BDSL-Klassifikation: 01.00.00 Allgemeine deutsche Sprach- und Literaturwissenschaft > 01.08.00 Zu einzelnen Germanisten, Literaturtheoretikern und Essayisten
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Rezension zu Karl August Varnhagen von Ense/Heinrich Düntzer: "durch Neigung und Eifer dem Goethe'schen Lebenskreis angehören": Briefwechsel 1842-1858. Herausgegeben von Berdt Tilp. Teil 1: Einführung und Text. Teil 2: Kommentar (Forschungen zum Junghegelianismus, hrsg. v. Konrad
Feilchenfeldt und Lars Lambrecht, Band 7), Peter Lang Europäischer Verlag der Wissenschaften, Frankfurt/Main 2002
Rezension zu Julia von Rosen: Kulturtransfer als Diskurstransformation. Die Kantische Ästhetik in der Interpretation Mme de Staëls, Heidelberg (Winter) 2004. 306 Seiten.
Es wäre schwer und womöglich müßig zu entscheiden, welches Kapitel in Madame de Staëls kulturgeschichtlich so überaus wichtigem Werk 'De l'Allemagne', mit dem sie in übergreifenden Betrachtungen und vielen Einzelportraits die Tendenzen der deutschen Literatur und Philosophie zwischen 1750 und 1810 international bekannt machte, den größten Einfluß entfaltet hat. Als das Buch, durch die napoleonische Zensur sowohl behindert als auch im Hinblick auf sein Prestige gewaltig aufgewertet, 1813 zunächst in London und nach dem Sturz des Kaisers 1814 in Paris erschien, wurden innerhalb weniger Wochen in ganz Europa 70.000 Exemplare verkauft; bis 1870 kam es auf 15 Auflagen. Das Werk prägte das Deutschlandbild nicht nur mehrerer Generationen von Franzosen, sondern, da es in zahlreiche Sprachen übersetzt wurde, auch vieler Intellektueller in der ganzen Welt. Der im Frühjahr 2004 erschienene, von Udo Schöning und Frank Seemann herausgegebene Sammelband 'Madame de Staël und die Internationalität der Romantik' hat das zuletzt mit Beiträgen etwa zur russischen, britischen, nord- und südamerikanischen, aber auch zur polnischen oder portugiesischen Wirkungsgeschichte eindrucksvoll gezeigt.
Rezension zu Sigrid Weigel: Literatur als Voraussetzung der Kulturgeschichte. Schauplätze von Shakespeare bis Benjamin, München (Wilhelm Fink) 2004. 306 Seiten.
Vergangene Bedeutung von Wörtern gewinnt einen geheimnisvollen Glanz, wenn sie vom Staub des Vergessens befreit wird. Daß Theorie und Schauplatz eine gemeinsame Wortgeschichte haben, bildet die Grundlage für den Titel des Buches von Sigrid Weigel, in dem die "Szenarien der Kulturgeschichte" gezeigt, die "Gemeinsamkeiten von Anschauung und Denken, von Bild und Begriff, von Kunst und Wissen" (7) erinnert werden.
Barthes' Benjamin-Rezeption soll in einem ersten komparatistisch-dokumentarischen Teil genauer erfasst werden, indem die photographischen Illustrationen in der 'Literarischen Welt', dem 'Nouvel Observateur' und in 'La Chambre claire' gegenübergestellt und die Photographie-Zitate identifiziert werden. Als Zweites werden weitere mögliche Rezeptionswege zwischen Benjamin und Barthes angedeutet, die im Kontext der Photographie eine Rolle gespielt haben könnten. Dem wird drittens ein analytisch ausgerichteter Teil folgen, in dem problematisiert werden soll, inwiefern der theoretische Gegenstand selbst, d.h. die Photographie, als visuelles Bindeglied zwischen Benjamin und Barthes fungiert und auf welche Weise die Photographie-Zitate mit einigen Scharnierstellen in der Photographie-theoretischen Argumentation insbesondere bei Barthes zusammenhängen. Abschließend soll untersucht werden, inwiefern Barthes’ spezifische Zitierpraxis mit Benjamins eigener Zitier-, Montage- und Sammlerpraxis verwandt ist, inwiefern dadurch die Photographien "zu ihrem Rechte kommen" (GS V, 574) und inwiefern schließlich Rezeptionsgeschichte im Sinne von Benjamins Geschichtsverständnis exemplarisch zur Anschauung kommt.
