)
Unter dem Eintrag 'ahmen' vermerkt das Campe'sche "Wörterbuch der Deutschen Sprache" von 1807: Das Wort gebe es zwar nicht, doch es müsse einmal geläufig gewesen sein und so etwas wie "thun, verrichten, handeln" bedeutet haben - diesen Rückschluss lasse das noch lebendige 'nachahmen' zu und möglicherweise auch die 'Ameise'. Campe plädiert nicht nur dafür, das verlorene 'ahmen' wieder einzuführen, er möchte insbesondere zu der Neubildung 'vorahmen' anregen. Von gleicher Machart wie sein begriffliches Gegenstück, das Nachahmen, werde sich das Wort schnell einbürgern und hätte den unschätzbaren Vorteil, dass man in betreffenden Kontexten nicht länger auf Fremdworte wie 'Original' und 'originell' zurückgreifen müsse. Das Kompositum 'Vorahmung' erscheint seinerseits eher fremdartig, als Hans Blumenberg es genau 150 Jahre später in seinem Aufsatz zur "Nachahmung der Natur" aufnimmt. Auch im Jahr 1957 ist das Wort keineswegs gängig, dank seiner einfachen Form aber auch nicht unverständlich. Es ist vielmehr unselbstverständlich, d. h. im basalen Sinn fragwürdig.
In einem berühmten Brief an Ferdinand Tönnies vom 19. Februar 1909 hat Max Weber von sich gesagt, er sei "religiös unmusikalisch", eine Wendung, die auf dezente Weise den modernen Agnostizimus zu einer Sache der Veranlagung macht, einer fehlenden Disposition, die nicht zu besitzen, kaum jemanden mit Genugtuung erfüllen dürfte. Unschwer erinnert sich der Leser Webers des unverhohlenen Pathos, mit dem der Soziologe in einigen der viel zitierten Passagen seines Werks, am eindringlichsten vielleicht am Ende der beiden Vorträge über Wissenschaft und Politik als Beruf (1917/1919), die erhabene Größe jener religiösen Erfahrung in Erinnerung ruft, die ihm selbst – und den meisten von uns – abgeht. Die folgenden Überlegungen wenden sich einem anderen Theoretiker oder vielmehr Kritiker der Säkularisierung zu, Hans Blumenberg, und dem, was man seine unerwartete religiöse Musikalität nennen könnte. Sie kommt zum Ausdruck in einem Buch, das den Titel "Matthäuspassion" trägt und in dem es sowohl um das gleichnamige Evangelium geht als auch um seine Aufnahme und Transformation in Johann Sebastian Bachs Passionsoratorium. Ich möchte mit einer kurzen Charakterisierung der augenscheinlichen Widersprüche dieses Buchs beginnen, um dann zu umreißen, was Blumenberg den "Tenor" seiner Theologie nennt. Den Sinn dieses Tenors versuche ich im Anschluss zu erläutern, indem ich Blumenbergs eigenwillige Relektüre der Matthäuspassion weniger als Provokation jener theologischen Ansätze auffasse, gegen die er in dem Buch fortlaufend polemisiert, sondern vielmehr indem ich seine Geschichte von der "Weltverstrickung Gottes" in Bezug setze zum theologischen Absolutismus des spätmittelalterlichen Nominalismus, der so entscheidend für Blumenbergs Interpretation der Legitimität der Neuzeit sein sollte. Abschließend soll ein Blick geworfen werden auf die Besonderheiten von Bachs Matthäuspassion, die Blumenberg meines Erachtens übersieht und die seiner eigenen Betrachtungsweise teils widersprechen, diese aber auch teils erklären.
Säkularisierung
(2014)
Blumenbergs Kritik an der Kategorie der Säkularisierung hat schon zu Lebzeiten große Aufmerksamkeit erfahren und wird bis heute mit seinem Namen verbunden. Sie betrifft verschiedene für Blumenbergs Werk zentrale Problemzusammenhänge: die Deutung der Neuzeit ebenso wie die Logik historischer Entwicklungen, die Erörterung rhetorischer Funktionen von Theorie ebenso wie die Selbstbehauptung gegen den theologischen Absolutismus. Im weiteren Sinn steht Blumenbergs Krititk der Säkularisierung dabei im Kontext der in der Forschung höchst kontrovers diskutierten Frage, welche Bedeutung seiner gleichermaßen konstanten wie kritischen Bezugnahme auf die religiöse Tradition und auf theologische Diskurse für sein Denken zukommt.
