BDSL-Klassifikation: 17.00.00 20. Jahrhundert (1914-1945) > 17.18.00 Zu einzelnen Autoren
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Am 23. September 1912 - Kafka hatte die Nacht zuvor "Das Urteil" zu Papier gebracht - kommentiert er seinen literarischen Durchbruch emphatisch: "Wie alles gewagt werden kann, wie für alle, für die fremdesten Einfälle ein großes Feuer bereitet ist, in dem sie vergehn und auferstehn." Das Schreiben als Schmelztiegel, als alchimistische Läuterung der unterschiedlichsten Traditionen - das bietet ein etwas anderes Bild, als es lange Zeit von der Forschung favorisiert wurde; die las Kafka mit Vorliebe voraussetzungslos, als Neuanfang, als Sonderfall, der sich keiner Epoche zuordnen lasse. Tatsächlich aber können gerade in den frühen Texten Kafkas, die, wie das Tagebuch belegt, während intensiver Auseinandersetzung mit den Werken von Dickens, Goethe und Kleist entstanden sind, Spuren literarischer Diskurse, Zitate und Anspielungen gesichert werden. Diese Zitationen aber sind vor allem auf ein poetologisches Interesse Kafkas zurückzuführen und beziehen sich bevorzugt auf traditionelle Künstlerkonzepte und -biographien. Es sind im "Verschollenen" zwei Traditionslinien, die den Text über das amerikanische Exil palimpsestisch grundieren: Zum einen werden biographische Details von Autoren eingearbeitet, insbesondere von Goethe und dem Freiheitskämpfer und Dichter Körner, so daß das frühe Fragment Kafkas als versteckte Künstlerbiographie gelesen werden kann. Karl ist ein Künstler, obgleich, oberflächlich betrachtet, seine Kunstbemühungen banalisiert oder sogar dementiert werden - er spielt Soldatenliedchen, er will nicht Schauspieler werden, sondern technischer Arbeiter. Die andere Traditionslinie, die ebenfalls im Zeichen einer Künstlerinitiation eingearbeitet wird, ist eine mythologische; in Kafkas Romanfragment werden Mythen wie die des Prometheus und des Musenpferdes Pegasos aufgenommen, zu ironischen Details verdichtet.
"Nicht nur die Vernunft von Jahrtausenden – auch ihr Wahnsinn bricht an uns aus. Gefährlich ist es, Erbe zu sein. Noch kämpfen wir Schritt um Schritt mit dem Riesen Zufall, und über der ganzen Menschheit waltete bisher noch der Unsinn, der Ohne-Sinn, warnt Nietzsches Prophet Zarathustra."
Das hier benannte Problem der Zufälligkeit, Gefährlichkeit und Versicherbarkeit kollektiv verbindlicher Sinnbildung steht im Mittelpunkt der folgenden Überlegungen. Was Nietzsche angeht, so bewegt sich sein Lösungsvorschlag durchaus noch im schematischen Rahmen der klassischen Lösung bei Platon: der Zugang zur wahren Erkenntnis, zum "Menschen-Sinn mithin, ist einigen auserwählten Wenigen vorbehalten. Bei Nietzsche dienen dabei insbesondere seine "Physiologie der Ästhetik" und das darauf aufbauende "Pathos der Distanz" als Sicherungen gegen eine Vermengung zwischen der Mehrheit der "Heerdenmenschen" und der Minderheit der "Übermenschen"-Kandidaten: die aus einem Akt der Selbstselektion hervorgegangenen "Einsamen" und "Ausscheidenden" sollen jenes "auserwählt[e] Volk" bilden, aus dem zuguterletzt der "Übermensch" erwachsen würde
Günther Anders deutete schon 1951 auf Kafkas Vorliebe hin, eine rhetorische Figur in ein empirisches Faktum zu verwandeln. Mit Bezug auf den Käferkörper von Gregor Samsa in der Erzählung "Die Verwandlung" schreibt Anders: »[…] er schöpft aus dem vorgefundenen Bestand, dem Bildcharakter, der Sprache. Die metaphorischen Worte nimmt er beim Wort. Seit Anders hat Kafkas Beim-Wort-Nehmen der Metapher eine wichtige Rolle in der Kafka-Forschung gespielt. In Bezug auf die "Verwandlung" schreibt Theodor W. Adorno 1955: 'Diese Reisenden sind wie Wanzen', heißt die Redensart, die Kafka aufgegriffen haben muß, aufgespießt wie ein Insekt. Wanzen, nicht wie die Wanzen. Eine Metapher aufzuspießen heißt hier, den bruchlosen metaphorischen Übergang vom sinnlichen Bildteil zur übertragenen Bedeutung zu destruieren. In seinem Aufsatz "The Metamorphosis: Metamorphosis of the Metaphor" beschreibt Stanley Corngold ebenfalls Gregor Samsas Metamorphose als eine "Verwörtlichung" ("literalization") einer Metapher. Nach Corngold produziert eine solche Verwörtlichung ein rhetorisches Ungeheuer, das als eine Destruktion und Dekonstruktion der metaphorischen Sprache zu deuten ist.
