BDSL-Klassifikation: 17.00.00 20. Jahrhundert (1914-1945) > 17.18.00 Zu einzelnen Autoren
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"Nicht von Göthe, Hebbel, Hölderlin werden wir lernen, sondern von Mach, Lorentz, Einstein, Minkowski, von Couturat, Russel, Peano .... Und im Programm dieser Kunst das Programm eines einzelnen Kunstwerks kann dies sein: Mathematischen Wagemut, Seelen in Elemente auflösen, unbeschränkte Permutationen dieser Elemente, alles hängt dort mit allem zusammen und läßt sich daraus aufbauen."
Diese Sätze schrieb Robert Musil 1912 im "Programm eines Profils". Nicht die Dichter stehen im Zentrum der Aussage, sondern Physiker, Mathematiker und Logiker rücken in das Blickfeld der Aufmerksamkeit. Selbst ein solch vielseitiger Poet und Naturwissenschaftler wie Goethe gerät in den erkenntnistheoretischen Schatten der Nachgeborenen. Musil betont in diesen Sätzen auch die Verwobenheit von Mystischem ("Seelen") und Rationalem ("Elemente"), die synthetische, vereinigende Kraft menschlichen Denkens wie auch die Fähigkeit zur Analyse, Trennung. Mathematik wird derart mit Kunstwerken in Verbindung gebracht, daß aus dieser Kreuzung zweier traditionell getrennter Denkweisen eine holistische Ästhetik entsteht. Insofern bringt Musil hier auf einen Nenner, was er seinerzeit schon seit einigen Jahren angestrebt hatte und mit den beiden Novellen der "Vereinigungen" zum Ausdruck brachte. Daß Robert Musil sich intensiv mit mathematischen Konzepten auseinandergesetzt hat, ist in der Sekundärliteratur zum Gemeinplatz geworden; es gibt zahlreiche Untersuchungen zu diesem Thema.
Der Titel des vorliegenden Beitrags verbindet drei Leitbegriffe - einen Autornamen: Musil, die Bezeichnung einer religiösen Denk- und Erfahrungsrichtung: Mystik, und eine Epochenbezeichnung: Moderne. Die sich hinter diesen Leitwörtern verbergenden phänomenologischen Strukturen werden zunächst gesondert betrachtet, um sie in einem nächsten Schritt systematisch aufeinander beziehen zu können. Die auf diese Weise sichtbar werdenden Zusammenhänge werden abschließend am Beispiel einer konkreten Textlektüre einer differenzierten Analyse unterzogen.
Die Parallelen zwischen Cortázars 'Rayuela' und Musils 'Mann ohne Eigenschaften' wurden von wissenschaftlicher Seite schon mehrfach untersucht. Die Frage, ob und inwieweit sich die Berührungspunkte der Romane auf einen direkten Einfluss Musils zurückführen lassen, ist dabei weitgehend ausgeklammert geblieben. Einen ersten Schritt dahingehend soll hier durch die Aufarbeitung von Umständen und Umfang von Cortázars Musil-Rezeption, die bisher ebenso wenig beachtet wurde, getan werden. Ein weiterer Schritt ist die Analyse von Kontext und Funktion, die den Nennungen Musils in 'Rayuela' zukommt. Die im Zuge der Rezeptionsaufarbeitung durch die Durchsicht von Cortázars Exemplaren der Musilschen Werke gewonnenen Kenntnisse über jene Passagen, die ihm bedeutend erschienen sein dürften, erleichtern es außerdem, Musilsche Intertexte in 'Rayuela' aufzuspüren, die als Indiz eines Einflusses gewertet werden können. Dass es davon mehr gibt, als bisher angenommen, soll an einer exemplarischen Analyse des 71. Kapitels von 'Rayuela' verdeutlicht werden.
Nach einer Rekonstruktion des Forschungsstandes (I.) soll in dieser Studie die literarische Modellierung des Frauenmörders Moosbrugger aus Musils "Der Mann ohne Eigenschaften" nach Bleulers (II.), vor allem aber nach Freuds Konzept der Paranoia (IJI.) untersucht werden. Im Mittelpunkt steht dabei Moosbruggers narzisstische Persönlichkeitsstruktur und die, aus einer freudschen Perspektive gesprochen, damit zusammenhängende Vorstellung, dass "hinter den Weibern der andere Mann" steckt. In einem letzten Schritt wird untersucht, inwieweit diese Persönlichkeitsstruktur die Voraussetzung für eine, mit Ulrich parallelisierte, mystische Öffnung Moosburggers darstellt (IV.).
In den Jahren 1912-1914 gelang es dem Deutschen Botschafter Karl Max Lichnowsky (1860-1928) und seiner Gattin, der Schriftstellerin Mechtilde Lichnowsky (1879-1958), die Botschafter-Residenz Carlton House Terrace zu einem Mittelpunkt des damaligen Londoner Kulturlebens und der Avantgarde zu verwandeln. Mechtilde Lichnowsky hatte mit ihrem ersten Buch "Götter, Könige und Tiere in Ägypten" (1913) einiges Aufsehen erregt und arbeitete in der Botschaft an ihrem zweiten Manuskript, dem Drama "Das Spiel mit dem Tod" (1915). Sie war eng mit Roger Fry befreundet und arbeitete in der britischen Avantgarde-Bewegung mit. Karl Max Lichnowsky bemühte sich bis zuletzt, den Krieg auf diplomatischem Wege zu verhindern. Die Mission der beiden Kosmopoliten scheiterte.
Fundamentalkritik an der historistischen Annahme einer kohärenten, kontinuierlichen und sinnhaften Geschichte ist für die literarische Avantgarde um und nach 1900 ebenso charakteristisch wie für die Textwissenschaften des späten 20. Jahrhunderts. Doch hat sie weder hier noch dort zu einem völligen Verlust des Interesses an der 'Erforschung' und Darstellung geschichtlicher Konstellationen geführt. Wie kann dieses Paradox funktionieren bzw. welche Textstrategien sollen es entschärfen? Als zentrale Strategie zur 'Überwindung des Historismus' nehmen die hier behandelten Texte (Marie Eugenie delle Grazie: "Robespierre" 1894; Ricarda Ruch: "Der große Krieg in Deutschland" 1912-14; Alfred Döblin: "Wallenstein" 1920) einen Gattungswechsel vor: von der epistemologisch dem Historismus verwandten Form des realistischen Romans zum 'modernen Epos'. Sie bestätigen damit den geschichtstheoretischen Befund, daß Vorstellungen von bestimmten Geschichtsstrukturen und Textverfahren korrelieren, ja jene erst in diesen zur Geltung kommen. Dem Interpreten öffnet sich dadurch der Weg, das Ausmaß der Kritik am Historismus und der Ausbildung eines alternativen Geschichtsbegriffs in den Verfahren der Texte selbst zu analysieren.
Schon Ingeborg Bachmanns eigene Konzeption rechtfertigt die Assoziation Undines mit Lulu nicht – viel weniger noch die literarische Entfaltung des Themas von der Meerjungfrau, der Mahrte, und ihrer Verbindung mit einem Sterblichen (...). (...) [Volker Mertens betrachtet] die Erzählungen von der Mahrtenehe strukturell als Thematisierung einer Differenz zweier Welten und als Integrations- und Harmonisierungsversuch, der scheitert, oder – selten – auch gelingen kann. Die beiden Welten sind durch komplementäre Defizite und Überschüsse gekennzeichnet, die einander kompensieren können.
The article examines the reception of Hugo von Hofmannsthal's works by two Czechoslovak authors writing in German: Max Brod and Josef Mühlberger. The reception of Hofmannsthal's oeuvre is reflected primarily in Brod's novel "Mira", Brod's correspondence with Hofmannsthal, and Mühlberger's essay "Hugo von Hofmannsthal". The article explores how both authors depict the Viennese poet and what they consider to be Hofmannsthal's main significance and legacy for future generations. The article also compares Brod's and Mühlberger's statements with thematically similar texts by the Austrian author.
Einen kleinen Ausschnitt der literarisch-künstlerischen Auseinandersetzung mit dem Weltkrieg möchte ich im Folgenden verfolgen, indem ich nachzeichne, wie sich der Erste Weltkriegs in drei Romane einschreibt, die man mit guten Argumenten als zentrale Texte der deutschsprachigen Literatur der Zwischenkriegszeit betrachten kann, sowohl thematisch als auch ästhetisch und programmatisch.
Die Jubiläumstagung feierte das 25jährige Bestehen des Franz Werfel-Programms. Viele Tagungsbeiträge analysierten Werke und Tendenzen der Literatur der österreichischen Moderne, andere suchten Erotik bei vergessenen oder jüngeren Autoren.
Die regelmäßig stattfindende internationale Konferenz des Franz-Werfel-Programms vertieft die Zusammenarbeit der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler und bietet einen spannenden Perspektivenaustausch nicht nur im Rahmen der Auslandsgermanistik, sondern auch zwischen ihr und der Literaturwissenschaft in Österreich.
Die hier wiedergegebenen Auszüge aus Andrians Tagebüchern stützen sich zum größten Teil auf Exzerpte, die von meiner ersten Beschäftigung mit Andrian herrühren. Mein Hauptinteresse galt damals der Frühphase [...] Dem Anliegen der "Hofmannsthal-Blätter" entsprechend steht bei den folgenden, bis auf wenige Passagen bisher unveröffentlichten Tagebuchauszügen der "Blick" Andrians auf Hofmannsthal im Mittelpunkt. Es werden also vornehmlich die Passagen geboten, in denen Hofmannsthal direkt erwähnt wird. An einzelnen Stellen, wo es mir aufschlussreich erschien zu zeigen, wie Andrian andere gemeinsame Freunde einschätzte oder wo er gemeinsame Erfahrungen wiedergab, wurde Seitenblicken stattgegeben. [Ebenfalls aufgenommen wurden:] Exzerpte aus einem Notizbuch zu Vorlesungen der Philosophen Jerusalem und Eckstein zur Erkenntnistheorie und zu Kant [...] Den Abschluß bilden Andrians Notizen aus dem Jahre 1948 zu seinem Aufsatz über Hofmannsthal für Helmut A. Fiechtners Sammelband, in denen der Freund den Freund nur wenige Jahre vor seinem Tod rückblickend und nachdenkend noch einmal "entwirft".
Im Folgenden möchte ich drei Jesus-Biographien aus den 1920er Jahren analysieren, die zeigen, wie stark sich darin gleichermaßen der theologische und der literarische Diskurs der Zeit widerspiegelt. Es handelt sich dabei um Giovanni Papinis 'Lebensgeschichte Christi', auf Deutsch erschienen 1924, um Josef Wittigs 'Leben Jesu in Palästina, Schlesien und anderswo' von 1925, und um Emil Ludwigs 'Der Menschensohn' von 1928.