Als der Positivismus auf allen Fronten, insbesondere derjenigen der 'harten' Wissenschaften wie Physik und Mathematik, in die berühmte Grundlagenkrise geraten war, richtete sich das Interesse der Kulturwissenschaften am Anfang des 20. Jahrhunderts auf eine Neubestimmung von Natur und Geist. Der geheime Fluchtpunkt, das flüssige Substrat dieser sehr heterogenen intellektuellen Anstrengungen hieß damals häufig: Leben. Im Sog solcher Strömungen gelangte auch Goethes Metamorphosen-Lehre zu neuer Geltung. Nach Jahrzehnten der Latenz und Ridikülisierung durch Haeckels 1866 erschienene 'Generelle Morphologie der Organismen' in Zusammenhang mit Darwin gebracht und deszendenztheoretisch aktualisiert, begann die Metamorphose nach der Jahrhundertwende in zahlreichen anderen und keineswegs nur monistischen Zusammenhängen nachgerade zu wuchern: bei Kulturwissenschaftlern wie Simmel und Cassirer, in der idealistischen Biologie, bei rationalitätskritischen Lebensphilosophen wie Spengler und Klages, unter Kunst- und später Literaturwissenschaftlern wie Worringer, Wölfflin, Walzel, Jolles, Günther Müller, bei Künstlern wie Rilke, Einstein und Kafka. In einem Kapitel mit der Überschrift "Zur ideologischen Morphologie der literarischen Bestiae" nahm Franz Bleis 1922 erschienenes 'Bestiarium der Modernen Literatur' die Morphologie-Mode bereits satirisch-kritisch in den Blick.
Ende
(2014)
Das Ende ist einer der Orte, an denen sich bei Blumenberg verschiedenen Argumente und Diskurse auf höchst spannungsreiche Weise verbinden und an denen sich daher zeigen lässt, dass sein Denken nicht in der einen oder anderen These aufgeht, sondern gerade auf die Verbindung abzielt. Wenn er etwa einmal seinen eigenen Ansatz als "Phänomenologie der Geschichte" charakterisiert, so zeigt die Frage nach dem - zugleich denknotwendigen und unzugänglichen - Ende der Geschichte, wie wenig selbstverständlich jene Zusammensetzung von Phänomenologie einerseits, Geschichte andererseits ist. Sie impliziert nicht nur, auch nach dem Ende der Geschichtsphilosophie über das Ganze der Geschichte nachzudenken, sondern emphatisiert auch die Erinnerung als die zentrale Fähigkeit, mit der eigenen Endlichkeit umzugehen.
In seinen "Paradigmen zu einer Metaphorologie" übertrug Hans Blumenberg den Begriff 'Halbzeug' aus dem Bereich der industriellen in den der philosophischen Produktion und stiftete so eine Metapher für die vorläufigen, nicht vollends durchgearbeiteten Stadien der Text- und Gedankengenese. Denn Halbzeuge sind ihrem Begriff nach vorgefertigte Rohmaterialformen, Werkstücke oder Halbfabrikate einfachster Form, die kein Rohstoff mehr sind, zum fertigen Produkt aber erst noch weiterverarbeitet werden müssen. Ob tatsächlich die "Paradigmen" selbst, wie Blumenberg nahelegte, in diesem Sinne als philosophisches Halbzeug verstanden werden müssen, soll hier nicht Thema sein. Christian Voller geht es vielmehr darum, die Reichweite der Metapher anhand Blumenbergs eigener philosophisch-literarischen Arbeitsweise zu erproben. Dabei denkt er insbesondere an jenen Zettelkasten, der bekanntlich ein elementarer Bestandteil dieser Arbeitsweise gewesen ist.