BDSL-Klassifikation: 01.00.00 Allgemeine deutsche Sprach- und Literaturwissenschaft > 01.08.00 Zu einzelnen Germanisten, Literaturtheoretikern und Essayisten
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Gestalt
(2022)
Das Bedeutungsspektrum von 'Gestalt', diesem Inbegriff eines Abgeschlossenen, in sich Gegliederten, aber nur als Ganzes Wahrnehmbaren, ist um 1800 noch erstaunlich breit.[...] Auch den 1890 vom Gestalttheoretiker Christian von Ehrenfels fixierten "Gestaltqualitäten", zu denen vor allem gehört, dass eine Gestalt die Summe ihrer Teile übersteigt, kommt um 1800 noch keine privilegierte Stellung zu. Während das "Historische Wörterbuch der Philosophie" für jene Zeit zwar auch ein Dutzend Spezifikationen verzeichnet, 'Gestalt' aber exklusiv als ästhetischen und psychologischen Grundbegriff ausweist, hat Dagmar Buchwald in ihrem Eintrag für die "Ästhetischen Grundbegriffe" darauf hingewiesen, dass Gestalt in der mechanistischen Festkörperphysik der Zeit als Prädikat der 'res extensa' zu deren messbaren Attributen hinzutritt, ohne aber "in den Rang eines Standards" aufzusteigen. Die Differenz zwischen diesem und dem idealistisch überhöhten Gestaltbegriff "ist der Goethe-Zeit eingeschrieben", bezeichnet also ein Spannungsfeld, das erst später und besonders in der Zwischenkriegszeit den exklusiven Ganzheitsansprüchen der Gestalt weicht. [...]
Dagmar Buchwald zufolge "läßt sich die Geschichte des Begriffs Gestalt auch als Warnung vor einem 'Kult' um die Gestalt lesen." Das bedeutet im Umkehrschluss, dass ein Kult um die Gestalt einer begriffshistorischen - wie überhaupt einer begrifflichen - Reflexion der Gestalt abträglich bleibt. Für eine Konkurrenz zwischen Kult und Begriffsschärfe sind die wissenschaftlichen Überlegungen, die in den 1910er und 1920er Jahren im Umfeld Stefan Georges zum Phänomen der Gestalt angestellt wurden, aufschlussreich und symptomatisch in einem. 1911 von dem Historiker Friedrich Wolters im "Jahrbuch für die geistige Bewegung" programmatisch lanciert, treibt die Gestalt bald in den germanistischen Schriften Friedrich Gundolfs und später auch Max Kommerells ihre Blüten. [...]
"Das Ganze ist etwas anderes als die Summe seiner Teile" - dieser Satz, eine stark verkürzte Passage aus Aristoteles' "Metaphysik", wird wie wohl kaum ein zweiter mit der Gestaltpsychologie assoziiert. Ähnlich hartnäckig mit ihr in Verbindung gebracht werden allenfalls noch 'Kippfiguren', also visuelle Reize, die abwechselnd mindestens zwei einander ausschließende Gesamteindrücke provozieren. In dieser assoziativen Verkürzung mag Gestaltpsychologie wenig konturiert oder banal anmuten, weil darin ihre historische Entstehungssituation und damit ihr radikaler, epochemachender Perspektiv wechsel unterschlagen wird. [...]
Die Tradition des Gestaltbegriffs, von Goethe bis zur Gestaltpsychologie, lässt sich der breiteren philosophischen Grundausrichtung des Holismus zuordnen, dessen Widerpart ist der Atomismus. Diese Differenz wird im 20. und beginnenden 21. Jahrhundert dort problematisch, wo holistische Gegenstandsfelder in atomistisch operierende technische Systeme umgesetzt oder durch sie simuliert werden sollen. Nirgends zeigt sich der Zusammenstoß beider Paradigmen besser als in der fortdauernden Auseinandersetzung um die Begriffe und Vorgehensweisen zweier der jüngsten Disziplinen des letzten Jahrhunderts, der Informatik und der Kognitions- bzw. Neurowissenschaft. Dieses Spannungsverhältnis wird vor allem am Forschungsdiskurs um die Künstliche Intelligenz (KI) seit den 1940er Jahren deutlich, der hier nachgezeichnet werden soll.