Menschliches Leben vollzieht sich notwendigerweise mit Hilfe des Gebrauchs von Dingen. Versteht man unter Dingen - in bewusster Umgehung aller definitorischen und philosophischen Abgrenzungsprobleme - alle natürlichen und artifiziellen Entitäten, die unbelebt, sprachlos und mobil sind, dann kann man insgesamt vier Bereiche von Dingen identifizieren, die für menschliche Handlungen zentral sind: 1. der Bereich des Körpers (hierher gehören die Unterbereiche von Wohnen, Kleiden, Essen und Sport mit Dingen wie Möbeln, Essgeschirr und etwa Schlägern und Bällen), 2. Kommunikation und Verkehr (hierher gehören neben Autos, Telefonen und Büchern auch Spiele, Musikinstrumente, Bilder und Kunst), 3. Krieg (Waffen) und 4. schließlich die Arbeit (mit der ganzen Fülle von Instrumenten und Werkzeugen). Selbstverständlich gibt es Mischformen, Steine etwa können zum Wohnen gehören, wenn aus ihnen die Wände der Häuser gebaut werden, zum Krieg, wenn eine Steinschleuder zum Einsatz kommt, oder zur Arbeit, wenn Mauern oder Pyramiden gebaut werden oder einfach alle Werkzeuge aus Stein sind, wie in der Steinzeit.
L. W. Rochowanski (1885 Zuckmantel - 1961 Wien) war auf mindestens vier scheinbar disparaten Gebieten künstlerisch tätig: als Herausgeber und Verfasser von Mundartliteratur, als Programmatiker des avantgardistischen Theaters und Tanzes, als expressionistischer Autor und als Förderer und Vermittler von angewandter Kunst aus Österreich. Im Beitrag wird zum einen die expressionistisch-avantgardistische Position Rochowanskis im Theaterbetrieb und als Autor beleuchtet. Zum anderen wird darauf hingewiesen, dass die scheinbar disparaten künstlerischen Betätigungen Rochowanskis in anthroposophisch beeinflussten Menschen- und Kunstauffassungen eine gemeinsame Wurzel haben.
Gibt es kubistische Lyrik im Diskursfeld des Primitivismus in der deutschsprachigen Literatur? Einer der wenigen Autoren, die Kubismus und Primitivismus verbanden, war Carl Einstein. Daher sei anhand einiger seiner Gedichte, die er allesamt im Verlauf des Ersten Weltkrieges während seiner Stationierung in Brüssel veröffentlichte, der Frage nachgegangen, ob diese Texte exemplarisch zu lesen sind als Versuch, kubistisch zu schreiben.
Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs bereitete der privilegierten Villenexistenz, die Rudolf Borchardt seit 1906 in Italien geführt hatte, ein jähes Ende. Er stellte zugleich die moralische Autorität des Schriftstellers in Frage; denn der Verfasser der offen zum Krieg aufrufenden "Ballade von Tripolis" (1911), der aggressiv-militante "Spectator Germanicus" der "Süddeutschen Monatshefte" von 1912 hatte sich bis dahin erfolgreich um die Ableistung des Wehrdienstes gedrückt. Das erregte sogar den Unmut seiner Freunde, wie Alfred Walter Heymels Brief an Rudolf Alexander Schröder vom 21. September 1914 zeigt:
Wir wollen ruhig abwarten, aber wenn er [Borchardt] nach Ablauf dieses Krieges sich nicht gestellt hat, dann bin ich für meine Person fertig mit ihm und wenn seine philologischen, kritischen, rhetorischen Begabungen noch grösser wären als sie sind […]. Ich hoffe aber inbrünstig, dass sich alles aufklären wird und er längst als Freiwilliger gedrillt wird.
Tatsächlich hatte sich Borchardt schon am 2. August 1914 beim Deutschen Generalkonsul in Livorno freiwillig gestellt. Am 15. Oktober 1914 wurde er in Lörrach gemustert und dem 7. Badischen Infanterieregiment Nr. 142 Müllheim zugeteilt, wo er mit 37 Jahren die Grundausbildung als Musketier absolvierte. Er wurde am 29. Januar 1915 zum Gefreiten und eine Woche später zum Unteroffizier befördert; der dringend ersehnte und auf verschiedenen Wegen angestrebte Aufstieg zum 'standesgemäßen' Offiziersrang blieb Borchardt jedoch den ganzen Krieg über verwehrt. Die militärischen Stellen gelangten vielmehr schon bald zur Einschätzung, dass dieser Soldat vor allem - zum Reden tauge.
Diverse approaches within linguistic-stylistic analysis clarify that the emotions at various text levels are conveyed appropriately in terms of this novel's narrative. This paper focuses on the emotions in the text with regard to the female character Klementine. Based on her speech profile, it can be demonstrated that she deliberately employs all the different aspects of both explicit and implicit conveyance of emotions. From the linguistic-stylistic viewpoint, it is manifest that with respect to her environment, the emotions surrounding this figure include a racial element. The analysis shows that the author is an outstanding narrator capable of creating suspense and depicting emotionally detailed situations. However, the expectations of the reader may not have been completely met.
Mannmännliches Begehren und Lieben ist sicher kein Schwerpunkt für Brecht gewesen, doch hat es ihn unleugbar fasziniert. Von Anfang an gibt es, wenn auch nur sporadisch, Homosexualität in seinem Werk. Die Texte bis ca. 1938 repräsentieren indessen nichts, was im gängigen Sinn als „schwule Literatur“ gelten könnte. Weder manifestierte sich Brecht je als „bisexuell“ oder gar „schwul“, noch wird der Stellenwert von Homosexualität – oder genauer gesagt: von Homosexualitäten – bei ihm thematisiert. Nie hat er je irgend etwas gezielt für „Schwule“ geschrieben. Eine andere Rolle spielt die Schilderung von Homosexualität in Bertolt Brechts Romansatire "Die Geschäfte des Herrn Julius Caesar". An diesem Projekt arbeitete er 1938/39 gemeinsam mit seiner Geliebten Margarete Steffin (1908-1941) im dänischen und schwedischen Exil. Der umfangreiche Fragment gebliebene Roman wurde in Buchform erst posthum 1957 veröffentlicht. Der Roman, obschon wie ein Großteil seiner Prosa, in den Schatten der medialen und wissenschaftlichen Aufmerksamkeit für den Lyriker, Dramatiker und Theatermann geraten, gehört zweifellos zu den Hauptwerken Bertolt Brechts und steht an zentraler Stelle in seinem Schaffen. Einige der wichtigsten Themen Brechts fließen im Caesar-Projekt zusammen, das reichen Aufschluss gibt über seine Sicht der Dinge und seine sich daraus ergebende Arbeitsweise.
Karl Lieblichs Lebengeschichte ist die eines weitgehend vergessenen, deutsch-jüdischen Dichters, der das nationalsozialistische Deutschland verließ, um ins brasilianische Exil zu gehen, und nach dem Krieg nach Deutschland zurückkehrte. Dieser Artikel setzt sich das Ziel, sein Leben nachzuzeichnen, seine literarischen und kulturphilosophischen Werke zu analysieren und in die Zeit einzubetten.
Der historische Kontext eines literarischen Textes, so lautet eine Kernthese jeder Hermeneutik in rekonstruierender oder dekonstruktiver Absicht, ist das Andere der ästhetischen Struktur dieses Textes: Er verstellt, mit anderen Worten, den Zugang zum literarischen Text als Kunstwerk. Dieser These wird hier am Beispiel der 'chinesischen' Erzählungen Franz Kafkas widersprochen. Der Beitrag führt vor, wie gerade aus der kalkulierten Einfügung eines Erzähltextes in den kulturellen Kontext seine spezifische ästhetische Form gewonnen wird.
Kafka und die Weltliteratur
(2005)
Tagungsbericht zum internationalen Symposion an der Universität des Saarlandes, Saarbrücken, vom 20. bis 23. September 2004
Die Veranstalter des Saarbrücker Symposions 'Kafka und die Weltliteratur', Manfred Engel (Saarbrücken) und Dieter Lamping (Mainz), wußten, daß sie mit ihrer Tagung die vielfältigen Differenzen innerhalb der Kafka-Forschung nicht würden ausräumen können. Wohl aber hofften sie, die schmale Konsensbasis der Kafka-Forschung durch einen neuen Zugangsweg zu vergrößern: Statt den Autor, wie schon so oft, als (bewunderten) Einzelgänger innerhalb der klassischen literarischen Moderne zu betrachten und alle Anstrengungen auf eine Deutung der Einzeltexte zu konzentrieren, ging es in Saarbrücken erstmals darum, Kafkas Dichtungen in komparatistischer Hinsicht zu kontextualisieren.
Aus Kafkas Berliner Zeit, die im September 1923 mit so vielen neuen Impulsen und Hoffnungen begonnen hatte und ein halbes Jahr währte, ist nur die Erzählung "Eine kleine Frau" erhalten (deren Reinschrift er noch in Berlin seinem neuen Verlag Die Schmiede überlassen hatte) und was er aus einem unmittelbaren Interesse heraus bei seiner Rückreise nach Prag am 17. März 1924 mitnahm. Weil der auf den 7. März 1924 datierte Vertrag über einen "Novellen"-Band lediglich die schon früher gedruckten "Ein Hungerkünstler" und "Erstes Leid" sowie die vor kurzem entstandene "Eine kleine Frau" nennt, die später in sehr großräumigem Satz nur rund 50 Seiten umfassen und damit noch kaum ein Buch darstellen, ist anzunehmen, dieser Vertrag sei von vornherein so verstanden worden, dass weitere Erzählungen hinzukommen könnten.
Kafka in der Türkei : Transkription des Literaturworkshops mit dem Kafka-Biografen Reiner Stach
(2019)
Die Abteilung für Germanistik an der Hacettepe Universität (mit Unterstützung des Goethe-Instituts Ankara) lud am 02. November 2018 Studierende zu einem Kafka-Workshop mit Dr. Reiner Stach ein. Reiner Stach hat mit seiner Kafka-Biographie die Möglichkeiten der literarischen Biographie neu ausgelotet. International gilt sie längst als die definitive Biographie Kafkas. Ergänzt hat Reiner Stach sein Opus magnum nun um den Dokumentationsband "Kafka von Tag zu Tag". Basierend auf Stachs jahrzehntelangen Forschungen erlebt man als Leser, was Tag für Tag in Kafkas Leben geschah: in seiner Familie, seinem Freundeskreis bis hin zu weltpolitischen Ereignissen seiner Zeit. Ein einzigartiges Dokument, das eine schier unendliche Fülle an Material übersichtlich und beeindruckend ordnet und so das Leben und die Zeit des großen Autors unmittelbar erfahrbar macht.
Olmis Verfilmung ist mit Roths Text, mit dessen Schweben zwischen Glauben und Ironie durchaus kompatibel. Diese Feststellung wird im folgenden mit einer intermedialen Analyse belegt, die sich auf den Schluß von Vorlage und Verfilmung konzentriert, um Rauminszenierung als Phänomen von Diegesis und Mimesis zu untersuchen.
Im Folgenden sei der Versuch unternommen, allein Roths Arbeit am Begriff der Grenze vorzustellen, dies unter Rückgriff auf vor allem zwei Texte, deren Verschiedenheit die Spannweite nicht nur der formalen Mittel, sondern auch der Konzeptualisierungsfähigkeit, über die Roth verfügte, anschaulich machen mag.
