BDSL-Klassifikation: 01.00.00 Allgemeine deutsche Sprach- und Literaturwissenschaft > 01.08.00 Zu einzelnen Germanisten, Literaturtheoretikern und Essayisten
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Radau um K.
(2013)
Radau um K. basiert auf der einzigen der zahlreichen Radioarbeiten Walter Benjamins, die als Tondokument zumindest fragmentarisch erhalten ist: dem Hörspiel für Kinder "Radau um Kasperl" in der 1932 vom Westdeutschen Rundfunk Köln produzierten Version unter der Regie von Ernst Schoen. Durch Zufall auf das Hörspiel aufmerksam geworden, faszinierte mich beim ersten Hören gleich seine klangliche Reichhaltigkeit, die die exaltierte Schauspielsprechweise Kasperls ebenso umfasst wie Umgebungsgeräusche und zahlreiche akustische Äußerungen sowohl menschlicher (Lachen, Pfeifen) als auch tierischer Art (verschiedene Tierlaute und -rufe). Letztere sind auf den Inhalt des Hörspielausschnitts zurückzuführen; er handelt nämlich davon, wie Kasperl im Zoologischen Garten vor zwei Kindern damit prahlt, sich mit den Tieren in deren Sprache unterhalten zu können, und das auch – allerdings zunehmend unglaubwürdig – zu demonstrieren versucht. Auf spielerisch-humoristische Weise umkreist Benjamin im Medium des Rundfunks anschaulich, was ein Jahr später in seinem sprachphilosophischen Text "Über das mimetische Vermögen" zum titelgebenden Konzept und zur theoretischen Basis seiner sprachmystisch beeinflussten Auffassung wird, die Sprache als die "höchste Stufe des mimetischen Verhaltens und das vollkommenste Archiv der unsinnlichen Ähnlichkeit" (GS II, 213) begreift.
Walter Benjamin hörte Karl Kraus als Vorleser bei einem von dessen Berliner Gastvorträgen im Jahr 1928. Unmittelbar danach hielt Benjamin dieses Erlebnis in dem knappen Bericht "Karl Kraus liest Offenbach" fest. Der Bericht ging später in den Essay "Karl Kraus: Allmensch – Dämon – Unmensch" ein, der in drei Teilen 1931 in der Frankfurter Zeitung erstveröffentlicht wurde. [...] Mit seinem Wissen um das performative Gesamtwerk von Kraus wusste Benjamin auch um das besondere Setting der Offenbach-Lesungen, das sich von Kraus' sonstigen Lesungen [...] unterschied: Nur bei den Lesungen aus Jacques Offenbachs Operetten trat Kraus nicht alleine auf, sondern ließ sich von einem Pianisten begleiten. Das Besondere war hier außerdem, dass Kraus nicht ausschließlich Texte sprach, sondern auch abseits der gesprochenen Dialoge, in den musikalischen Nummern des Librettos, ins Singen überging – wenn auch nur zeitweilig. Von den verschiedenen Pianisten, die mit Kraus bei seinen Offenbach-Abenden in Wien und anderen Städten zusammengearbeitet haben [...], hat sich nur Georg Knepler explizit zu Kraus' musikalischem Vermögen geäußert [...].Ebenso wie bei anderen Zeugen von Kraus' Offenbach-Vorträgen befinden sich auch in Kneplers Erinnerungen Kraus' sprecherisch-performative Eigenarten des Vortrags im Mittelpunkt – darin setzt auch sein Bericht, der vielleicht am ehesten auf die musikalische Darbietung abzielte, ähnlich anderen Zeitzeugen den Akzent jenseits der Musik.
Somit steht Walter Benjamin, indem er an Kraus' Offenbach-Vortrag [...] das Un- bzw. Übermusikalische betont, unter den Rezipienten nicht allein da. Jedoch hebt wohl kein Autor so explizit wie Benjamin darauf ab, dass es sich bei diesen Offenbach-Lesungen von Kraus um eine imaginäre, ideelle Musik, vielleicht auch um eine Musik in metaphorischem Sinn handele. "Nicht etwa sieht Benjamin den Anteil der Musik [...] bloß zurückgedrängt, sondern er erblickt sie als in etwas ganz anderes transformiert, das seinen Ort nirgends als in der Stimme des Vortragenden hat und darin mit dem gesprochenen Wort untrennbar vereinigt ist."
