BDSL-Klassifikation: 17.00.00 20. Jahrhundert (1914-1945) > 17.18.00 Zu einzelnen Autoren
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"Kruzifix, errichtet vom Verschönerungsverein" : Ödön von Horváth und die Semantik der Moderne
(1994)
Das 20. Jahrhundert ist ein Jahrhundert der Geschwätzigkeit. Das zu beklagen und die Schuldigen anzuzeigen, gehört zu den liebsten Tätigkeiten der Kulturkritik. Diese - so monieren kritisch andere - trägt freilich allzuoft selbst nur zum allgemeinen Gerede bei. Daß aber die Kunst dem Terror korrumpierten Sprechens zu widerstehen habe, darüber herrschte lange Zeit Konsens: Die literarische Moderne hatte Schwätzer durch das Widerständige ihrer Form zum Schweigen zu bringen und - um ihrer Würde willen - lieber gar nichts zu sagen, als das Verkehrte und Falsche.
Daß diese Inhaltslosigkeit der Avantgarde zum Leerlauf einer korrumpierten Sprache nicht nur die Antithese darstellt, sondern zugleich eine Art geheimen Äquivalents, ließ man im Interesse einer klaren Frontenbildung besser nicht lautwerden. Wo das allgemeine Gerede sich auch in der Literatur der Moderne selbst bemerkbar machte, wurde einigermaßen stereotyp auf deren konstitutiv sprachkritischen Impetus verwiesen. Und wo Geschwätzigkeit ganz und gar die Textur literarischer Werke durchdrang, lag die Annahme nahe, die Moderne habe sich hier freiwillig auf gegnerisches Gebiet begeben, um den Feind - in einer Art Guerilla-Taktik - mit seinen eigenen Mitteln zu schlagen.
Als vornehmster Vertreter dieser Art literarischer Sprachkritik war seit den 1960er Jahren Ödön von Horváth wiederzuentdecken
Die 70er Jahre stellen einen Wendepunkt in der dramaturgischen Produktion Heiner Müllers dar. Die Produktion dieser Zeit kontrastiert effektiv mit den Stücken der Frühzeit, die, wie 'Der Lohndrücker' (1958), 'Die Korrektur' (1958), 'Die Umsiedlerin' (1961) und 'Der Bau' (1965), aufgrund von umfassenden künstlerischen Referenzen auf Brechts episches Theater üblicherweise im Kontext des Aufbaus des realen Sozialismus in der DDR situiert werden. Spätere Stücke wiederum, wie beispielsweise 'Hamletmaschine' (1977), 'Der Auftrag' (1979) und 'Quartett' (1980), sind innerhalb einer Orthodoxie des pädagogischen Theaters schwer zu verstehen. Sie sind gekennzeichnet durch die Montage von Texten verschiedenen Ursprungs, durch die Tendenz zu Chören und Monologen zum Nachteil des Dialogs und hauptsächlich durch die Zerstückelung der Fabel als Organisatorin der dramatischen Einheit des Textes. Es ist symptomatisch, dass dieses Transformationsmoment sich nach der Kritik an der Fabel richtet, denn gerade sie wurde von Brecht als das Herzstück des pädagogischen Theaters verteidigt, das heißt, als eine privilegierte Art, dem Publikum die Künstlichkeit der Situationen und die Art ihrer Darstellung bewusst zu machen. In seinen vielen Bezugnahmen auf Brecht hat Müller immer wieder hervorgehoben (und kritisiert), wie stark das epische Theater von der Fabel abhing: Das war es, was vielen Brecht'schen Texten den Charakter einer Parabel gab und sie der klassischen Wesensart versicherte.
Dieser Beitrag beabsichtigt zu zeigen, dass die Transformation von Müllers Theater in den 70er Jahren eng mit einer Abrechnung mit diesen Aspekten des Brecht'schen Theaters verbunden ist.