Die Persönlichkeit des Schriftstellers Johannes Freumbichler (1881-1949) ist für die meisten Literaturwissenschaftler erst dann interessant, wenn sie sich mit ihr im Zusammenhang mit Thomas Bernhard beschäftigen, dessen Werk direkte wie auch indirekte Bezüge und Verbindungen zu dem seines Großvaters enthält. [...] Jiří Schoffer versucht, anhand einiger autobiographischen Quellen und Artikel, in denen sich Bernhard über seinen Großvater geäußert hatte, die Beziehung zu seinem wichtigsten Familienmitglied und selbstverständlich vor allem zu dessen literarischer Produktion zu erleuchten.
In der folgenden Studie soll der Roman "Das kunstseidene Mädchen" (1932) verfasst von Irmgard Keun unter besonderer Berücksichtigung der intermedialen Aspekte untersucht werden. Ziel ist hierbei dem in der Türkei kaum gewürdigten Werk von Irmgard Keun an Sichtbarkeit zu verhelfen als auch in einem intermedialen Rahmen zu betrachten und ferner die negativen Einflüsse der Massenmedien anhand des Fallbeispiels "Doris" stellvertretend für junge Frauen im 21. Jahrhundert darzustellen. Hierbei soll die Intermedialität und die leserbezogene Methode Richtlinien dieser Arbeit darstellen. Verschiedene Medien wie beispielsweise der Film, die Musik und die Werbung werden im Roman hinreichend aufgegriffen. Besonders um 1920, bedingt durch das neue Frauenbild, aus welchem durch die Medien ein enormer Umschwung der Geschlechterverhältnisse resultierte und außerdem die Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau beeinflusste, zeigt sich eine deutliche Wendung der Frau des 20. Jahrhunderts. Medienpersönlichkeiten werden weitgehend zu Idealen der jungen Frauen, was in der Fallstudie Doris eine Schlucht zwischen Realität und Fiktion zur Folge hat. Diese Studie beabsichtigt die negativen Folgen der durch die Massenmedien vermittelten Schönheitsideale aufzuführen und in diesem Rahmen ein gegenwärtiges, soziales sowie zeitloses Problem vor Augen der Leser zu führen.
Im Kontext der Literatur und Publizistik Österreichs des zweiten Jahrzehnts des 20. Jahrhunderts ist das Werk des Schriftsteller und Essayisten Robert Müllers zutiefst herausragend, obwohl immer noch nicht zureichend gewürdigt. Seine Essays und kritische Schriften werden langsam von der Kritik entdeckt, aber weder die Originalität seiner reflexiven Methoden, noch die Einzigartigkeit seiner Ideen sind bisher richtig anerkannt worden – eine Tatsache, die, wie ich glaube, das Verständnis des entsprechenden kulturellen Kontextes beeinträchtigt, denn Robert Müller ist genauso singulär wie ein Mann seiner Zeit. Der kritischen Anerkennung Müllers fehlt meiner Ansicht nach das Verständnis der tiefen Einheit seines Werkes, einschließlich der fiktionalen Erzählungen und Romane, die die Kritik bisher immer geleugnet hat, und das Erfassen der Kontinuität und Kohärenz eines breiten Lebens- Schreib-, und Denkprojektes, das sowohl die Lebenshaltung, wie ein ästhetisches, philosophisches, epistemologisches, und nicht zuletzt politisches Programm umfasst. Es ist äußerst schwer, in einem kleinen Beitrag die komplexe Vielseitigkeit und Artikulationen der Werke und Gedanken Müllers zu beschreiben, die am besten im Ganzen als ein äußerst verwickeltes Labyrinth von Beziehungen, die oft mit schwer zu verstehenden Methoden hergestellt werden, verbildlicht werden können. Ich werde trotzdem versuchen, einige Hauptlinien seines Programms zu nennen und dadurch Müller, besonders als Essayisten, in seiner Epoche zu situieren.
"Im Land des Siegers hat man aufgebaut / Den Grabstein ihm, uns aber geht er um", so lauten die ersten beiden Verse eines Gedichts, das der Lyriker und Dramatiker Hans Schwarz 1924 unter dem Titel "Der unbekannte Soldat" veröffentlichte. Schwarz zufolge haben die Siegermächte ihre im Ersten Weltkrieg gefallenen Soldaten anhand des - 1921 zeitgleich in London und Paris eingeweihten - Grabmals des 'Unbekannten Soldaten' demnach augenscheinlich zur Ruhe bringen können, während die toten deutschen Soldaten mangels eines vergleichbaren Symbols zu einer Art Gespenst mutieren mussten: "Und alle Nächte bricht die Wunde auf". Nimmt man Schwarz beim Wort, so ließe sich die Obsession, die der Erste Weltkrieg im gesellschaftspolitischen Diskurs der Weimarer Republik darstellte, in erster Linie darauf zurückführen, dass die gefallenen Deutschen real wie imaginär unbeerdigt geblieben waren. Die anhaltende Präsenz des Krieges wäre unter diesem Gesichtspunkt eher ein rituelles als ein im engeren Sinne politisches Problem.
In der Tat konnte sich der 'Unbekannte Soldat' in Frankreich wie in England nach anfänglich durchaus erhitzten Diskussionen bald als zentrales Monument des Totengedenkens durchsetzen, während man sich in Deutschland die 1920er und frühen 1930er Jahre hindurch sowohl über den Zuschnitt als auch über den potenziellen Standort eines vergleichbaren Grab- oder Denkmals notorisch uneinig blieb. Es waren zunächst unbestreitbar sowohl genuin föderalistische Interessenskonflikte als auch ideologische Grabenkämpfe, die der gesamtgesellschaftlichen Akzeptanz eines zentralen Gedenk- und Erinnerungsortes in Deutschland abträglich sein mussten, so dass man für die gesamte Zeit der Weimarer Republik von einem veritablen "Stellungskrieg der Denkmäler" sprechen kann.
Im Folgenden soll die gegenseitige Befruchtung von Kunstschaffen und Religion am Beispiel Ludwig Meidners, einer der Doppelbegabungen aus dem Umkreis des Expressionismus, vorgeführt werden, der als Maler und Zeichner und Schriftsteller hervorgetreten ist. Interessant scheint das Exempel auch deshalb, weil gezeigt werden kann, wie die Bezogenheit auf das Heilige die Medien Text und Bild durchzieht und so in besonderer Weise transgressiv wirksam wird.
Dějiny šlechtického rodu Lichnowských otevírají vhled do evropského kulturního panoramatu od poslední čtvrtiny 18. století až do konce první poloviny 20. století. Členové této knížecí rodiny se proslavili nejen svou vlastní literární a hudební tvorbou, ale také kulturními kontakty se soudobými umělci. Taktéž biografie kněžny Mechtildy Lichnowské (1879–1958) je protkána přátelstvími s německy a anglicky píšícími autory, hudebními skladateli a v neposlední řadě soudobými malíři. Předložená studie navazuje na dlouhodobý výzkum zabývající se fenomenální kulturní kontinuitou šlechtického rodu Lichnowských a přibližuje kontakty kněžny Mechtildy Lichnowské a Hugo von Hofmannsthala. Přátelství obou autorů bylo formováno jejich literárními a hudebními zájmy, jež ovlivňovaly vzájemnou, umělecky podnětnou výměnu názoru. Reflexe dramatické tvorby Hugo von Hofmannsthala a obraz jejich několika setkání, zachycený ve vzájemné korespondenci, doplňují mozaiku informací o literární tvorbě, kontaktech, názorech a uměleckém vývoji obou spisovatelů.
Der Schwierige von Hugo von Hofmannsthal reflektiert die Lage, die dem Niedergang der Habsburger Monarchie parallel verläuft. Gleichzeitig ironisiert das Lustspiel eine Gesellschaft, die von den Krisen der Moderne geprägt ist und infolge dieser deren bisher bestehende Form sich auflöst. In der vorliegenden Untersuchung wird das Argument stark gemacht, dass Der Schwierige in einer krisenhaften Phase auf alte gesellschaftliche Normen und Werte zu verweisen sucht und dass dieser Verweis eine nostalgische Haltung repräsentiert. "Der Schwierige" stellt im Sinne einer kulturellen Restaurierung eine Beschönigung althergebrachter Lebensformen dar, die der Ungewissheit des Jetzt gegenübergestellt wird.
Vorliegende Ausgabe der Mitteilungen der Hugo von Hofmannsthal-Gesellschaft enthält:
Volke, Werner: In memorian Otto Heuschele
Unmittelbar nach dem Tod Hugo von Hofmannsthals schrieb Otto Heuschele dem so plötzlich Verstorbenen "Dank und Gedächtnis". Heute gelten Dank und Gedächtnis dem Dichter, Schriftsteller und Lehrer Otto Heuschele selbst, der am 16. September 1996 im 97. Lebensjahr in seinem Waiblinger Haus starb. - Hier kann nicht der Ort sein, das umfangreiche, alle Felder der Dichtung und Publizistik umgreifende Lebenswerk Heuscheles zu würdigen, an seine großen Verdienste als Herausgeber zu erinnern, dem es zeitlebens Auftrag war, Werke aus unserer Vergangenheit im Bewußtsein der Menschen zu erhalten oder sie den Nacherben wieder ins Gedächtnis zu bringen. Gewürdigt aber werden soll, was Otto Heuschele mit der Hugo von Hofmannsthal-Gesellschaft verband, zu deren Gründungsmitgliedern er gehörte.
Hugo von Hofmannsthal und Robert Michel : Briefe / mitgeteilt und kommentiert von Riccardo Concetti
(2005)
Die Herausgabe des Briefwechsels zwischen beiden Autoren bietet nun eine Gelegenheit, dem Vergessen entgegenzuwirken: Neben dem Versuch, die Konturen dieser am Rande der österreichischen Literaturgeschichtsschreibung gebliebenen Figur zu umreißen, soll aufgezeigt werden, aus welchen Motiven heraus Hofmannsthal Michel unterstützte und ihm eine nicht marginale Rolle bei seinen Kriegspublikationen einräumte, ja, ihn im Laufe der Zeit geradezu als Inbild des österreichischen Dichters ansah.
Im Literaturarchiv der Monacensia München liegt im Nachlass Otto von Taubes eine Mappe mit Briefen Hugo von Hofmannsthals. An Taube gerichtet sind fünfzehn Briefe - darunter zwei Gedichte Otto von Taubes mit handschriftlichen Kommentaren Hofmannsthals -, eine Postkarte, ein Telegramm, ein leerer Briefumschlag sowie eine in Hofmannsthals Namen geschriebene Nachricht von fremder Hand; hinzukommen ein kleines Schreiben Hofmannsthals an Baronin Marie von Taube und eine gedruckte Danksagung Gerty von Hofmannsthals an "Baron und Baronin Taube" für deren Teilnahme an Hofmannsthals Tod. Neun Gegenbriefe von Taube an Hofmannsthal verwahrt das Hofmannsthal-Archiv im Freien Deutschen Hochstift zu Frankfurt am Main. Wie Anspielungen in den überlieferten Schreiben belegen, ist auf beiden Seiten eine nicht unbeträchtliche Zahl von Sendungen verloren gegangen. Die erhaltenen Briefe bezeugen einen anfangs losen, später vertrauter werdenden Kontakt; Schwerpunkte bilden zwei Zeitschriftenprojekte: zunächst in den Jahren 1907/1908 während Hofmannsthals verantwortlicher Mitarbeit am "Morgen", dann nach 1922 im Rahmen seiner eigenen Zeitschrift, der "Neuen deutschen Beiträge", die von 1922 bis 1927 im Verlag der Bremer Presse erscheinen.