In seiner Rezension zur Kritischen Ausgabe der 'Einbahnstraße' schreibt Lorenz Jäger in der 'Frankfurter Allgemeinen Zeitung' vom 11.3.2010: "Zwischen Moskau und Paris liegt der geographische Raum dieses Buches, auch nach Süden hin ist er offen." Tatsächlich spielt der Süden Europas im Leben und Werk Benjamins eine wichtige Rolle. In Italien und Spanien hat er nicht nur längere Phasen seines Lebens verbracht, sondern bekanntlich auch zentrale, seine intellektuelle Entwicklung prägende Zäsuren erlebt. Seine autobiographischen Texte, Reisebilder und die Besprechungen einschlägiger Werke zur Kultur und Landschaft Südeuropas geben davon ein eindrucksvolles Zeugnis. Hinsichtlich der Rezeption der romanischen Literatur im engeren Sinn wird man aber von einer eher schmalen Tür nach Süden sprechen müssen, jedenfalls gemessen an den breiten Toren, die nach Westen in Richtung Frankreich bzw. nach Osten zur russischen Literatur führen. Gewiss, Benjamin kannte die italienischen Klassiker Dante, Petrarca, Boccaccio, Aretino oder Marsilio Ficino, aber sehr tiefe Spuren haben sie in seinem Werk nicht hinterlassen. Etwas anders sieht es bei den großen Autoren des spanischen 'Siglo de Oro' aus. Mit Cervantes als Erzähler, vor allem aber mit dem "Handorakel" von Baltasar Gracián und den Trauerspielen Calderons hat er sich seit den 1920er Jahren wiederholt und intensiv auseinandergesetzt. Aber auch hier fehlt, sieht man von der kurzen Rezension des spanischen Surrealisten Ramón Gómez de la Serna ab, jede nähere Beschäftigung mit bedeutenden Autoren des 19. und 20. Jahrhunderts. Umso auffälliger ist vor diesem Hintergrund das Interesse, das Benjamin dem italienischen Dichter, Philologen, Essayisten und großen Aphoristiker Giacomo Leopardi (1798–1837) entgegengebracht hat. Es findet seinen deutlichsten Niederschlag in der Rezension einer deutschen Übersetzung von Leopardis 'Pensieri', die im Frühjahr 1928 geschrieben wurde und in der 'Literarischen Welt' vom 18.3.1928 erschienen ist. Größere Aufmerksamkeit hat diese Besprechung nicht gefunden. Bekannter ist der sich daran anschließende, zwei Monate später an gleicher Stelle publizierte Disput mit dem Übersetzer Richard Peters, der dem Kritiker Gelegenheit gab, zu grundsätzlichen Fragen der Übersetzungstheorie Stellung zu nehmen (WuN XIII, 144–147). Dagegen wurde die Verbindung zwischen Benjamin und Leopardi bislang in der Forschung von keiner Seite thematisiert.
Im Geleitwort zu Ralph Stöwers Bonner Dissertation von 2009 ‚Erich Rothacker. Sein Leben und seine Wissenschaft vom Menschen‘ erklärt der Psychologie-Historiker Georg Rudinger über den Stand der Rothacker-Forschung: "Was in Sachen Rothacker vor allem zu tun bleibt, ist eine intensivere Geschichte seiner Rezeption"; und er fügt folgende These hinzu: "Die Geschichte der Nichtrezeption ist hier ähnlich interessant wie die der Rezeption." Mein Beitrag greift diese zweite Aussage auf und zeigt erstens, inwiefern tatsächlich von einer Nichtrezeption Rothackers gesprochen werden kann, und zweitens, was diese Nichtrezeption über das deutsche theoretische Feld der unmittelbaren Nachkriegszeit und über die Position Rothackers innerhalb desselben offenbart.