Odradek? Was evoziert dieser Name nach einem ersten, flüchtigen Blick auf den Titel der großformatigen Fotografie 'Odradek, Taboritska, Prag, 18. Juni 1994' des kanadische Künstlers Jeff Wall? Steht er für eine konkrete Person, ein Lebewesen, ein Ereignis, einen Ort; ist er eine rätselhafte Chiffre für etwas, das im Bild entziffert werden kann oder bloß ein Wort aus einer slawischen Sprache, derer viele nicht mächtig sind? All diese Fragen liefen zunächst ins Leere oder zögen uferlose Spekulationen nach sich, wenn der Titel nicht einen entscheidenden Bezugspunkt preisgeben würde. Der Name Odradek stammt nämlich aus der Erzählung 'Die Sorge des Hausvaters' von Franz Kafka.
In the concentration on his text, the author Franz Kafka is often reduced to the phantom of a deadly sick and Oedipus-struck inventor of abstract labyrinths in an absurd bureaucratic universe. This talk intends to reintegrate him into the landscape of various conterts of modernicy at the beginriing of the 20Ih century such as: the movement of life-reform, intellectual debates, academic research in the field of industrial accidents, changing erotic relations and the enthusiasm for new technical products. As a result, the author claims that Kafka could well be imagined as a member of the pre-war-society described by Thomas Mann in the "Magic Mountain".
Das literarische Werk Franz Kafkas ist nicht nur ein seit jeher beliebter und in der Tat nahezu idealer Prüfstein für literaturwissenschaftliche 'approaches' aller Art gewesen; es birgt auch umgekehrt ein immer wieder und immer noch überraschendes Beschreibungspotential für die Konjunkturen, Konstellationen und Dilemmata humanwissenschaftlicher Theoriearbeit. Auch für den seit einiger Zeit zu beobachtenden Konflikt zwischen einer primär auf Texte bezogenen Literatur- und einer primär auf Objekte bezogenen Kulturwissenschaft hält Kafka - "Eines aber kann ich […], das ist – warten" - seit nunmehr nahezu neunzig Jahren ein Szenario bereit: Die Nomaden sind da. Anders als die treu ergebenen Untertanen, die in ihren Hütten vergeblich auf eine Botschaft des Kaisers warten, lagern sie unmittelbar vor dem kaiserlichen Palast. Und wiederum anders als die ebenfalls dort angesiedelten Handwerker und Händler geben sie sich nicht damit zufrieden, Werte zirkulieren zu lassen und ihr Leben von den schmalen Profiten zu fristen. Denn weder interessieren sie sich sonderlich für Verständigung mit den Geschäftsleuten, noch denken sie entfernt daran, für das rohe Ochsenfleisch zu zahlen, das sie verzehren – tot oder lebendig.
Kafkas Rückspiegel-Prognose eines Kulturkollapses in "Ein altes Blatt" ist nicht nur ein Postskript zu dem großen Erzählfragment Beim Bau der chinesischen Mauer; es lässt sich zugleich als Präskript für seine Leser lesen, insbesondere für seine professionellen. Kafka treibt seinen Spaß mit der seit drei Dekaden endlos wiederholten Einsicht subjektzentrierter Hermeneutik, der zufolge einem (im formal-ästhetischen Sinne) modernen literarischen Text ein fester, verlässlicher Sinn nicht zuzuordnen sei: niemals und unter keinen Umständen erreicht der Botschafter des Kaisers das Haus des Untertanen, der sich, immerhin, seine Botschaft erträumen mag. Und Kafka treibt seinen Spaß mit der ebenso alten Tröstung soziologisch aufgeklärter Hermeneutik, nach der literarische Texte zwar keine endgültige Sinnbildung erlaubten, dafür aber eine anhaltende Zirkulation flüchtiger sozialer und kultureller Bedeutungen bewirkten.