Hugo von Hofmannsthal und Julius Meier-Graefe : Briefwechsel / herausgegeben von Ursula Renner
(1996)
Sowohl im Gesamtwerk Robert Musils als auch in dem von Thomas Mann spielen homoerotische Beziehungen zwischen Männern eine nicht unwesentliche Rolle. Gefährliche Spiele mit den Faktoren Macht und Sexualität bilden den erzählerischen Kern von Musils Erstlingswerk 'Die Verwirrungen des Zöglings Törleß'. Erotik wird auch später ein zentraler Angelpunkt in Musils Schreiben bleiben, in der Novellensammlung 'Drei Frauen' ebenso wie im Monumentalroman 'Der Mann ohne Eigenschaften'. Das Thema Homosexualität wird nach dem 'Törleß' aber nicht mehr explizit abgehandelt, sondern in unterschwellige Textschichten verdrängt. Ganz anders Thomas Mann, den die homoerotische Problematik zeitlebens nicht losließ, da sie aufs engste mit seiner Lebensgeschichte verschränkt war, und dies nicht nur in seinem eigenen Werdegang, sondern auch durch die viel offenere und eindeutigere Homosexualität seines Sohnes Klaus, der 1926 im Alter von zwanzig Jahren einen autobiographisch getönten Roman veröffentlichte. Thomas Mann selbst rückte das Thema nur in der Erzählung Der Tod in Venedig in den Mittelpunkt des erzählerischen Interesses. Andererseits tauchen Spuren und Ahnungen, Anspielungen und Transformationen homoerotischer Erzählelemente in vielen seiner Werke auf, von 'Tonio Kröger' bis 'Mario und der Zauberer', vom 'Zauberberg' bis zu 'Doktor Faustus' und 'Felix Krull' und auch in Beiträgen zur politischen Diskussion riskierte er hin und wieder ein offenes Wort.
Thomas Manns Biographen wissen von einer unausgelebten Homosexualität zu berichten, mit einem allenfalls 'zaghaften Coming out', wie Hermann Kurzke es nennt. Musil erscheint demgegenüber als typischer Vertreter der heterosexuellen Spezies. Ulrich, sein Alter-Ego im 'Mann ohne Eigenschaften', ist unter anderem - denn tatsächlich hat Ulrich viele Eigenschaften und Facetten - ein Frauenheld mit diversen machohaften Zügen. Es sind also zwischen den beiden Romanciers, vergleicht man sie unter dem hier gewählten Aspekt, sowohl Berührungspunkte als auch wesentliche Unterschiede zu erwarten.
Es ist nicht üblich, Brecht und Celan in einem Atemzug zu nennen. Zu sehr dominiert die Vorstellung von dem hermetischen Lyriker hier, der eher mit Hölderlin, Mallarmé und Rilke in Zusammenhang gebracht wird und sich in der raffinierten und weltabgewandten Verschlüsselung ausgedrückt haben soll, und dem operativen Dichter dort, der, um in das politische Handgemenge unmittelbar eingreifen zu können und dort seine Wirkungen zu erzielen, sich einer möglichst kommunikativen und transparenten Sprache verschrieb. Woher sollten sich dann ihre Sphären je berühren? Indes, sie berühren sich, und nicht zuletzt dadurch, dass Celan selber noch in seiner letzten und zunehmend umdüsterten Lebensphase sich wiederholt und ausdrücklich auf Brecht bezogen hat.
In meinem Beitrag möchte ich der Frage nach den heterotopischen Räumen im Werk Annemarie Schwarzenbachs nachgehen. Zunächst werde ich mein Verständnis des Heterotopiebegriffs nach Foucault erläutern und mich dabei besonders auf den Aspekt des “anderen” Raums und der Beziehung zum Raum konzentrieren. In einem zweiten Schritt werden die verschiedenen Räume im fiktionalen Werk der Schweizer Autorin auf ihren heterotopischen Gehalt hin überprüft.
Noch vor 1900 wurde der Begriff 'Hermetismus' aus den spätantiken Geheimlehren auf die Literatur übertragen - um bald danach in der sog. hermetischen Lyrik eine negative Etikettierung zu erhalten. Vor allem die Dichter, die sich einer Poetik der Unverständlichkeit bedient haben, wurden somit kritisiert und zurückgewiesen. Dabei wurde oft übersehen, dass diese Unverständlichkeit keineswegs eine eitle Machart selbstbewusster Dichter war, sondern eine innere Notwendigkeit. Am Beispiel dessen, wie Paul Celan (1920–1970) und Nelly Sachs (1891–1970) die Shoah lyrisch verarbeiteten, sollen Gründe für die Wahl der hermetischen Ausdrucksweise gefunden werden: eine zu komplexe und widersprüchliche Wirklichkeit, die Angst vor der Gefährdung durch eine verständliche Aussage oder die Entscheidung für das 'offene Kunstwerk' mit beliebig vielen möglichen Interpretationen.
Als ich im Verlaufe des Jahres 2000 meine Vorlesung 'Der Ewige Jude' vom 'Volksbuch' bis zu Stefan Heym für das WS 2000/01 vorbereitete, stieß ich bei Werner Zirus (1928) auf einen drei Seiten umfassenden Passus über den "Märchenroman" 'Ahasvers Wanderung und Wandlung' eines gewissen Heinrich Nelson. Selbstverständlich fand sich dieser Titel auch bei George K. Anderson (1965), dem Grundlagenwerk zum Thema. Beide Darstellungen, ohnehin einander bis in Einzelheiten hinein sehr ähnlich, wiesen eingangs auf den Befund hin, dass der Roman vor dem Ersten Weltkrieg geschrieben, aber erst 1922 veröffentlicht worden sei. Näheres über Autor und Kontext freilich suchte ich hier wie dort vergeblich. Bei solcher Sachlage empfahl es sich nicht, das Buch in das Korpus einer Vorlesung einzureihen. Das Änigma Nelson/Ahasver freilich blieb und verlangte nach Lösung, in welchem Schlendrian auch immer. Schon der erste Schritt, den ich dann allerdings doch bald unternahm, war verblüffend erfolgreich: Das Buch fand sich in meiner Hamburger Staatsbibliothek, einem Standort unter nur vier weiteren in der ganzen Republik. Die Identität Heinrich Nelsons klärte sich in Zeiten des Netzes gleichfalls bald: Heinrich war der Vater des Philosophen Leonard Nelson.
Anhand der Heimatkonzeption von Ernst Bloch soll der Begriff der 'Heimat' einer kritischen Betrachtung unterzogen werden. Grundlegende Merkmale in zeitlicher wie räumlicher Perspektive ausmachend, formuliert Bloch ein Heimatkonzept, das jenseits abgrenzender Selbst-Fremd-Dichotomien eine Zukunftsperspektive entwirft, die durch das Handeln gesellschaftlicher wie individueller Akteur:innen erst erreicht werden muss. Zusammen mit dem Raumkonzept der 'Nicht-Orte' von Marc Augé werden in Vicki Baums "Menschen im Hotel" (1929) Potenziale zukünftiger Heimatkonstruktionen nachgespürt und analysiert.
Kafka war gewiß kein Verkünder des nervösen "Fin de siècle" (dazu war es um 1911 bereits zu spät) und auch wenn er wie viele intellektuelle Zeitgenossen dem Modethema Nervosität einige Aufmerksamkeit schenkte, so war er doch in erster Linie: ein nervöser Patient. Und als solcher begab er sich in ärztliche und heilpraktische Behandlungen, wo man ihm sehr bald das zugehörige Krankheitsbild bestätigte - Neurasthenie. Die nervöse Karriere des Schriftstellers und Unfallversicherungsbeamten Franz Kafka ist aus den gängigen Biografien bekannt. Sie bietet reichlich Einblicke in die Szenarien gesellschaftlicher Heilpraxis nach 1900, in die Diskussionen um Krankheit, pathologische Zustände und Minderwertigkeit, aber auch in die individuelle Verfassung des Autors Kafka, seine Selbstwahrnehmung und seine Schreibobsessionen. Doch zunächst: Was bedeutete eigentlich Neurasthenie? Die Frage führt uns in nuce in die Aporien ihrer Beantwortung; dennoch muß sie gestellt werden, um die Tragweite ihrer Formulierung zu bestimmen. Wir wohnen der begrifflichen Auseinandersetzung eines Krankheitsbildes bei, das in den Jahren Kafkas eine erstaunliche Entwicklung nahm. Joachim Radkau spricht im Zusammenhang der Jahre 1880-1914 von der "Epoche der Nervosität".
The theme of Wagner's opera 'Tannhäuser' is the conflict between the artist and society, between nonconformism and servility to the dictates of a regime, with all its dogmas and taboos. This theme remains real and 'modern' to this day, and it has been acted out several times in German history. 'Truth fanatics' – artists, academics and intellectuals – have repeatedly been ostracized, boycotted or mocked. One such figure was Alfred Döblin, nowadays a half-forgotten novelist who returned to post-war Germany after several years of exile to participate in the country's spiritual regeneration. Döblin's novel 'Hamlet oder Die lange Nacht nimmt ein Ende' – begun during the writer's Hollywood exile – can be viewed as a work of 'Trauerarbeit' – a way of dealing with the Nazi past. This paper examines the questions asked by Döblin and the problems he faced in the nascent Federal Republic of Germany, using his 'Hamlet' as a source of illustrative examples. Wagner's 'Tannhäuser' – a work to which Döblin was strongly drawn – serves as a framework.
Der vorliegende Beitrag geht von der Fiktionalisierung des Ersten Weltkrieges in Remarques Erfolgsroman "Im Westen nichts Neues" (1929) aus und erforscht die literarische Funktionalisierung der Kriegsrepräsentation für Friedensdiskurse. "Zeit zu leben und Zeit zu sterben" (1954) enthält pazifistische Indizien, so dass Remarques Poetik des Friedens um die Darstellung der beiden Weltkriege strukturiert ist. In seinem Werk "Der seltsame Krieg" (2000) artikuliert der österreichische Schriftsteller Martin Auer seine Fiktion des Krieges um eine globale Sehnsucht nach Frieden, die auch neue Kriegsformen einschließt. So erhält der Signifikant "Krieg" eine dynamische Sinndeutung in der Konstruktion des Friedensdiskurses. Der Beitrag analysiert die klassischen Repräsentationen des Krieges und erkundet die Grundrisse einer Poetik des Friedens bei Erich Maria Remarque und Martin Auer.