Mattia Luigi Pozzi liefert aus philosophiegeschichtlicher Perspektive einen Überblick über "Die Rezeption Stirners in Italien (1850-1920)". Pozzi kann zeigen, dass die Auseinandersetzung mit dem deutschen Denker eng verbunden ist mit der Ablehnung der Hegelschen Philosophie und eine starke Selbstreflexion der italienischen Zeitgenossen bewirkt. Kritik an Stirner und gleichzeitig eine starke Faszination durch dessen Theorien entwickeln sich im postrisorgimentalen Italien durch die Schlagworte Anarchismus und Individualismus. Diese werden immer wieder in Diskussionen von Schriften Stirners diskutiert. Pozzi kann zeigen, dass und wie sich die Stirner-Rezeption bis ins 20. Jahrhundert ununterbrochen fortsetzt. Sie wird auch für das Denken Benito Musselinis einflussreich.
Die Italien-Artikel von Friedrich Engels im Revolutionsjahr 1848/49 in der Neuen Rheinischen Zeitung
(2022)
François Melis widmet sich den politischen Entwicklungen in Italien: "Die Italien-Artikel von Friedrich Engels im Revolutionsjahr 1848/49 in der Neuen Rheinischen Zeitung" sind das Thema seines Beitrages, der sowohl die Veröffentlichungs- und Rezeptionsgeschichte von Engels' Italienberichten als auch den Stellenwert der italienischen Revolution von 1848/49 in Marx' und Engels' Denken skizziert. Diese Revolution wird auch in die Geschichte europäischer Demokratiebewegungen einbezogen. Zudem zeichnet Melis Parallelen zwischen Italien und den deutschen Ländern aus der Perspektive v. a. Engels' nach und analysiert dessen Darstellungsschwerpunkte. Aufschlussreich sind Engels' Italien-Artikel auch noch aus einem weiteren Grund: Sie lassen Engels' Arbeitsweise, seinen Umgang mit Quellen, Informationen und journalistischen Genres, erkennbar werden.
Während alle vom Klima sprechen, scheint mit dem Anbruch des Anthropozäns die Zeit der Natur passé. Doch ohne den Begriff der Natur wäre ein Großteil der modernen Philosophie nicht zu denken. Hanna Hamel vermittelt in ihrer Studie zwischen historischen Positionen des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts und ökologischen Theorien der Gegenwart. Ihre Lektüre ausgewählter Texte von Kant, Herder und Goethe entwickelt Grundzüge eines historisch-theoretischen Selbstverständnisses, das über die bloße Abgrenzung von "modernen" Naturkonzepten hinausführt. In der Konfrontation mit aktuellen Reflexionen von Bruno Latour, Timothy Morton und David Lynch wird ein Anliegen erkennbar, das alle Positionen verbindet. Mit Goethe lässt es sich als Darstellung und Theoretisierung "übergänglicher" Natur bezeichnen. Die historischen Texte werden zu einer kritischen Ressource für die Gegenwart.
Mit der Verzeitlichung und Dynamisierung der Geschichte der Moderne geht die Proliferation von Epochenkonstruktionen einher, in denen das Verhältnis der Gegenwart zu Vergangenheit und Zukunft jeweils neu verhandelt wird. Unter dieser Perspektive rückt der Literatur- und Kulturwissenschaftler Daniel Weidner (Universität Halle) den Begriff der Tradition ins Blickfeld. Ausgehend von einem Resümee von Arbeiten zu dessen Erforschung, die zeigen, wie höchst fragil und vieldeutig der Begriff der Tradition in der Moderne ist, plädiert Weidner für eine metaphorische Perspektive, die er am Beispiel einiger Autoren exemplarisch entwickelt. Dabei geht es um die unbegriffliche und figurale Funktion von 'Tradition', also darum, die Bedeutungs- und Diskursverschiebungen sichtbar zu machen, die sich im Wechsel der Parallel- und Leitbegriffe (statt Tradition zum Beispiel auch Geschichte, Gedächtnis, Kultur) und Hintergrundmetaphoriken (Kette, Strom, Ordnung, Wellenschlag) manifestieren. 'Tradition' erscheint als Kollektivsingular in Spannung zu den verschiedenen Traditionen (inklusive ihrer jeweiligen Praktiken der Überlieferung) sowie als Gegenbegriff zur Moderne, die sich zwar normativ als Überwindung der Traditionen begreift, dabei zugleich aber permanent Anstoß zur Bewahrung oder Neuerfindung von Traditionen gibt.