Der vorliegende Band trägt den Titel "Freuds Referenzen", da wir das Spannungsfeld, das die Bedeutung von Referenz ausmacht, geeignet fanden, um Freuds Bezüge, wie die Bezüge auf Freud zu thematisieren: Referenz lässt sich mit "Bericht" oder "Auskunft "übersetzen. Der Bedeutungsumfang des lateinischen Verbs "referre", von dem Referenz abgeleitet ist, ist hingegen breiter: von "berichten" über "sich auf etwas beziehen", "auf etwas zurück führen" bis "etwas zurück tragen" reicht das Spektrum der Bedeutung. Damit scheint mit dem Sprechen von der Referenz und mit dem damit aufgerufenen Bedeutungsfeld die Dynamik der Bezüge Freuds und der Bezüge auf die Psychoanalyse auf.
Dezember 1925, Staatsoper Unter den Linden Berlin: Zwei Tage vor Weihnachten besuchen Theodor W. Adorno und Walter Benjamin die erste auf die aufsehenerregende Uraufführung folgende Vorstellung von Alban Bergs Oper Wozzeck: Es dirigiert Erich Kleiber, die Hauptpartien singen Leo Schützendorf, Fritz Soot und Sigrid Johanson. Nicht nur auf den 'Expertenhörer' Adorno - der in einem an seinen Kompositionslehrer übermittelten Bericht sowohl Benjamins Bestimmung des "Ausdruckslosen" aufgreift, als auch dessen physische Präsenz erwähnt - hinterlässt die Musik einen bleibenden Eindruck. Benjamin erinnert sich dieser Aufführung noch zehn Jahre später in einem seiner Briefe an Adorno und bekennt nach der Lektüre von dessen Berg-Analysen, "dass der überwältigende Eindruck, kraft dessen mich der Wozzeck an jenem Abend gefangen nahm, das Signal eines mir unbewussten aber bis ins einzelne nennbaren Betroffenseins gewesen ist". Von der geschichtsphilosophischen Einordnung der Berg'schen Musik, welche "wie die gleichsam namenlose technische Arbeit des Schülers Schönbergs die Tradition des 19ten Jahrhunderts im Namen des Musikers zur Ruhe geleitet und ihren eigenen Klagegesang anstimmen lässt", führt Benjamin sich dann sogar versucht, den "Begriff des 'kleinen Übergangs' [...] der Kompositionslehre abzuborgen (GB V, 565). Im Gegensatz zu Adorno wird Walter Benjamins Theorie jedoch kaum mit Musik in Verbindung gebracht, sondern vor allem für ihr Bilddenken geschätzt. Auch wenn im 'Ursprung des Deutschen Trauerspiels', in den Erinnerungsszenen der 'Berliner Kindheit', den Häuser- und Gedankenschluchten der 'Passagenarbeit' und nicht zuletzt in seinem Briefwechsel durchaus von Musik die Rede ist, rücken Klänge seltener in den Mittelpunkt seiner Schriften und sind in der Rezeption bisher auch weniger beachtet worden. Ohnedies wird derjenige enttäuscht, der gerade von Benjamin - so reizvoll es sein mag, sich solchen Gegenständen widmende Essays zu imaginieren - die Exegese des gängigen musikalischen Kanons erwartet: Keine Abhandlung zu Schuberts Streichquintett schließt an die Interpretation der 'Wahlverwandschaften' an und ebenso vergeblich sucht man nach die Erwägungen zum Trauerspiel auf die Affektkontrolle der 'opera seria' oder die des Kraus-Essays auf die Musik des 'Fackel'-Habitués Arnold Schönberg übertragenden Arbeiten. Dennoch kommt Musik, Klage und Tönen in Benjamins Reflexionen eine nicht unerhebliche Bedeutung zu. Selten drängen sie sich lautstark in den Vordergrund, erlauben aber - zumal in einer Zeit, in der auch die professionelle Auseinandersetzung mit Musik die ideale Beständigkeit musikalischer Werke und ihrer Texte zunehmend in Zweifel zieht - theoretische Einsichten, über die das auf andere Dinge gerichtete Ohr des Experten achtlos hinweggeht. In Ergänzung zur wohlbekannten epistemischen und poetischen Rolle seiner Sprach- und Denkbilder unternimmt dieser Band den ersten systematisch angelegten Versuch, sowohl den kultur- und medienhistorischen Zusammenhängen von Benjamins akustischen Motiven nachzugehen als auch ihre ästhetische Relevanz für die gegenwärtige Produktion und Reproduktion von Klängen zu reflektieren.