In hermeneutischen Zugangsweisen zu literarischen Texten spielt das Ganze eine doppelte Rolle: Zum einen scheint hermeneutisches Verstehen grundsätzlich nach einer wie auch immer gearteten Form von Ganzheit zu tendieren, sei es nur in irgendeiner Form des Zusammenhanges, sei es als „Sinn des Ganzen“, wie die stärkste Formulierung dieser Tendenz lautet. Zum andern kommt bei literarischen Texten, dies schon bei Aristoteles und dann verstärkt seit der Kunstperiode, die Utopie des ästhetischen Ganzen ins Spiel. Diese doppelte Rolle veranschaulicht zum Beispiel eine aktuelle hermeneutische Publikation des Komparatisten Horst-Jürgen Gerigk („Lesen und Interpretieren“, 2002, 30): „Wir müssen das Ganze kennen, um eine ausserfiktionale Begründung einsehen zu können. Das wiederum bedeutet, dass durch das Denken der poetologischen Differenz immer das Ganze fixiert wird. Ja, der Sinn des Ganzen kann sich nur erschließen, wenn die innerfiktionalen Sachverhalte auf ihre außerfiktionale Begründung angesehen werden.“ Die Postmoderne hingegen hat, in Weiterführung der Moderne, das Ganze, als ästhetische wie als hermeneutische Kategorie ideologiekritisch verworfen und ihr den Befund der Fragmentarizität entgegengehalten. Die Notwendigkeit dieser Kritik soll nicht grundsätzlich bestritten werden. Doch lässt sich das künstlerische Ideal des Ganzen in Produktion und Rezeption von Kunst gänzlich verwerfen? Ist es nicht eher so, dass Spielarten von Ganzheit weiterhin, wenn auch eine theoretisch unbewältigte, weil tabuisierte Rolle spielen? Aus dieser Frage ergibt sich das Forschungsziel, die Kategorie des Ganzen in einem ersten Schritt, von Neuem zu beobachten. Dies soll hier anhand eines konkreten Materials, der zwei Fassungen des „Grünen Heinrich“, geschehen. Die Novellentheorie operiert mit einer bestimmten Spielart von Ganzheit: Eine Novelle soll ein überschaubares, auf einen Punkt zentriertes Geschehen enthalten. Die Formel der „merkwürdigen Begebenheit“ oder die Rede vom Wendepunkt ist Ausdruck dieser Vorstellung, die mit Aristoteles Bestimmung des Dramas eng verwandt ist. Diese Vorstellung eines geschlossenen Handlungs-Geschehens findet sich im „Grünen Heinrich“ thematisiert; so ist davon die Rede, dass eine Handlung in ein erbauliches Ende einmünden sollte (5. Kapitel), und in Äußerungen Kellers zum „Grünen Heinrich“ ist von der „Endabsicht“ die Rede, die er mit dem ganzen Buch verfolge. Dass die literarische Großform, welche das Buch darstellt, den ästhetischen Postulaten der Novellentheorie aber nicht genügen kann und will, wird mehrmals thematisiert und verteidigt. Insbesondere wird dies in der ersten Fassung auch in einem Vorwort thematisch, welches in der zweiten Fassung wegfällt. Die zweite Fassung, welche Keller Ende der 70er Jahre herstellt, stellt den Versuch einer Verbesserung der ersten dar; in der Umschreibung des ganzen Textes in die erste Person dokumentiert sich Kellers Wunsch zur Vereinheitlichung. In welchem Verhältnis steht diese ungewöhnliche zweite Autorisierung mit der zeitgenössischen Novellentheorie und deren Utopie eines künstlerischen Ganzen?
"Der große Dichter […] ist ein großer Realist, sehr nahe allen Wirklichkeiten " - und: "Der Lyriker kann gar nicht genug wissen, er kann gar nicht genug arbeiten, er muß an allem nahe dran sein, er muß sich orientieren, wo die Welt heute hält, welche Stunde an diesem Mittag über der Erde steht« -, das fordert Benn in seinen »Problemen der Lyrik". Mit Blick auf die Entwicklung seiner lyrischen Diktion folgt Benn diesem Imperativ "Erkenne die Lage!" (IV/362) - in geradezu stupender Weise: Ende 1941 ist für ihn die deutsche Niederlage absehbar, zum Weihnachtsfest 1941 übersendet er Oelze das Gesamt der "Biographische[n] Gedichte", welche die Keimzelle der späteren Sammlung der "Statischen Gedichte" (1948) ausmachen, und beginnt, mit einem geänderten lyrischen Stil zu experimentieren. Dieser ist durch seine Prosanähe, die Aufgabe eines geregelten Vers- und Strophenbaus und vor allem den Verzicht auf den Reim gekennzeichnet.
Die Bedeutung dieser Gegenstände ist an ihre Besitzerin geknüpft, nach ihrem Tod sind sie wertlos geworden. Malte setzt sich mit der für ihn schmerzlichen Notwendigkeit auseinander, dass sich demgegenüber das, was er schreibt, mit neuen Bedeutungen füllen wird, weil es etwas "Großes" ist, ein zusammenhängender Text, ein "Gewebe". Er selbst fühlt sich bei dieser Vorstellung "zerbrochen", denn dauerhaft scheint er selbst kein fester Teil seines Werks zu sein.
Gewaltige Freude : Robert Walsers "Genreszenen" des Ersten Weltkriegs in der "Neuen Zürcher Zeitung"
(2017)
"Beim Militär ist manches ohne Frage riesig nett und hübsch, wie z. B. mit Musik durch friedliche, freundliche Dörfer marschieren" –so beginnt ein Prosastück Robert Walsers in der Neuen Zürcher Zeitung(NZZ) vom 5. September 1915 – da befindet sich Europa seit gut einem Jahr im Krieg. Der Erzähler plaudert munter drauflos, dass er nicht nur den Frieden, sondern auch "das Militär hübsch" finde und gar nicht so recht wisse, wie er mit diesem sonderbaren Widerspruch zurechtkommen könne. Der Text steht "unter dem Strich", der in den Tageszeitungen das Feuilleton vom politischen Teil trennte, und gehört in eine Reihe von weiteren idyllisierenden, humoristisch anmutenden Prosastücken Walsers in der NZZ dieser Kriegsjahre: "Denke dran!" (November 1914), "Haarschneiden" (April 1916), "Das Kind" (Mai 1916) und "Nervös" (Juni 1916) wurden in der Bieler Zeit des Autors publiziert, der 1913 Berlin verlassen hatte und in seinen Geburtsort an der deutsch-französischen Sprachgrenze Biel/Bienne –in die Schweiz also – zurückgekehrt war.
In Kontext eines modernen Interesses an als archaisch markierten Denkformen steht auch Benjamins im Jahr 1933 verfasster, zu Lebzeiten jedoch unpublizierter Aufsatz mit dem Titel Lehre vom Ähnlichen. Als Vorstufe existieren zwei wohl 1932 verfasste kurze Arbeiten "Zur Astrologie" und "Zur Erfahrung" sowie eine Umschrift aus dem Jahr 1934 mit dem Titel "Über das mimetische Vermögen". Diese Texte Benjamins werden vornehmlich aufgrund der darin enthaltenen sprachtheoretischen Überlegungen meist als Aktualisierungsversuch von Benjamins frühen Arbeiten zur Sprachphilosophie gesehen oder in Beziehung zum Problem der Erinnerung gesetzt, wie es sich von Benjamins Proust-Lektüren und der Berliner Kindheit um 1900 her ergibt. Benjamins Texte zum Problem der Ähnlichkeit lassen sich jedoch auch in einen thematisch und zeitlich näherliegenden Zusammenhang stellen: Der Arbeit an Benjamins groß angelegtem, unvollendetem Werk über die Pariser Passagen, die sich von 1927 bis zu Benjamins Tod 1940 erstreckt.
[W]elche Rolle spielen […] Mythen in der Literatur? D.h. welche Funktionen sind mit der Rezeption von Mythen verknüpft? Diese allgemeine und einfache Fragestellung wird im Rahmen der vorliegenden Arbeit dahingehend präzisiert, dass die Bedeutungsgehalte der Mythenkomplexe in den beiden Nachkriegsromanen 'Hamlet oder Die lange Nacht nimmt ein Ende' (1946) von Alfred Döblin und 'Nekyia. Bericht eines Überlebenden' (1947) von Hans Erich Nossack auf ihre Affinität zum Geschlechteraspekt hin befragt werden. Dieser Ansatz bietet sich ganz besonders an, weil Mythen als Teil des kulturellen Gedächtnisses und somit als kulturelle Repräsentationsformen überhaupt Geschlechterverhältnisse sowie Geschlechterrollen mitprägen und demzufolge bei der Erzeugung der Geschlechterdifferenz mitbestimmend werden. Diese beiden Romane behandeln zunächst zeitgeschichtliche Problemfelder, d.h. sie setzen sich primär mit der Kriegs- bzw. Schuldfrage auseinander. Allerdings erfährt diese Fragestellung eine tiefgreifende Transformation, denn bemerkenswerterweise werden hier mithilfe der Rezeption von bestimmten Mythenkomplexen Geschlechterdiskurse, genauer Weiblichkeitsdiskurse zum Tragen gebracht, die der anfänglichen Thematik von Krieg und Schuld einen gänzlich anderen Akzent verleihen.
Im Folgenden soll es zunächst darum gehen, den Mythos aus kulturwissenschaftlicher sowie mythostheoretischer Perspektive einzuordnen. Anschließend werde ich mich auf die Analyse der genannten Romane konzentrieren.
Der Beitrag nimmt das komplizierte Verhältnis zwischen Geschichtsdarstellung, politischer Instrumentalisierung und dramatischer Gestaltung in den Blick. In exemplarischen Analysen ausgewählter Dramen von Ernst Toller, Emil Ludwig und Alfons Paquet wird deutlich, wie die Bühne nicht nur politisch aufklären, sondern darüber hinaus unmittelbar politisch wirken soll. Die jüngste Geschichte dient so als Material für (z. T. avantgardistische, z. T. ästhetisch konventionelle) dramatische Entwürfe, die den Zuschauer sowohl zur kritischen Reflexion als auch zu eigenem Handeln anregen sollen.
Im Grunde begann alles wie im Märchen: Es war einmal ein sehr reicher Mann. Er hieß Eugen Esslinger und war ein gütiger, feingliedrig gebauter Mensch. Zwar empfand er sich als kränklich, war aber äußerst reisefreudig (er bestieg sogar das Matterhorn!) und interessierte sich für Kunst. Eugen Esslinger wurde 1871 als Sohn wohlhabender jüdischer Eltern geboren. Bis zum Ersten Weltkrieg brauchte er keinem Beruf nachzugehen, weil er ein außerordentlich großes Vermögen erbte. Was ihm fehlte, war eine Frau. "Eine brave Frau werde ich haben! Comme tout le monde - nicht ganz. - Hübsch soll sie sein, von den Klügeren und fein musikalisch muß sie sein - Also nicht mehr Künstlerin und Frauenrechtlerin, etc." Eugen Esslinger war homosexuell. Eine Ehe, so glaubte er, würde diesen Makel tilgen. Nach jahrelangem Suchen fand er die passende Frau. Es war Emilie ("Mila") Rauch, geboren 1886 als uneheliches Kind in Linz (ihre Mutter war Witwe, der Vater war ihr unbekannt).