Sinnvoller als eine kategorische Scheidung beider Begriffe, zu der Kant neigt, wäre ein differenzierendes Konzept, demzufolge das Schöne als ein Sonderfall des Angenehmen zu bestimmen wäre, genauer als das Angenehme, sofern es ohne sinnliche Bestimmtheit betrachtet wird. Das Angenehme und das Schöne wären dementsprechend gar nicht als Gegensätze zu erfassen, sondern als komplementäre Bestandteile des ästhetischen Wohlgefallens. Gegen Kants in gewisser Weise kontraproduktiven Versuch, das ästhetische Urteil von allen sinnlichen Bestimmungen frei zu halten - denn was anders als sinnliche Wahrnehmung bedeutet der griechische Ausdruck 'aisthesis', der am Ursprung der Ästhetik steht? - wäre das Schöne als ein bloßer Teilbereich des Angenehmen zu fassen. Kants Purismus des Schönen, der Versuch, zwischen sinnlicher Wahrnehmung und dem von allen Sinnen freien ästhetischen Urteil zu unterscheiden, läuft so letztlich ins Leere. Wo Kant gute Gründe hat, zwischen dem Schönen und dem Guten zu unterscheiden, da gibt es ebenso gute Gründe, das Schöne und das Angenehme einander anzunähern. Was damit in Frage steht, ist eine Ästhetik des Angenehmen, die die Theorie des Schönen als einen Teilbereich in sich einschließen würde, zugleich aber andere Begriffe wie den des Lieblichen, Reizenden, Rührenden, Exquisiten u. a. einbeziehen würde, um der ausschließlichen Betrachtung des Schönen und des Erhabenen entgegenzuwirken, wie sie Kant im Anschluss an Burke für die Ästhetik etabliert hat. Eine neue, an den Sinnen ausgerichtete Ästhetik könnte so unter dem Titel des Angenehmen firmieren.
Schriftsteller, die in ihren poetischen oder philosophischen Texten die Kunst des Zitierens kultivieren, können auf eine lange literarische Tradition zurückblicken, denn seit den Anfängen der literarischen Überlieferung stellt das Zitieren eine zentrale Kulturtechnik dar. Bevor im folgenden Beitrag die Frage nach einer 'Poetik des kreativen Zitats' in den Texten von Autoren des 20. und 21. Jahrhunderts näher erörtert werden soll, bietet es sich daher an, einen selektiven Blick auf die Vorgeschichte der gegenwärtigen poetischen Zitiertechniken zu richten.