Adornos Kritik an Benjamin gilt heute als geläufig und weitgehend abgearbeitet; was Benjamin zu Adorno notiert hat, ist dagegen weitgehend unbekannt, jedenfalls unbeachtet. Im einen Fall mag das Objekt, die Skizzen zum Singspiel Der Schatz des Indianer-Joe, zu weit ab vom Schuss liegen, um unter mehr als rein historischen Gesichtspunkten in actu noch ergiebig zu sein. Im Falle des Kommentars zur Wagnerschrift liegen die Dinge deutlich anders. Liefert er doch beinahe eine konzeptionelle Alternative zu dem, wie Adorno mit Wagner umgeht, überdies avant la lettre Einwände gegen jenen Theoriegestus, den Adorno kurz darauf gegenüber Benjamins erstem Essay über Baudelaire an den Tag legen zu müssen meint.
Als der Positivismus auf allen Fronten, insbesondere derjenigen der 'harten' Wissenschaften wie Physik und Mathematik, in die berühmte Grundlagenkrise geraten war, richtete sich das Interesse der Kulturwissenschaften am Anfang des 20. Jahrhunderts auf eine Neubestimmung von Natur und Geist. Der geheime Fluchtpunkt, das flüssige Substrat dieser sehr heterogenen intellektuellen Anstrengungen hieß damals häufig: Leben. Im Sog solcher Strömungen gelangte auch Goethes Metamorphosen-Lehre zu neuer Geltung. Nach Jahrzehnten der Latenz und Ridikülisierung durch Haeckels 1866 erschienene 'Generelle Morphologie der Organismen' in Zusammenhang mit Darwin gebracht und deszendenztheoretisch aktualisiert, begann die Metamorphose nach der Jahrhundertwende in zahlreichen anderen und keineswegs nur monistischen Zusammenhängen nachgerade zu wuchern: bei Kulturwissenschaftlern wie Simmel und Cassirer, in der idealistischen Biologie, bei rationalitätskritischen Lebensphilosophen wie Spengler und Klages, unter Kunst- und später Literaturwissenschaftlern wie Worringer, Wölfflin, Walzel, Jolles, Günther Müller, bei Künstlern wie Rilke, Einstein und Kafka. In einem Kapitel mit der Überschrift "Zur ideologischen Morphologie der literarischen Bestiae" nahm Franz Bleis 1922 erschienenes 'Bestiarium der Modernen Literatur' die Morphologie-Mode bereits satirisch-kritisch in den Blick.
Wem es an eigener Erfahrung oder Anschauung mangelt, der kann sich u.a. von Theweleit darüber belehren lassen, dass beim Fußball viel gelitten wird. Auch der Fan ist alles andere als ein 'standhafter Zuschauer ästhetischer Leiden', denn er leidet wahrhaftig und sozusagen leibhaft mit. Darin ist und bleibt, mit Verlaub, auch der moderne Fußball ein so archaisches Phänomen wie, sagen wir, die sophokleische Tragödie, in der auch viel gelitten wird und die auch keine Zuschauer, sondern ausschließlich Ritualteilnehmer kennt. Mit dem Leidensbegriff, den die moderne Kultur ausgebildet hat, hat der Fußball nichts zu tun, eher schon fungiert er als Gegengift für Kulturleidende. Man kann sich kaum vorstellen, dass Adorno von diesem Mittel Gebrauch gemacht haben sollte. O-Ton Youtube: "[M]an muß […] daran erinnern, daß die Menschen, die also auf dem Sportfeld zuschauen und zwar in allen Ländern […], gegen die Fremdgruppe, also gegen das ausländische Team, sich in einer Weise benehmen, die den einfachsten Anforderungen der Gastfreundschaft [...] aufs Krasseste widerspricht." Nun ja; Adorno war eben Theoretiker von "Gruppenverhalten" und als Fußball-Fan ist er so schwer vorstellbar wie als Spieler. Oder doch? Gibt es vielleicht auch bei ihm Rudimente eines Fan-Begehrens, die nicht in der Analyse von Gruppenverhalten aufgehen und theorieimmanente Selbst-Widerstände artikulieren? Dagegen spricht vorläufig die übermächtige Tradition des Leidens an der Kultur, der Adorno ganz ohne Zweifel verhaftet ist, eben weil er ihr Fan nicht sein konnte oder wollte.
Walter Benjamins Aufsatz "Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen" dient als Ausgangspunkt für mein Stück. Benjamin verbindet die Schöpfungsgeschichte der Genesis und die Geschichte des Turms von Babel, wobei er die einheitliche, reine Sprache, die vor Babel gesprochen wurde, auf den idealen Zustand im Garten Eden bezieht. Zefanjas Prophetie für das Ende aller Tage führt kreisförmig auf diesen Anfang zurück: "Dann aber will ich den Völkern reine Lippen geben, dass sie alle des HERRN Namen anrufen sollen und ihm einträchtig dienen." (Zef 3,9).