Nach der Befreiung des Konzentrationslagers Theresienstadt am 9. Mai 1945 fand die dort seit Februar inhaftierte Journalistin Eva Noack-Mosse eine kleine Anzahl von Gedichten und Gedichtfragmenten auf "Fetzen armseligen Papiers [...] meist mit Bleistift gekritzelt, vielfach durchgestrichen und verbessert, oft verlöscht und schwer lesbar." Sie wurden der dort am 19. April 1945 verstorbenen Kunsthistorikerin und Dichterin Gertrud Kantorowicz zugeschrieben und gehörten zu der "unübersehbaren Flut" von Versen, die sich laut Hans Günther Adlers monumentaler Geschichte von Theresienstadt über das Lager ergoss. Er sah in den meisten nur "ein einsames Gesellschaftsspiel mit sich selbst," denn noch "ein klapperndes Versmaß verspricht mehr Schutz und Bestand als das Fristen eines zerhämmerten und gnadenlosen Daseins." Geht man aber von der persönlichen Bekanntschaft der jungen Gertrud Kantorowicz mit Stefan George und den hiermit verbundenen lange nachwirkenden Anregungen aus und wird ferner berücksichtigt, welche Rolle im George-Kreis die Antike-Rezeption gespielt hat, so ist es nicht mehr so verwunderlich, dass die meisten Theresienstadt-Gedichte Kantorowicz' in antikisierenden Versformen und im hohen Stil gehalten sind; das ist nicht nur eine unerhörte Verfremdung der herabziehenden und demütigenden Lagererfahrung, sondern auch ein Sich-Erheben über Schmutz, Gewalt und Ungeist, eine ganz persönlich geprägte poetische Selbstbehauptung und Widerstandshandlung. Diesen Zusammenhängen soll im Folgenden nachgegangen werden.
Germans against Hitler
(2010)
"The sun shines, and Hitler is master of this city. The sun shines, and dozens of my friends are in prison, possibly dead. Thousands of people like Frl. Schroeder are acclimatizing themselves, like an animal which changes its coat for the winter. After all, whatever government is in power, they are doomed to live in this town." These are among the final entries in Christopher Isherwood's Berlin Diaries. Hitler has legally assumed power and Isherwood, who "can't altogether believe that any of this has really happened," will leave the city he has come to love and return to England. The Nazi Movement that began a decade ago in seedy Bavarian beer halls has now conquered its very antithesis, Prussia. It seems unstoppable. The people, as always, will adapt or perish.
Die 'Arbeitsstelle für deutschmährische Literatur' veranstaltete im Oktober 2014 anlässlich des 50. Todestags des Dichters eine Tagung über Franz Spunda. Hier zeigt sich die Bedeutung Spundas für den Veranstalter, denn trotz der erwähnten Präsenz Spundas im wissenschaftlichen Diskurs und trotz der Existenz einer - wenn auch bescheidenen - Spunda-Forschung wurde bis dato noch nie eine Spunda-Konferenz veranstaltet. Die von 3. bis 4. Oktober 2014 in der Geburtsstadt des Autors organisierte Tagung mit dem Titel 'Franz Spunda im Kontext' brachte 10 ausländische sowie inländische Wissenschaftler zusammen.
In einem nachgelassenen Heft Franz Kafkas fand ich folgende Fabel: "Von Prometheus berichten vier Sagen: Nach der ersten wurde er, weil er die Götter an die Menschen verraten hatte, am Kaukasus festgeschmiedet, und die Götter schickten Adler, die von seiner immer wachsenden Leber fraßen. Nach der zweiten drückte sich Prometheus im Schmerz vor den zuhackenden Schnäbeln immer tiefer in den Felsen, bis er mit ihm eins wurde. Nach der dritten wurde in den Jahrtausenden sein Verrat vergessen, die Götter vergaßen, die Adler, er selbst. Nach der vierten wurde man des grundlos Gewordenen müde. Die Götter wurden müde, die Adler wurden müde, die Wunde schloß sich müde.
Blieb das unerklärliche Felsgebirge. - Die Sage versucht das Unerklärliche zu erklären. Da sie aus einem Wahrheitsgrund kommt, muß sie wieder im Unerklärlichen enden."
Schließt Kafka damit die Akten über den Fall Prometheus? War das Resultat der großen Rebellion kein anderes, als wäre nichts gewesen? Oder formuliert dieser fast nüchterne Bericht im Paradox die Sehnsucht, jene Erinnerung ins Künftige zu retten? Spricht hier ein gekreuzigter Prometheus, ein Prediger des Schlosses oder dessen letzter Untertan? Rollt hier ein Prozeß der Trivialisierung ab, der Verwandlung der heroischen Tragödie ins Nichtige - wer erleidet und wen entlarvt und verlacht diese Komik: Gegenstand, Richter oder Opfer des Prozesses, das Publikum oder alle miteinander?
Ist die Sage, die vergangenes Geschehen mythisch berichtet, nur Illusion? Kapituliert hier historische Erinnerung vor der stummen, unbegreiflichen, immerwährenden Natur des Felsgebirges? In der alten Sage wurde Prometheus, der Helfer der Menschen, von Herakles befreit. Ist hier keine Hoffnung mehr?
In the concentration on his text, the author Franz Kafka is often reduced to the phantom of a deadly sick and Oedipus-struck inventor of abstract labyrinths in an absurd bureaucratic universe. This talk intends to reintegrate him into the landscape of various conterts of modernicy at the beginriing of the 20Ih century such as: the movement of life-reform, intellectual debates, academic research in the field of industrial accidents, changing erotic relations and the enthusiasm for new technical products. As a result, the author claims that Kafka could well be imagined as a member of the pre-war-society described by Thomas Mann in the "Magic Mountain".
Franz Carl Weiskopf wurde in der sozialistischen Literaturwissenschaft als politischer Autor interpretiert. Schaut man sich seine literarischen Anfänge im Prag der 1920er Jahre an, wird ein weiterer Aspekt seines Schaffens sichtbar: die Arbeit als Mittler zwischen deutscher und tschechischer Literatur. In diesem Beitrag wird sein Frühwerk in die Experimentierräume der Avantgarde und urbanen und kulturellen Zwischenräume Prags eingeordnet.
Die Sonette II 9 bis II 11 der Sonette an Orpheus werden in der Forschung als Gruppe bezeichnet. Man gibt der Gruppe gern ein Etikett, das diese Behauptung rechtfertigen soll. Die Argumente lauten "Neuzeit", "Modernisierungskritik" und
"Disparatheit der Welt". Allen gemein ist die Annahme eines Bezugs zu einer außerliterarischen Wirklichkeit.
In seinen während des Ersten Weltkriegs entstandenen "Betrachtungen eines Unpolitischen" widmet sich Thomas Mann im letzten Kapitel der Ironie, die er als dem Radikalismus diametral entgegengesetzte Haltung versteht (seltsamerweise erwähnt er die soeben stattgefundene Oktoberrevolution kein einziges Mal). Diese Ausführungen, die keine klare Definition des Phänomens bieten, sowie spätere Äußerungen, in denen er sich als Erzähler zur Ironie bekennt, haben erheblich darauf gewirkt, dass der sechs Jahre nach den Betrachtungen veröffentlichte, aber schon vor diesen erstmals konzipierte "Zauberberg" in der Rezeption als stark ironiehaltiges Werk betrachtet wurde und wird. Auch Musils "Mann ohne Eigenschaften" wird häufig mit Ironie in Verbindung gebracht, und eine vorurteilslose Lektüre des Romans kann diese Verbindung nur bestätigen, auch wenn Musil in seinen Schriften den Begriff selten erwähnt. Sind die beiden Spitzenromane der Zwischenkriegszeit durch ihren Ironiegehalt vereint - oder eher, weil dieser sich unterschiedlich darbietet, getrennt?
Mit fremdem Blick die eigene Kultur betrachten, um sie als Produkt spezifischer symbolischer Praktiken erkennen zu können - eine solch 'unnatürliche' Einstellung wurde in Deutschland bereits in den zwanziger und dreißiger Jahren von Autoren wie Walter Benjamin, Ernst Robert Curtius und André Jolles, in der Kunstgeschichte von der Gruppe um Aby Warburg und in der Philosophie von Ernst Cassirer betrieben. Bei aller Verschiedenheit ist diesen Autoren – über die 'Unnatürlichkeit' ihrer Einstellung hinaus – gemeinsam, daß sie die Wirkung von Literatur und Kunst auf kultisch-mythische Ursprünge zurückführen (ohne sie damit zu identifizieren). Im Rahmen dieser Versuche nimmt der Germanist Clemens Lugowski (1904-1942) mit seinem im Jahre 1932 veröffentlichten Buch „Die Form der Individualität im Roman. Studien zur inneren Struktur der frühen deutschen Prosaerzählung“ und anderen Arbeiten einen ebenso eigenständigen wie vernachlässigten Platz ein.
"Liebe Deinen Nächsten" von Remarque war als Fortsetzungstext für das US-Magazin "Collier's Weekly" gedacht und wurde 1941 zuerst in der englischen Übersetzung von Denver Lindley aufgelegt. Der Roman, dessen deutsche Fassung im selben Jahr in einem Stockholmer Verlagshaus erschien, nimmt sich eines Themenfeldes an, das auch heutzutage hochaktuell ist: des Problems der Emigration, des Heimatverlustes, der Heimatsuche und der (abhanden gekommenen) Humanität in Zeiten einer moral-menschlichen Krise, in denen Hass und Hetze gegen den Nachbarn hoch auf der Agenda stehen und toleriert werden. Remarque, der nach 1933 vor den Nationalsozialisten ins Ausland fliehen musste, brachte seinen Roman zunächst im österreichischen, später auch im französischen und Schweizer Exil zu Papier, nachdem ihm die Geschichte von einem deutschen politisch verfolgten Flüchtling zu Ohren gekommen war, der, um seine in Berlin gebliebene und im Sterbebett liegende Ehefrau zum letzten Mal zu sehen, in die Hauptstadt fährt und von seinem Widersacher verhaftet wird. Das Ziel der folgenden sich an Film und Literatur orientierenden Untersuchung besteht darin, Remarques Roman "Liebe Deinen Nächsten" aus dem Blickwinkel eines räumlichen Filmerzählens zu beleuchten, um somit auf die metamedialen Korrespondenzen aufmerksam zu machen. Ausgearbeitet werden einige narrative Aspekte, anhand deren man den literarischen Text auf sein Filmpotential hin abfragen kann.