Em sua "Selbstdarstellung" (2011 [1924]), Sigmund Freud (1856-1939), ressalta as origens judaicas e, nessa linhagem, o êxodo que marca sua família: percurso que desemboca em Viena e, posteriormente, em Londres, estação final. As marcas do exílio nos escritos freudianos reforçam o vínculo com o judaísmo, índice da herança paterna. O episódio do "gorro na lama", descrito na "Interpretação dos Sonhos" (2019 [1900]), como a humilhação do pai de Freud, Jakob, aos olhos da criança que aspirava a sonhos de grandeza, assim como o presente do Velho Testamento (DERRIDA 2001; YERUSHALMI 1992), abrem portas para outras questões centrais nas teorias freudianas. O pai, a "judeidade" (FUKS 2000), remetem às reflexões de Freud sobre religião, notadamente nas obras "Totem & Tabu" (2012 [1913]), "O Futuro de uma ilusão" (2014 [1927]), "Moisés e o Monoteísmo" (2018 [1939]). Dessas, o Moisés de Freud é o texto derradeiro, cujas raízes ligam-se ao povo judeu. Outros temas, como o anti-semitismo, as vantagens das "teses universalistas" da intelectualidade judaica, (SAID 2004), o isolamento e a resistência (GAY 1990) são igualmente importantes para os estudos psicanalíticos. Ser judeu é ser o Outro, e por isso, transitar pelo (des)território psicanalítico: da pulsão, da escuta das histéricas, da sexualidade infantil, da insistência da neurose, do valor do sonho.
While Freud regularly discusses the Oedipus complex in the context of the Sophoclean tragedy, the founding document of the psychoanalytic theory of narcissism lacks any trace of the mythological substrate. Both Narcissus, who contributed no less than his name to the psychic phenomenon of narcissism, and Ovid, in whose Metamorphoses the most elaborate and effective elaboration of the myth of Narcissus is laid down, form a conspicuous blank space in Freud's 'Introduction to Narcissism'. This article will attempt to explain this lack of tradition and, in addition, discuss the figure of Pygmalion as a productive form of narcissism that can supplement Freud's theory.
Cet article s'intéresse à la collaboration entre le poète Carl Spitteler, l'ancien détenu C. A. Loosli - surnommé le "Philosophe de Bümpliz" - et Jonas Fränkel, brillant spécialiste de la littérature originaire de Pologne. À travers leurs attitudes et leurs ambitions artistiques, ces individualistes et libres penseurs intellectuellement indépendants se sont opposés aux principales forces culturelles et politiques de la Suisse (allemande). Celles-ci ont toutefois réussi à écarter le professeur Fränkel, chargé par Spitteler de l'édition de ses oeuvres, et à le déposséder littérairement. Le conseiller fédéral conservateur Philipp Etter a joué un rôle déterminant dans ce processus. L'injustice commise à l'encontre de Spitteler et de Fränkel est toujours d'actualité. Aujourd'hui, un travail de réparation devrait être pris en charge par la germanistique et la politique.
Adalbert Stifters im Jahr 1857 publizierter Roman "Der Nachsommer" ist oft als Bildungs- und Erziehungsroman, als humanistische Bildungsutopie oder als restaurative Sozialutopie gelesen worden. Im Gefolge dieser Gattungszuordnungen wurden vor allem Fragen der Bildung und Ästhetik, der Sozialgeschichte und Politik zu Deutungszugängen des Texts. Es besteht jedoch auch die Möglichkeit, den Roman aus einer ganz anders gerichteten Perspektive wahrzunehmen: in seiner Bezogenheit auf das Thema des Todes und der Endlichkeit. Bereits das Titelwort "Nachsommer" deutet auf Vergänglichkeit hin. Gelesen als Metapher für Lebensphasen verweist es sowohl auf eine erneut intensivierte Vitalität als auch auf den näher rückenden Tod. Die Jahreszeiten Herbst und Winter fungieren traditionell als Todesallegorien. Unter dem Vorzeichen dieser Allegorik entfalten viele der im Roman dargestellten Zeitphänomene auch eine eschatologische Bedeutungsdimension. [...] Eschatologische Aussagen können als Aussagen über ein Endschicksal der Welt, der Menschheit und / oder eines einzelnen Menschen aufgefasst werden. In der Epoche des österreichischen Spätbiedermeier, das heißt in den mentalitätsgeschichtlichen Milieus Stifters und seiner Leserschaft, steht angesichts dieses