Walter Benjamin hörte Karl Kraus als Vorleser bei einem von dessen Berliner Gastvorträgen im Jahr 1928. Unmittelbar danach hielt Benjamin dieses Erlebnis in dem knappen Bericht "Karl Kraus liest Offenbach" fest. Der Bericht ging später in den Essay "Karl Kraus: Allmensch – Dämon – Unmensch" ein, der in drei Teilen 1931 in der Frankfurter Zeitung erstveröffentlicht wurde. [...] Mit seinem Wissen um das performative Gesamtwerk von Kraus wusste Benjamin auch um das besondere Setting der Offenbach-Lesungen, das sich von Kraus' sonstigen Lesungen [...] unterschied: Nur bei den Lesungen aus Jacques Offenbachs Operetten trat Kraus nicht alleine auf, sondern ließ sich von einem Pianisten begleiten. Das Besondere war hier außerdem, dass Kraus nicht ausschließlich Texte sprach, sondern auch abseits der gesprochenen Dialoge, in den musikalischen Nummern des Librettos, ins Singen überging – wenn auch nur zeitweilig. Von den verschiedenen Pianisten, die mit Kraus bei seinen Offenbach-Abenden in Wien und anderen Städten zusammengearbeitet haben [...], hat sich nur Georg Knepler explizit zu Kraus' musikalischem Vermögen geäußert [...].Ebenso wie bei anderen Zeugen von Kraus' Offenbach-Vorträgen befinden sich auch in Kneplers Erinnerungen Kraus' sprecherisch-performative Eigenarten des Vortrags im Mittelpunkt – darin setzt auch sein Bericht, der vielleicht am ehesten auf die musikalische Darbietung abzielte, ähnlich anderen Zeitzeugen den Akzent jenseits der Musik.
Somit steht Walter Benjamin, indem er an Kraus' Offenbach-Vortrag [...] das Un- bzw. Übermusikalische betont, unter den Rezipienten nicht allein da. Jedoch hebt wohl kein Autor so explizit wie Benjamin darauf ab, dass es sich bei diesen Offenbach-Lesungen von Kraus um eine imaginäre, ideelle Musik, vielleicht auch um eine Musik in metaphorischem Sinn handele. "Nicht etwa sieht Benjamin den Anteil der Musik [...] bloß zurückgedrängt, sondern er erblickt sie als in etwas ganz anderes transformiert, das seinen Ort nirgends als in der Stimme des Vortragenden hat und darin mit dem gesprochenen Wort untrennbar vereinigt ist."
"Idiom", "Trauerspiel" und "Dialektik des Hörens" sind die Überschriften der drei Teile dieses Beitrages, der Benjamins Rezeption im Werk Luigi Nonos behandelt. Genauer gesagt: Es handelt sich eher um die verblüffende Konvergenz von Nonos Denken mit Benjamins Philosophie, unabhängig davon, ob, wie, wann und in welcher Breite Nono sie sich bewusst angeeignet hat. Zwischen ihnen steht ein Exkurs über die Idee des opus perfectum et absolutum und dessen Entfaltung vom 'organischen' zum 'autopoietischen' Werkbegriff, dem Nono sich widersetzt.