Die frühe Moderne wendet sich gegen das erzählerische Ordnungsprinzip der Kausalität. Als einer ihrer ersten deutschsprachigen Vertreter hat Carl Einstein mit seinem poetischen Werk versucht, das kausal bestimmte Erzählen durch eine neue Form der fiktionalen Prosa zu ersetzen. In vielen seiner literaturkritischen und kunstgeschichtlichen Arbeiten wird der Begriff 'Kausalität' auch erwähnt. Allerdings bleibt es fast immer bei einem flüchtigen Hinweis, ohne daß eine Begründung für die Ablehnung der Kausalität als organisierendes Prinzip erzählender Texte geben würde. Offensichtlich setzte Einstein die Kenntnis des zeitgenössischen Diskussionszusammenhanges voraus – ein ellipitisches Verfahren, das heute, aus historischer Distanz, eine behutsame Rekonstruktion seiner Intentionen erfordert. Ich möchte insbesondere zeigen, daß der Begriff der Form als Gegenbegriff zur Kausalität auftritt, und daß dieser Gegensatz im "Bebuquin" auf aporetische Weise zur Geltung kommt.
Fantastik und Möglichkeitssinn : zur literarischen Organisation des Wissens bei Kafka und Musil
(2007)
Ich möchte mich im Folgenden mit Texten beschäftigen, die alle drei genannten Tendenzen aufweisen, ohne dass sie sich dem Genre der Utopie oder Dystopie zurechnen ließen. Diese literarischen Texte greifen die wissenschaftlichen, technischen, politischen, ökonomischen und verwaltungstechnischen Diskurse ihrer Zeit auf, deformieren sie aber gleichzeitig dadurch, dass sie sie mit poetischen überblenden. Indem die außerliterarischen Diskurse neu organisiert und arrangiert werden, werden sie gleichzeitig verfremdet: Sie erhalten Funktionen, die von ihren ursprünglichen radikal abweichen. Eben durch diese Verschiebungen und Verzerrungen können diese Diskurse überhaupt erst als solche erkannt und reflektiert werden. Franz Kafkas und Robert Musils Werke belegen dies auf ihre je eigene, aber in jedem Fall eindrucksvolle Weise. Sie zeichnen sich dadurch aus, dass sie das Wissen ihrer Zeit in seiner ganzen Vielfalt in sich geradezu aufsaugen, diese Wissenselemente aber auf eine sehr eigenwillige Art zueinander in Beziehung setzen. Wissensbestände dienen ihnen als Materialien für fundamentale Neukonstruktionen. Das soll im Folgenden an einigen markanten Beispielen demonstriert werden.
Exil und Migration : minoritäres Schreiben auf Deutsch im 20. Jahrhundert - von Kafka bis Zaimoglu
(2012)
Die Begriffe 'Exil' und 'Migration' miteinander in Beziehung zu setzen erscheint zugleich zwingend und erklärungsbedürftig. Zwingend ist es aus systematischen Gründen, denn wer freiwillig oder gezwungenermaßen seine Heimat verlässt um ins Exil zu gehen, der wandert aus und wird zum Migranten. Für viele der nach 1933 vor den Nationalsozialisten Geflohenen begann mit der Flucht oder Vertreibung eine fundamental unsichere Zeit des Unterwegsseins, die in dem Maße wie sich der nationalsozialistische Herrschaftsbereich ausdehnte immer neue Ziele und Aufenthaltsorte bedeutete. Fast alle Migrantinnen und Migranten haben nach der Vertreibung, dem Verlust ihres bisherigen Daseins, extrem schwierige Arbeits- und Lebensbedingungen vorgefunden. Den Kunstschaffenden, vor allem den Schriftstellern, fehlte mit einem Schlag das muttersprachliche Umfeld und ein entsprechendes Publikum, was viele in ihrer intellektuellen und wirtschaftlichen Existenz bedrohte.
Das alles ist bekannt. Erklärungswürdig ist die Rede von 'Migration' gegenüber dem in der Forschungstradition häufigeren Begriff 'Emigration'. 'Migration' betont den Prozesscharakter des Auswanderns, was historisch plausibel ist und, darum soll es im Folgenden gehen, neue literaturgeschichtliche und literaturtheoretische Anschlussmöglichkeiten eröffnet. Die Beschäftigung mit den Texten, die unter den schwierigen Bedingungen des Exils entstanden sind, hat in der Nachfolge der Pionierarbeit von Walter A. Berendsohn innerhalb der Germanistik einen eigenständigen Forschungszweig hervorgebracht, dessen Institutionalisierung fortwährend von Methodendiskussionen begleitet worden ist.
Der Beitrag vergleicht verschiedene Europa-Konzeptionen prominenter österreichischer Schriftsteller der Zwischenkriegszeit, die ganz unterschiedlich begründet sind: Während Hugo von Hofmannsthals Diagnose in erster Linie ästhetisch argumentiert, sind Stefan Zweigs Europa-Essays primär gesinnungsethisch motiviert. Demgegenüber bemüht sich Robert Musil um eine anthropologisch-verantwortungsethische Beweisführung.
Im Folgenden sollen zwei literarische Freundschaftsgeschichten fokussiert werden, deren Kern in einer gewissen Zufälligkeit des Freundschaftsbundes besteht. Freundschaft erwächst bei so unterschiedlichen Autoren wie Baudelaire und Kafka aus einer Ethik der Täuschung, die im Zeichen des Bösen zu stehen scheint. Dem allgemeinen Verständnis nach beruht Freundschaft auf Gemeinsamkeit, auf Geschichte, auf Erinnerung. Die Protagonisten bei Baudelaire und Kafka kennen nichts von dem: Der Freund, von dem sie je erzählen, erscheint als zufälliger Einbruch in die Welt des literarischen Subjekts.
In der Literatur hat sich die Bestimmung der Erzählperspektive längst etabliert, aber genauso manifestiert sich auch in den visuellen Medien ein Erzähler, der das Geschehen zwar weniger mittels der Sprache, dafür im Wesentlichen über Bilder präsentiert. Durch die jeweils darin enthaltene Darstellung und die Verknüpfung der einzelnen Bilder sind diese Ausdruck einer bewussten Formung der Handlung. Der Begriff des Erzählens beschränkt sich somit nicht nur auf die Literatur, sondern trifft auch auf Visualisierungen jeglicher Art zu, da in diesen Fällen ebenso eine Instanz identifiziert werden kann, die hinter der Auswahl der Handlungselemente steht und diese perspektivisch formt. Dennoch kann der Erzähler hier nicht mehr, wie in der Literatur, im Sinne eines "Sprechers" aufgefasst werden, sondern versteht sich eher als abstraktes Konzept. Insbesondere in intermedialer Hinsicht stellt die Übertragung der Erzählperspektive von einem literarischen Text auf ein visuelles Medium eine Herausforderung dar, denn aufgrund des Medienwechsels verändern sich die Bedingungen des Erzählens. Umso schwieriger ist die Übertragung, wenn der literarische Text keinen durchweg logischen Handlungsverlauf aufweist, sondern Widersprüche und Uneindeutigkeiten im Erzählvorgang und in der Erzählperspektive beinhaltet, wie es auf Franz Kafkas 1914 entstandene Erzählung "In der Strafkolonie" zutrifft. Dieser Text dient zudem, wie auch viele andere von Kafkas Werken, als Projektionsfläche diverser, nicht selten konträrer, Deutungsansätze, die sich in der Forschungsliteratur herausgebildet haben. So wurden zahlreiche religiöse Bezüge in der Erzählung entdeckt, genauso wurde der Text aber als realistisch und somit als Kritik an Kolonialismus und Krieg verstanden. Bezug nehmend auf Kafkas Biographie und das Thema Strafe, das in zahlreichen seiner Werke zum Ausdruck kommt, wurde die Erzählung oftmals in psychoanalytischer Hinsicht gedeutet. Andererseits wurde die beschriebene Handlung auch weniger ernst genommen und vor allem auf die grotesken und ironischen Elemente verwiesen. Im Hinblick auf die unterschiedlichen Interpretationsansätze sind auch die Möglichkeiten der visuellen Umsetzung entsprechend vielfältig.
In dieser Arbeit wird anhand von drei Kurzfilmen und einem Comic, unter Berücksichtigung der spezifischen medialen Bedingungen, die Übertragung der Erzählung ins Visuelle analysiert. Dabei soll gezeigt werden, inwiefern die jeweilige Erzählperspektive die visuelle Wahrnehmung in den Filmen und im Comic bestimmt. In diesem Zusammenhang wird auch zu sehen sein, welche Deutung der Erzählung sich in der Visualisierung manifestiert und durch den Erzähler besonders hervorgehoben wird. Nicht zuletzt stellt sich dabei auch die Frage nach der Art der Umsetzung, d.h. ob bei der Adaption die Textnähe und der Inhalt im Vordergrund stehen oder ob vielmehr die Intention verfolgt wird, mit der Visualisierung der Erzählung ein neues und eigenes künstlerisches Werk zu schaffen, das dem Originaltext auf einer tiefergehenden Ebene begegnet.
Erkundungen der Moderne : László Moholy-Nagy: zwei Debatten mit Erwin Quedenfeldt und Hans Windisch
(2007)
Wir wollen nicht das objektiv der unzulänglichkeit unseres
seh- und erkenntnisvermögens unterordnen, sondern es soll
uns gerade helfen, unsere augen aufzuschließen.
Lázló Moholy-Nagy
Wenn László Moholy-Nagy in seiner Zusammenfassung einer Debatte mit Hans Windisch, die 1929 in der Avantgarde-Zeitschrift i10 erschien, in der Replik von Windisch in Klammern ein Fragezeichen ergänzt, so markiert er damit eine radikale Differenz, kennzeichnet eine Sollbruchstelle in den zeitgenössischen Debatten über die Aufgabe der Photographie, in denen es um nichts geringeres als eine Grundorientierung der Moderne insgesamt geht. Zur Diskussion steht eine grundlegende Frage der Moderne, ja die Klärung einer für "den heutigen stand der fotografie lebenswichtigen" Frage. Der Satz in der von Moholy-Nagy annotierten Fassung lautet: "die ergänzenden vorstellungen unserer einbildungskraft sind viel revolutionärer (? m-n), als es die exakteste abschrift unseres daseins ist." Es geht, mit anderen Worten, um die Klärung der Frage, ob und in welcher Weise Kunst beanspruchen könne, revolutionär zu sein und Entscheidendes zur Revolution der Wahrnehmung und auch der Denkungsart beizutragen.