Aussagekomplexes nicht zuletzt die Glaubwürdigkeit einer in der Dogmatik der christlichen Religion und des katholischen Lehramts verankerten Glaubenshoffnung zur Diskussion. Können die Menschen auf ein zukünftiges Leben in der himmlischen Gemeinschaft mit Gott hoffen oder sind entsprechende Hoffnungen skeptisch zu verabschieden? Auch wenn konkrete kirchlich-theologische Positionen zum Themenkreis der 'letzten Dinge' in ihrer Komplexität hier nicht differenziert zu entfalten sind, so können sie dennoch als Bezugspunkt für ein Nachdenken über Stifters Pessimismus dienen. Werden die Glaubensinhalte der christlichen Eschatologie skeptisch verneint, so soll diese Negation als zentraler Aspekt des dem Stifter'schen Werk von Sebald attestierten Pessimismus verstanden werden. Sicherlich handelt es sich bei dieser Begriffsbestimmung um eine Hilfskonstruktion mit vorläufigem Charakter. Zumindest gibt sie aber eine erste Definition und vermeidet ein Sprechen in vagen Polysemen. Wie unscharf und wie wenig aussagekräftig die Termini Optimismus / Pessimismus zur Beschreibung des Romans von 1857 letztendlich sind, wird im weiteren Verlauf des Beitrags zu zeigen sein. Im Anschluss an die Lektüre zweier Textpassagen aus dem "Nachsommer" möchte ich hierzu den Blick auf ideengeschichtliche Kontexte des Romans richten. Dabei soll vor allem auf zwei Texte ausführlicher eingegangen werden: auf Bernard Bolzanos "Athanasia oder Gründe für die Unsterblichkeit der Seele" und Johann Gottfried Herders "Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit".
Seit seiner ersten Beschäftigung mit dem Märchen in den 1920er Jahren charakterisiert Benjamin dieses als eine kollektive, populäre und profane Form, die fähig ist, den Mythos aufzulösen. Noch in seinem "Erzähler"-Essay (1936) fasst Benjamin das Märchen als die älteste Erzählform, die immer in der Lage war, Menschen Rat zu geben und sie zu lehren, wie man sich mit "List und Übermut" vom "Alptraum des Mythos" bzw. aus den "Gewalten der mythischen Welt" befreien kann. Dem Märchen gelingt dies, indem es von einer Beziehung zwischen Mensch und Natur ausgeht, die nicht auf Angst und Beherrschung, sondern auf "Komplizität" beruht. Im Licht dieser Begriffskonstellation, die Benjamins historisch-anthropologischem Materialismus eigen ist, möchte der vorliegende Beitrag einige Stücke des Buches "Berliner Kindheit um Neunzehnhundert" (1933–1938) wie "Tiergarten", "Steglitzer Ecke Genthiner", "Das Karussell" neu deuten. Dabei soll gezeigt und begrifflich entfaltet werden, wie Benjamin in der literarischen Aufarbeitung seiner eigenen, von einem bestimmten Ort ihren Ausgang nehmenden Kindheitserinnerungen jenes kritische Potenzial des Märchens mobilisiert und damit eine Zäsur schafft, die die bedrückende Gegenwart der 1930er Jahre unterbricht.
In seinen Schriften, insbesondere seinen späten des letzten Lebensjahrzehnts, prägte Stéphane Mosès die Begriffe der normativen und der kritischen Moderne innerhalb der jüdischen Tradition. Er erklärt, wie diese beiden Tendenzen im jüdischen Denken des 20. Jahrhunderts fast zeitgleich entstehen, nämlich in und nach der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, und wie zwei parallele Stränge nebeneinander bestehen. [...] Der Dialog von Benjamin und Scholem über Kafka gehört zu den bedeutenden Briefwechseln der Literaturgeschichte, vergleichbar demjenigen von Lessing und Mendelssohn über das Trauerspiel, der erst im 20. Jahrhundert, lange nach seinem Entstehen, wirklich bekannt und rezipiert wurde. Es ist ein großes Verdienst von Stéphane Mosès, diesen Briefwechsel von Benjamin und Scholem kommentiert und uns die Positionen der beiden Denker lebendig vor Augen geführt zu haben. Ich habe meinerseits versucht, im Sog dieses Briefwechsels das Wesentliche hervorzuheben, um Benjamin in die jüdische Moderne einzubetten. Dabei scheinen mir die Gedanken des "Zerfallsprodukts der Weisheit" und des "Gerüchts von den wahren Dingen" sowie auch der einer "theologischen Flüsterzeitung, in der es um Verrufenes und Obsoletes geht" die Diagnose vom Traditionszerfall in der jüdischen und nicht jüdischen Moderne äußerst prägnant zu begleiten.