Im Marginalen, Tangentialen sowie im Nebeneinander aufgereihter Motive entdeckte das moderne Wien vor und nach dem Ersten Weltkrieg einen Bereich, der ästhetisch trotz prominenter Vorläufer namentlich in Gestalt Karl Ferdinand Gutzkows und seines Entwurfs eines "Romans des Nebeneinander" als ästhetisches Projekt noch weitgehend unerschlossen war. Gutzkow hatte in seinem programmatischen Vorwort zu seinem Roman 'Die Ritter vom Geiste' (1850/51), einem mehrbändigen Zeitpanorama des Vormärz, die Absicht begründet, das in "hundert Kammern und Kämmerchen" und damit in einer Abfolge von Nebenräumen voller Nebenfiguren und Nebensachen sich abspielende Leben in Form von Gleichzeitigkeiten darstellen zu wollen. Nebenschauplätze waren diese Räume im Verhältnis zum Hauptort und zur Hauptsache, in diesem Falle der Zeitspanne des Vormärz. Die Pointe von Gutzkows Ansatz lautete: Durch das Nebenordnen der Zeitphänomene in Form ihrer erzählerischen Reihung würden sie gleichwertig - und das unabhängig davon, wie verschieden gewichtet sie ursprünglich gewesen sein mögen. Dieses avancierte Erzählverfahren, Gutzkow hatte es von Honoré de Balzac abgeleitet, sollte freilich erst in der Moderne umfassend zur Geltung kommen. Das auffallende Interesse der Wiener Moderne an Balzac, man denke an Hugo von Hofmannsthal und Stefan Zweig, den sein Balzac-Projekt bis in die letzten Tage seines Exils begleitete, war maßgeblich einer der Gutzkows vergleichbaren Einsicht in die Aufwertung des Nebensächlichen im großflächigen Prosawerk des Franzosen geschuldet.
Künstler erkundeten im Wien um 1900 zunehmend die Nebenräume und scheinbaren Nebensächlichkeiten, so Peter Altenberg auf exemplarische Weise in seinen Miniaturen, Gedichten in Prosa, die der frühe Rainer Maria Rilke als Essenz einer neuen Modernität vorgestellt hatte. Präsent blieb das Tangentiale als Gegenstand ästhetischer Reflexion bis hin zu Heimito von Doderer. Die vermeintliche Nebensache konnte dabei die Beschreibung eines "Fliegenpapiers" bei Robert Musil (1913) sein oder das Aufnehmen des O, du lieber Augustin-Motivs durch Arnold Schönberg in seinem zweiten Streichquartett (1908). Die Frage stellt sich jedoch, weshalb die Nebensache, das Beiläufige mit einem Mal solche Aufmerksamkeit beanspruchen konnte.
Voraussetzung für argumentative Rede ist zum einen ihre Kohärenz; zum andern das Gelingen ihrer Referenz. Die Texte, die der poeta doctus Musil unter dem Titel 'Drei Frauen' versammelt hat, gehören nicht der argumentativen Rede an. Sie sind erzählender Natur. Dennoch problematisieren sie, wie wir vertreten möchten, die Voraussetzungen argumentativer Rede. Während 'Die Portugiesin' mit der Deixis (wie andernorts schon vorgeführt) den Weltbezug zu ihrem Thema macht, handeln 'Grigia' und 'Tonka' von der Verknüpfung elementarer Sätze zu Texten. In beiden Erzählungen werden die Konjunktionen zum Problem; das aber aus signifikant verschiedenen Gründen. Aus ähnlich verschiedenen Gründen werden in den fiktionalen Welten, die uns in 'Grigia' und 'Tonka' begegnen, Zusammenhänge zum Problem. Ein Textvergleich tut not; er führt auf die Bezüge, die wir soeben angedeutet haben.
"Das Publikum schrie, brüllte, tobte vor Lachen, fiel von den Stühlen, japsend", überliefert Lion Feuchtwanger die Wirkung des Münchner Komikers Karl Valentin, eines der großen Dramatiker deutscher Sprache. Hermann Hesse erzählt von "brausenden Lachsalven", die Zuschauer seien "wie Besessene vom Dämon gestoßen" worden, so sehr hätten sie gelacht. Kurt Tucholsky beschreibt einen Saal voller Lachen; Rudolf Frank berichtet von "Wogen unbändigen Lachens, die das Haus überfluteten". Und Bertolt Brecht schüttelte sich, wie er sich erinnert, vor Lachen. Im Publikum saßen begeistert die Brüder Mann, Alfred Polgar, Franz Blei, Carl Zuckmayer, Samuel Beckett (der "recht traurig viel gelacht" habe) und nicht wenige der Kulturgrößen der 1920er und 1930er Jahre. Brecht, der mit Valentin auch auf dem Oktoberfest spielte und ihm einen entscheidenden Hinweis für den Verfremdungseffekt verdankte, bezeichnete ihn als eine der "eindringlichsten Figuren der Zeit". Die Literaturgeschichten hingegen schreiben Karl Valentin keine besondere Bedeutung zu - wie sie überhaupt der Komik wenig Aufmerksamkeit widmen. Die Geringschätzung einer "Unterhaltung" verweist die komische Figur von der Bühne des Bedeutsamen: Einem Publikumserfolg mißtraut der eifersüchtige Ästhet, der sonst das Wort "Volk" politisch-moralisch gern im Munde führt.