"'Ironie haben wir nicht' – rief Nannerl, die schlanke Kellnerin, die in diesem Augenblick vorbeisprang, – 'aber jedes andre Bier können Sie doch haben.' Daß Nannerl die Ironie für eine Sorte Bier gehalten", fährt Heinrich Heine im dritt en Kapitel seiner Reisebilder Von Münch en nach Genua fort, "war mir sehr leid, und damit sie sich in der Folge wenigstens keine solche Blöße mehr gebe, begann ich folgendermaßen zu dozieren: 'Schönes Nannerl, die Ironie iska Bier, sondern eine Erfindung der Berliner, der klügsten Leute von der Welt, die sich sehr ärgerten, daß sie zu spät auf die Welt gekommen sind, um das Pulver erfinden zu können, und die deshalb eine Erfindung zu machen suchten, die ebenso wichtig und eben denjenigen, die das Pulver nicht erfunden haben, sehr nützlich ist.'" Die Erfindung, die Heine hier anspricht, soll ein Mittel sein, das es erlaubt, Dummheit in Ironie zu verwandeln. In diesem Zusammenhang entfaltet Heine eine fiktive Genealogie der Dummheit, gefolgt von einer Genealogie der Strategien, wie sich Dummheit verhindern lässt – beides mit unverkennbar polemischem Unterton […]. Hatte man zunächst den Eindruck , das "rück wirkende Mittel", von dem Heine sprich t, sei ein Pharmakon, vielleicht auch eine Art Pulver, mit dem man die Dummheit wie eine lästige Migräne-Attacke neutralisieren kann, wird kurz darauf deutlich , dass das 'ganz einfache Mittel', das Heine im Sinn hat, ein sprachliches ist: Anstelle des Pulvers hat man in Berlin einen Sprechakt erfunden, mit dem sich jede Dummheit in Weisheit umgestalten lässt. Genau genommen handelt es sich bei diesem Sprechakt um ein Deklarativ. Deklarative Sprechakte begegnen uns häufig in der Kirche und im Krieg. So, wenn ein Priester sagt, "hiermit erkläre ich Euch zu Mann und Frau", oder wenn ein Präsident einem anderen Land den Krieg erklärt. […] Damit derartige deklarative Sprechakte gelingen, muss man – das gilt für alle bisher genannten Fälle – ein gewisses Maß an institutioneller Rückendeckung respektive ein gewisses Maß an Souveränität haben.
"Idiom", "Trauerspiel" und "Dialektik des Hörens" sind die Überschriften der drei Teile dieses Beitrages, der Benjamins Rezeption im Werk Luigi Nonos behandelt. Genauer gesagt: Es handelt sich eher um die verblüffende Konvergenz von Nonos Denken mit Benjamins Philosophie, unabhängig davon, ob, wie, wann und in welcher Breite Nono sie sich bewusst angeeignet hat. Zwischen ihnen steht ein Exkurs über die Idee des opus perfectum et absolutum und dessen Entfaltung vom 'organischen' zum 'autopoietischen' Werkbegriff, dem Nono sich widersetzt.
Fieber
(2013)
In diesem Stück habe ich mich mit dem Fragment "Das Fieber" aus der Berliner Kindheit um neunzehnhundert befasst, in dem Benjamin literarisch u. a. die Entfremdung des Ichs vom eigenen kranken Körper zu vermitteln versucht. Mich hat gereizt, Begriffe wie Dissoziation und Mimesis, die beide, ohne genannt zu werden, eine zentrale Rolle in diesem Text spielen, auf eine musikalische Ebene zu übertragen. Anstelle des menschlichen Körpers arbeite ich mit der Anatomie des Ensembles, dessen Identität sich im Fluss befindet.
In Benjamins Berliner Kindheit um neunzehnhundert zitiert das Sich-Erinnern an Erfahrenes häufig sensorische Qualitäten herbei. In der vorliegenden Abhandlung möchte ich die Schilderung der Farben- und Klangräume in der Weise beleuchten, wie sie die Erfahrungswelt der Kindheit mitprägten. Ferner möchte ich untersuchen, wie diese in die Erinnerung überführt und dort zusammengefügt wurden. Des Weiteren habe ich die Absicht, der Frage nachzugehen, in welcher Weise diese Erfahrungsregister an der Realisierung der Vergangenheit in der Erinnerung mitwirkten. Demnach werde ich versuchen, erstens spezifische Textmomente zu interpretieren, in denen die Überführung von Farben und Klängen in die Erinnerung wesentlich ist, und zweitens zu ergründen, inwiefern für Benjamin solche Momente Allegorien der Erinnerung darstellen.