Im Folgenden möchte ich dem Zusammenhang des Vielen als einer sozialen Frage nachgehen. Mit dem sozialhistorischen Wandel im 18. Jahrhundert, der langfristig auf eine bürgerliche Gesellschaft hinausläuft, ändern sich auch die zwischenmenschlichen Verbindlichkeitsformen. Die Literatur um 1800 verhandelt diese Veränderungen intensiv - exemplarisch und hervorgehoben gilt dies für die Frühromantik. Ich begreife die Frühromantik zugleich als eine literaturhistorische wie auch als eine soziale und soziologische Erscheinung. Letzteres ernst zu nehmen heißt, sie einerseits als ein "Phänomen gesellschaftlicher Gruppenbildung" in einer sozialhistorischen Umbruchsphase zu verorten, andererseits ihren Beitrag zu einer modernen Theorie des Sozialen herauszustellen. Hieran schließt mein Befund an, dass die Frühromantik gleichzeitig ein modernes literarisches und ein soziales Formenwissen ausbildet. In der Frühromantik, so lautet die These, sind Poetik und Sozialität untrennbar verschränkt - eine Verschränkung, für die ich den Begriff der Soziopoetik vorschlage. These und Begriff werden am Zusammenspiel von Fragment und Geselligkeit entfaltet. Es geht um die Vergleichbarkeit der Strukturen von Fragmentpoetik und sozialer Assoziation, nämlich um Formen des Bündelns und der Bezugnahme auf andere/s. Im Fall von Fragmenten kann man gattungspoetologisch mit Blick auf die organisierende Kraft und Bindekunst der Text-Vielheiten, die im Zeichen der experimentellen Sozialität steht, von einer poetischen Vergesellschaftung von kurzen Einzeltexten sprechen: von geselligen Texten. Während Kurzgattungen um 1800, insbesondere der Aphorismus, bislang im Rahmen einer "explorative[n] Wissenspoetik" gelesen wurden, wird hier vorgeschlagen, den Experimentcharakter der Gattungen epistemologisch und sozial zu verstehen. Ausgehend von der Beziehung zwischen Fragment und frühromantischer Geselligkeit widmet sich der Beitrag der poetischen Verfasstheit von Sozialität. Im Mittelpunkt der Überlegungen steht Friedrich Schleiermachers "Versuch einer Theorie des geselligen Betragens" (1799). Schleiermachers Geselligkeitsanalyse interessiert als Modelltext, der ein doppeltes soziopoetisches Wissen entfaltet: Wichtigkeit der Äußerungsform zum einen, Gemachtheit sozialer Ordnung zum anderen. Leitend ist die Problemstellung, wie (soziale) Vielheit um 1800 organisiert ist. Diese Frage wird entlang dreier Parameter verfolgt: Ein- und Ausschluss, interne Organisation, Kunstwerkcharakter und Zeitlichkeit sozialer Ordnungen. Zunächst wird in einem begrifflichen und historischen Vorlauf die 'Assoziation' als ein Schlüsselphänomen der Epoche und die Frühromantik als soziales Versuchslabor beschrieben.