Egon Erwin Kisch und Siegfried Kracauer, zwei herausragende Vertreter der literarischen Reportage in der Weimarer Republik, treffen sich in der Übertragung von Rhetoriken der Reiseliteratur auf das Objekt ihres Schreibens: die urbane Moderne westlicher Provenienz. So schreibt Kisch im Vorwort zu 'Der Rasende Reporter' (1925), dass "nichts […] exotischer [ist] als unsere Umwelt ", während Kracauer seine Textsammlung 'Die Angestellten' (1930) als eine "kleine Expedition" bezeichnet, "die vielleicht abenteuerlicher als eine Filmreise nach Afrika ist" und das soziokulturelle Milieu der Angestellten zum "[u]nbekannte[n] Gebiet" erklärt. Die fremden und exotisierten Populationen, deren Kulturen durch Forschungsreisen in noch unerschlossene Räume zu entdecken und durch Forschende zu beschreiben und analysieren sind, sind zur Zeit der Weimarer Republik längst nicht mehr nur jenseits der geographischen Grenzen der europäischen Moderne verortet. Sie sind in die sich seit Mitte des 19. Jahrhunderts entwickelnde urbane Moderne des Westens selbst verlagert worden, ist doch die Bevölkerung der Großstadt eine Ansammlung von einander fremden Individuen und Gruppen, von verschiedenen Klassen-, Sub- und ethnisierten Kulturen. Für das bürgerliche Beobachtungsubjekt besitzen die ihm unbekannten Räume der modernen Großstadt - so bezeugen Kischs und Kracauers Aussagen - einen Grad an Exotik, der selbst den Afrika zugeschriebenen Grad übertrifft.
Bei beiden Autoren ist das Fremde klassenmäßig kodiert. Unterschichten sind omnipräsent in Kischs Reportagesammlung und die Angestellten leben laut Kracauer trotz eines dezidiert anderen ideologischen Selbstverständnisses unter "ähnliche[n] soziale[n] Bedingungen wie […] das eigentliche Proletariat". Die Reisen ins Andere der Großstadt sind in diesen Fällen also oftmals Reisen zu Proletariern in einem weiten Sinne des Wortes, der Proletarier nicht auf die in der Industrie beschäftigen, klassenbewussten Arbeiter marxistischer Theorie und Politik festschreibt. Proletarier werden so zum Objekt einer Erforschung der Großstadt und zu Figuren einer großstädtischen Reiseliteratur.
"Der Mensch ist gar nicht gut/ Drum hau ihn auf den Hut./ Hast du ihn auf den Hut gehaut/ Dann wird er vielleicht gut". Mit dem grotesk-frivolen, bänkelsängerischen Ton verpackt Brecht im Lied von der Unzulänglichkeit ein durchaus ernstes geschichtsphilosophisches Programm: den Menschen - in schlechter, kapitalistischer Gegenwart – besser zu machen. Dazu reichen aber guter Wille, gute Absichten und Pläne keineswegs aus: "Denn für dieses Leben/ Ist der Mensch nicht schlecht genug./ Doch sein höh'res Streben/ Ist ein schöner Zug." Damit der Mensch die Gesellschaft und sich selbst besser machen kann, muss er zunächst vorübergehend härter, skrupelloser‚ 'böser' werden. Erst wenn er zunächst einmal klüger und 'böser' wird, ist er befähigt, an einer besseren Zukunft zu arbeiten. Das ist dialektische Revolutions- bzw. Geschichtsphilosophie; das ist im Kern eine dialektische Figur in der Tradition der Theodizee.
Voltaire prägte 1767 den Begriff einer "philosophie de l’histoire", nachdem Leibniz 1710 den Begriff der Theodizee eingeführt hatte - als eine Lehre zur Rechtfertigung Gottes angesichts der Übel, des Bösen in der Welt. Die radikale Freiheitsphilosophie des Deutschen Idealismus ist im Kontext der Theodizee begreifbar. Sie entlastet Gott, indem sie zeigt: "nicht Gott ist verantwortlich für diese schlimme Welt, denn nicht er macht und lenkt sie - sondern ein anderer: nämlich der Mensch oder (wie Kant, Fichte, Schelling statt dessen sagen) das Ich." Kant rief nicht zufällig "Gott" als wichtigste der "Vernunftideen" herbei, die zwar keine Erkenntnisse stiftet, den Erkenntnisprozess aber produktiv, regulativ begleitet. Hegel begreift - im Anschluss an Schiller - Geschichte als Universalgeschichte mit dem "Endzweck", "die Freiheit sich zum Bewußtsein […] und damit zur Wirklichkeit zu bringen", zugleich als eine "Theodizee", denn jener Endzweck ist genau "das, was Gott mit der Welt will".