Frank Kafkas Erzählung "Ein Landarzt" stellt eine besondere Herausforderung für Literaturwissenschaft und Germanistik dar, da sie – mehr als die meisten anderen Erzählungen aus seiner Hand – durch das Hermetische der Komposition und den surrealen Charakter der Handlung sich üblichen Deutungsmustern weitgehend entzieht. Im Rahmen dieses Jahrbuchs hat Thorsten Valk eine Deutung vorgelegt, die im "Landarzt" einen "Subjektzerfall" dargestellt sieht und diesen als Negation messianischer Dichtertheologie interpretiert. Mit "Subjektzerfall" ist zweifellos eine wesentliche Sinnschicht dieses Textes angesprochen. Anders als Valk intendiert die vorliegende Studie jedoch weniger die Einordnung in einen bestimmten geistesgeschichtlichen Kontext (Säkularisation, Dichtermythos), sondern versucht, den gedanklichen Gehalt dieser Erzählung herauszuarbeiten, also das, was der historischen Verallgemeinerung widersteht und ihre Besonderheit ausmacht – in den Worten von Roland Barthes: ihre "Kraft […], Fragen an die Welt zu stellen".
Frühe Leser von Kafkas Erzählung 'In der Strafkolonie' verwarfen ihre schockierende, perverse Offenheit. Wie Hans Beilhack schon 1916 schrieb, sei Kafkas Erzählung sadistisch, und ihr Autor sei ein "Lüstling des Entsetzens". Otto Erich Hesse ging einen Schritt weiter, indem er behauptete, Kafka und seine Leserschaft seien "Ekel erzeugen[de]" sexuelle Scheusale, die "sich an derartigen Quälereien erlustier[en] und aufgeil[en]." Selbst Kafkas Bewunderer fühlten sich verpflichtet, sich von den sexuellen Exzessen zu distanzieren, wie auch von der Beschuldigung, daß sie perverses Vergnügen aus ihr zögen. Kurt Tucholsky, der erste öffentliche Verteidiger der Erzählung, befürchtete, Kafkas Beschreibungen von Nadeln, die einen nackten Körper durchdringen, würden Vergleiche zu den allgemein bekannten sadomasochistischen Schriften des "parfümierten Salonsadisten" Hans Heinz Ewers ziehen. Doch Tucholsky betonte, daß man weder Kafka noch den Protagonisten seiner Erzählung, einen Offizier, korrekterweise als einen "Sadist[en]" bezeichnen könne. Zwar mag der Text einem perverse sexuelle Phantasien ins Gedächtnis rufen, aber das eigentliche Thema von In der Strafkolonie ist politischer Natur: Es geht um die Schilderung eines militärischkolonialen Regimes, das Amok läuft.
Aus Kafkas Berliner Zeit, die im September 1923 mit so vielen neuen Impulsen und Hoffnungen begonnen hatte und ein halbes Jahr währte, ist nur die Erzählung "Eine kleine Frau" erhalten (deren Reinschrift er noch in Berlin seinem neuen Verlag Die Schmiede überlassen hatte) und was er aus einem unmittelbaren Interesse heraus bei seiner Rückreise nach Prag am 17. März 1924 mitnahm. Weil der auf den 7. März 1924 datierte Vertrag über einen "Novellen"-Band lediglich die schon früher gedruckten "Ein Hungerkünstler" und "Erstes Leid" sowie die vor kurzem entstandene "Eine kleine Frau" nennt, die später in sehr großräumigem Satz nur rund 50 Seiten umfassen und damit noch kaum ein Buch darstellen, ist anzunehmen, dieser Vertrag sei von vornherein so verstanden worden, dass weitere Erzählungen hinzukommen könnten.
Kafka und die Weltliteratur
(2005)
Tagungsbericht zum internationalen Symposion an der Universität des Saarlandes, Saarbrücken, vom 20. bis 23. September 2004
Die Veranstalter des Saarbrücker Symposions 'Kafka und die Weltliteratur', Manfred Engel (Saarbrücken) und Dieter Lamping (Mainz), wußten, daß sie mit ihrer Tagung die vielfältigen Differenzen innerhalb der Kafka-Forschung nicht würden ausräumen können. Wohl aber hofften sie, die schmale Konsensbasis der Kafka-Forschung durch einen neuen Zugangsweg zu vergrößern: Statt den Autor, wie schon so oft, als (bewunderten) Einzelgänger innerhalb der klassischen literarischen Moderne zu betrachten und alle Anstrengungen auf eine Deutung der Einzeltexte zu konzentrieren, ging es in Saarbrücken erstmals darum, Kafkas Dichtungen in komparatistischer Hinsicht zu kontextualisieren.