Seitdem Thomas Anz im Jahre 1998 seine Klassifizierung des Kanon-Begriffs veröffentlicht hat, gilt diese als Grundlage wissenschaftlicher Kanon-Debatten und eröffnet aktuelle Themenbereiche und Perspektiven für weitere Forschung. Betrachtet man die verschiedenen gesellschaftlichen Realisierungsformen des literarischen Kanons durch das Prisma der von Anz entworfenen Begriffspaare, dann werden Trennungslinien deutlich, die bis dahin unbemerkt geblieben sind. So werden aufgrund der von Anz entworfenen Gegenüberstellung von "materiellem Kanon" und "Deutungskanon" Fragen nach der Institutionalisierung des materiellen Kanons durch die Bildungsinstitutionen einerseits und nach der Bekräftigung oder Infragestellung des Deutungskanons durch die performative Praxis in gegenwärtigen Theaterproduktionen andererseits gestellt. Der vorliegende Beitrag geht den oben erwähnten Fragen nach, indem verschiedene Brünner Inszenierungen der Jahre 2010–2020 mit Blick auf die Affirmation oder die Infragestellung der kanonisierten Interpretation der Texte analysiert werden.
É próprio do conto de fadas ser ilustrado, encenado, reinventado e adaptado de várias maneiras, com destaque para suas recriações verbovisuais na forma de livros ilustrados de contos de fadas. No presente trabalho, analisamos a obra metatextual e metaficcional "Caperucita Roja (tal y como se lo contaron a Jorge)", de Luis María Pescetti e Alejandro O’Kif, em comparação com o conto "Chapeuzinho Vermelho", dos Irmãos Grimm, ao qual se refere diretamente e reproduz de forma traduzida e adaptada. Como toda obra metatextual e metaficcional, a textualidade em questão enseja inúmeros questionamentos a respeito da obra de referência, o conto dos Grimm, o qual termina avaliando criticamente. Veremos como, em "Caperucita Roja", a estrutura formal do conto de fadas dos Irmãos Grimm, caracterizada pela abstração, planicidade, lógica intuitiva e magia naturalizada, é tematizada, bem como a 'Verwandlungsfähigkeit' da narrativa original.
Walter Benjamin escreveu muito sobre cidades e arquitetura ao longo de sua obra. Seja em jornais de viagens, em ensaios dedicados a determinadas formações urbanas, em textos autobiográficos, na sua teoria do 'flâneur', ou em sua teoria estética, as cidades sempre estiveram em um local central. A cidade ideal de Benjamin não é clássica, "bela", mas, antes, marcada pela circulação de pessoas, pela "interpenetração" ('Durchdringung') e pela "porosidade". Essa cidade perfurada se metamorfoseia em sua própria filosofia da história, já que pare ele também o tempo é poroso.
In seinem Buch "Einfache Formen" (1930) entwickelt André Jolles in Auseinandersetzung mit Goethes Naturkunde die Vorstellung einer besonderen Zeitlichkeit der von ihm so genannten "Einfachen Formen", die er als "Jedesmaligkeit" bezeichnet. Jolles greift damit den morphologischen Gedanken einer Vielgestaltigkeit von Form vor dem Hintergrund der sprachwissenschaftlichen Debatten seines politisierten akademischen Umfelds in Leipzig auf, das den Saussure'schen Systemgedanken der Sprache unter Rückbezug auf Wilhelm von Humboldt holistisch umdeuten wollte. Der Aufsatz verortet Jolles' Überlegungen in der formorientierten Literatur- und Kulturtheorie der Zeit. Anhand seiner Zeitbegriffe und seines Formkonzepts wird gezeigt, wie er die zeitgenössischen Ideen der Ganzheit und der Verzeitlichung von Form im Ausgang morphologischer Fragen auf eigenwillige Weise interpretierte.
Hölderlin und Hegel heute
(2020)
Die Wege des Dichters und des Philosophen, die sich in revolutionären Zeiten im Tübinger Stift kennengelernt hatten, waren verschieden und doch vielfältig verbunden. Immer wieder und besonders häufig in diesem doppelten Jubiläumsjahr 2020 sind die Dioskuren des deutschen Idealismus Gegenstand der Betrachtung und Bewunderung gewesen. [...] Am 9. Dezember 2020 wollen wir uns unter dem Titel "Hölderlin und Hegel heute" den Werken dieser beiden Schwaben jedoch vor allem unter der Fragestellung nähern, was diese denn mit uns heute noch oder wieder zu tun haben könnten.