Ein rascher Blick in die einschlägigen Tertiärdarstellungen bestätigt: Kaum ein Autor von Rang, der sich nicht im Laufe seines Schreiblebens mit Kafka beschäftigt, kaum ein (Leit-)Gedanke, der nicht mit und an dem Prager Klassiker auf literarische Weise reflektiert ist - mit enorm vielgestaltigen Resultaten. Da wird Kafka, in einer für das Ende der 1990er Jahre erstaunlich anachronistisch anmutenden Geste, als notwendig unbestimmbares Originalgenie erkannt und verdrängt zugleich, ein andermal wiederum recht rigoros der eigenen Weltsicht vereinnahmt oder gar selbstbewusst vervollkommnet, dann wieder doppelsinnig getötet, zuletzt im Gestus theatralischer Bewältigungsarbeit beerdigt - und dergleichen mehr. Es scheint weniger, als lähme Kafka die Schriftsteller, wie Imre Kertész vermerkt, sondern als treibe er im Gegenteil zu emsigen, ja fieberhaft anmutenden Bezugnahmen an, die kaum unter einem gemeinsamen Nenner zu vereinen sind - nimmt man die verhandelten Themen, Motive und Topoi ins Visier. Überblickt man die Rezeptionen hingegen in ihrer generellen Fragestellung und zugrundeliegenden Motivation, können durchaus übergeordnete Strukturen festgestellt werden, wobei meiner Ansicht nach diejenige These besonders erfolgversprechend ist, nach welcher die so vielgestaltigen Bezüge zu Leben und Werk hintergründig stets das Originelle verhandeln: So bestimmt die schon frühzeitig einsetzende, vor allem vom Freund Max Brod geförderte und weiterhin außer Frage stehende Behauptung geradezu genialisch anmutender Originalität Kafkas den Rezeptionsdiskurs nachhaltig.
Über das Verhältnis von Literatur und Wirklichkeit ist unendlich viel geschrieben worden, die Überlegungen zum Begriff der Fiktion füllen Hunderte von Abhandlungen. Besonders schwierig wird es dort, wo es um lyrische Texte geht, bei denen nicht einmal sicher ist, ob und - wenn ja - in welchem Sinne sie denn überhaupt dem Bereich der Fiktion zuzurechnen sind. Bekanntlich haben sich nicht nur Literaturtheoretiker, sondern auch Autoren mit dieser Frage beschäftigt. Allerdings waren etwa Hugo von Hofmannsthal und Gottfried Benn, um die es hier gehen soll, wohl kaum an hochabstrakten Einsichten interessiert. Ihr Interesse galt eher dem Versuch, Erfahrungen in ausreichender Klarheit zu formulieren, die sie mit ihren eigenen Gedichten machten.
Es ist bekannt, welch großes Gewicht aktuellen Publikationen in der Presse, sei es den Tageszeitungen mit ihren Wochenendbeilagen, sei es Fachzeitschriften, literarischen und anderen, für die Konzeption von Kafkas Texten zukommt. Herausragendes Beispiel dafür ist jener frappierende Artikel aus dem "Prager Tagblatt" vom 1. April 1917 über einen dressierten Affen, "Consul, der viel Bewunderte. Aus dem Tagebuch eines Künstlers", "der Kafka direkt zur Niederschrift" seiner Erzählung "Ein Bericht für eine Akademie" veranlasst hat. Verständlich daher die immer noch anhaltende Suche nach solchen 'Vorlagen' oder minder ambitiös formuliert 'Intertexten', die zur Kontextualisierung von Kafkas Werk beitragen. So durchforstete Hartmut Binder Prager Tageszeitungen zwischen 1904 und 1925, ohne aber die gesuchten 'exakten Anregungen' für Kafkas Geschichte "Ein Hungerkünstler" gefunden zu haben. Auch Bauer-Wabnegg bedauerte noch 1990, dass eine exakte Quelle bisher nicht bekannt sei. Wenn nun hier der 1896 in der Wochenzeitung "Das interessante Blatt" in fünf Fortsetzungen erschienene und mit Fotoserien ausgestattete Bericht über den italienischen Hungerkünstler Giovanni Succi als möglicher Intertext vorgestellt werden soll, so ist zuvor daran zu erinnern, dass die amerikanische Kafka-Forschung schon 1987 auf die zahlreichen Berichte in den Tageszeitungen vor 1900, sogar den amerikanischen wie "The New York Daily Tribune", hingewiesen hatte, welche die Fasten-Experimente bekannter Hungerkünstler begleiteten. Unter ihnen war Giovanni Succi der berühmteste und wahrscheinlich das Modell für Kafkas Hungerkünstler.