Die 70er Jahre stellen einen Wendepunkt in der dramaturgischen Produktion Heiner Müllers dar. Die Produktion dieser Zeit kontrastiert effektiv mit den Stücken der Frühzeit, die, wie 'Der Lohndrücker' (1958), 'Die Korrektur' (1958), 'Die Umsiedlerin' (1961) und 'Der Bau' (1965), aufgrund von umfassenden künstlerischen Referenzen auf Brechts episches Theater üblicherweise im Kontext des Aufbaus des realen Sozialismus in der DDR situiert werden. Spätere Stücke wiederum, wie beispielsweise 'Hamletmaschine' (1977), 'Der Auftrag' (1979) und 'Quartett' (1980), sind innerhalb einer Orthodoxie des pädagogischen Theaters schwer zu verstehen. Sie sind gekennzeichnet durch die Montage von Texten verschiedenen Ursprungs, durch die Tendenz zu Chören und Monologen zum Nachteil des Dialogs und hauptsächlich durch die Zerstückelung der Fabel als Organisatorin der dramatischen Einheit des Textes. Es ist symptomatisch, dass dieses Transformationsmoment sich nach der Kritik an der Fabel richtet, denn gerade sie wurde von Brecht als das Herzstück des pädagogischen Theaters verteidigt, das heißt, als eine privilegierte Art, dem Publikum die Künstlichkeit der Situationen und die Art ihrer Darstellung bewusst zu machen. In seinen vielen Bezugnahmen auf Brecht hat Müller immer wieder hervorgehoben (und kritisiert), wie stark das epische Theater von der Fabel abhing: Das war es, was vielen Brecht'schen Texten den Charakter einer Parabel gab und sie der klassischen Wesensart versicherte.
Dieser Beitrag beabsichtigt zu zeigen, dass die Transformation von Müllers Theater in den 70er Jahren eng mit einer Abrechnung mit diesen Aspekten des Brecht'schen Theaters verbunden ist.
Zu welchem Verständnis [...] führen die von Kästners Erzähler ausgelegten Spuren in (die Berichterstattung über) das politische und diplomatische Tagesgeschehen die Leserinnen und Leser? Wer die Erzählung im Dezember 1928 in den "Danziger Neuesten Nachrichten", 1929 im Januar im "Sächsischen Volksblatt", im Juni in der "Zeitschrift der Büchergilde Gutenberg", 1930 im Januar im Wiener "Abend" und schließlich im November im "Ansageblatt des Westdeutschen Rundfunks" rezipiert, wird sich mit dem 'Diskurs', mit der 'Namenlosigkeit des Gemurmels' bescheiden müssen, zu dem sich die vielen im zeitlichen Umfeld der Veröffentlichung publizierten Äußerungen über den Völkerbund in Genf formieren (lassen), denn Genf und die dort ausagierte internationale Politik kommen in den Nummern selbst nicht zur Sprache.
Welche Verstehensschwierigkeiten der Text "Nach den Prozessen" bereitet, läßt sich nach dessen erster Lektüre bereits ansatzweise, nach weiteren Leseprozessen noch genauer beschreiben. Das Gedicht „Nach den Prozessen” ist voller Lesewiderstände, schon allein aufgrund der ineinander verschlungenen Metaphernkomplexe und metaphorischen Vieldeutigkeiten. Daher ist ein Gespräch über das Verstehen des Gedichts stets auch ein Gespräch über die Konstituiertheit von Texten und über die Prämissen eigenen Verstehens, also auch über die Bedingungen und die Grenzen der eigenen Bereitschaft, sich auf jene Arendtsche „Geschichtsschreibung” einzulassen, die selbst nicht voraussetzungslos ist, sondern der Ästhetik der Moderne und ihrem emphatischen Anspruch auf poetisch verbürgte ‘Wahrheit’ folgt. Als Alternative zur Geschlossenheit einer Gesamtinterpretation könnten in verstärktem Maße auch offene, durchaus miteinander konkurrierende Zugänge zu Autor und Werkerprobt werden.
Nachdem Gabriele Tergit in den 1930er Jahren als Autorin von Reportagen und einem ersten Roman in der Weimarer Republik sehr erfolgreich gewesen war, wurden ihre Texte in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts lange Zeit wenig oder gar nicht rezipiert. In den späten 1970er Jahren gab es eine erste kleine 'Wiederentdeckung', aber erst seitdem ihre Werke seit 2016 im Schöffling Verlag unter der Herausgeberschaft von Nicole Henneberg neu aufgelegt bzw. zum Teil überhaupt erstmals veröffentlicht werden, erfährt Tergit eine späte Anerkennung und Rezeption als eine große Autorin der Weimarer Republik und des Exils.
Ende mit Schrecken : Arnold Zweigs "Judenzählung vor Verdun" als Bild aufgeschobener Identität
(2008)
Ein Schriftsteller, dessen gesamtes Werk zwischen der Beschäftigung mit Antisemitismus einerseits und der Reflexion über den richtigen Weg des Zionismus andererseits pendelt, ist Arnold Zweig. Zweig gehörte in der alten Bundesrepublik nicht zu den bekanntesten deutsch-jüdischen Autorinnen und Autoren, doch finden sich (gerade deswegen) in seinem umfangreichen essayistischen und literarischen Werk von der literaturwissenschaftlichen Forschung noch ungehobene Schätze. Eine besonders bedeutsam funkelnde Vignette stellt der zweieinhalbseitige poetische Text mit dem Titel "Judenzählung vor Verdun" dar, der am ersten Februar 1917 in der Wochenzeitschrift 'Die Schaubühne' erscheint. In ihm konkretisiert sich die abstrakte Eingangsfrage auf emblematische Weise. In einem ersten Teil möchte ich hier den historischen und geistesgeschichtlichen Kontext von Zweigs Text aufrollen, bevor ich in einem zweiten Teil zu einer genauen Lektüre komme.
Aus historischen Analysen geht hervor, dass das Offizierskorps der österreichischen Armee nach der März-Revolution 1848 gesellschaftlich abgekapselt und isoliert war und dabei einen militärisch-aristokratischen Habitus entwickelte, der zu dem bürgerlichen in scharfem Gegensatz stand. Der Korpsgeist orientierte sich am Adel, obwohl gerade der Hochadel sich eher mit den Großbürgern zu arrangieren begann und Heiraten zwischen dem niedrigeren Militäradel und Angehörigen des Hochadels kaum vorkamen. Die Masse der Offiziere wurde bürgerlich und bitterarm, auch zu arm, um heiraten zu können; aber feudale Denkungsart gab den Ton an, ausgenommen in den technischen Waffengattungen der Artillerie und des Pionierwesens, in denen bürgerlicher Wissensdurst vorherrschte. Es entsteht ein in mancher Hinsicht recht paradoxes Bild vom österreichischen Offiziershabitus: das eines Mannes der "Praxis", der eher "grob" ist, für den Exerzieren und Reglement, somit "Disziplin" im engsten Sinne, am wichtigsten sind, der aber trotz aller Tapferkeit auf dem Schlachtfeld zu strategischer Entschlossenheit und schnellem Entscheiden nicht in der Lage ist. Warum das so ist, ist nicht ohne weiteres zu klären. Neben sogenannten "Ego-Dokumenten" ist es vor allem belletristische Literatur, von der man sich einigen Aufschluss erhofft. Insbesondere kann die Literatur helfen, jene Gefühle darstellbar zu machen, die zur Disposition männlicher Todesbereitschaft auch schon im Frieden beitragen, wobei dem Paradoxon des Nebeneinanders von tollkühner "Schneid" und Entscheidungsschwäche wie Passivität im habsburgischen Habitus nachgespürt werden soll.
Wir alle kennen den Bestand der Szene: "ein schöner Augusttag des Jahres 1913", meteorologisch bestimmt; eine Stadt in der Physiognomie futuristischer und kubistischer Bilder; ein dynamisches Feld aus Geräuschen, Bewegungen, optischen Zeichen, Rhythmen, Verdichtungen, Bündelungen, Auflösungen, Serien und Sprüngen, Leerstellen und Häufungspunkten, Energieflüssen und Statiken; und darin plötzlich "eine quer schlagende Bewegung", der berühmte Unfall, eine Synkope in der diffusen Ordnung der Dinge, ein "Loch" ins Bodenlose oder ein aufflackernder Irrsinn; dann die Entsorgung des "verunfallten" Verkehrsteilnehmers durch die "Rettungsgesellschaft", die Schließung der Lücke, das Weiterfließen der augenblickslang unterbrochenen Energieströme. Und die Menschen? "Fußgängerdunkelheit bildete wolkige Schnüre", ein Kraftfahrer "grau wie Packpapier", ein "Mann, der wie tot dalag", ein flanierendes Paar, dessen Identifizierung als Personen versucht und sogleich storniert wird, ein Paar, gesichtslos wie Figuren auf Bildern August Mackes, Skizzen aus sozialen und sprachlichen Stereotypen; selbst die "feinen Unterschiede" (Bourdieu) sind differentielle Effekte des Feldes, nicht der Inkommensurabilität von Personen. Es scheint, "daß sich ein gesetzliches und ordnungsmäßiges Ereignis vollzogen habe". Es scheint so. ...
Alfred Döblin ist einer der erfolgreichen Schriftsteller, der die Eigenschaften der Literatur und Medizinwelt in seinen Werken vereint. Problematische Beziehungen des Menschen mit sich selbst und mit seiner Umgebung, seine Zerrissenheit in der Groβstadt, seelische Krankheiten prägen seine literarischen Werke und seine literarische Kreativität steht unter dem Einfluss seiner medizinischen Kenntnisse und insbesondere unter den seelischen Motiven. Aus diesem Grunde besteht immer die Möglichkeit, in seinen Werken diesen medizinischen Einflüssen häufig zu begegnen.
Döblin stellt in der Erzählung "Die Ermordung einer Butterblume" die Erlebnisse des Herrn Michael Fischer bei einem Waldspaziergang dar. Die Komplexität der Figur wird durch den Erzähler und seine Erzählweise konkretisiert. Denn die Konstruktion des Textes ist ebenso wichtig wie der Inhalt. Deswegen führt die Konstruktion des Textes dazu, den gesamten Text durch den Erzähler und die wechselnden Erzählperspektiven aufzuklären. Außer der wichtigen Funktion des Erzählers wird die Erzählung auch mit der außerordentlichen Figur in Betracht gezogen. Die Figur ist in einer Auseinandersetzung mit sich selbst und hat seelische Probleme. Seine seelischen Probleme werden durch den Erzähler und seine Erzählweise untersucht und aufgeklärt. Die Einflüsse dieser seelischen Probleme werden durch die Verfolgung des Erzählers gefunden und die Spuren/Motive werden durch die Einstellung des Erzählers gegenüber der erzählten Welt gelöst.
Unter eine im November 1938 von Mies Blomsmarasch dahingeworfen Karikatur von Joseph Roth, die ihn als derangierten Trinker hinter einer Siphonflasche und zwei halbgefüllten Gläsern zeigt (siehe S. 289), schreibt dieser in seiner krakeligen Schrift: "Das bin ich wirklich; böse, besoffen, aber gescheit." Man könnte noch hinzufügen: allerdings auch ein Lügner. Vielfältige und variantenreiche Geschichten hat er über sein Leben erzählt und sich mit dem "romantischen" Menschen gleichgestellt, der "wie ein offener Garten [ist], in dem die Wahrheit nach Belieben ein und aus geht". Allein von "dreizehn verschiedenen Versionen über die Identität seines Vaters" weiß sein Biograph David Bronsen zu berichten. Auch bekräftigte Roth, Leutnant gewesen zu sein, gab sich jedoch nachher wieder als Einjährig-Freiwilliger aus; in den zwanziger Jahren gerierte er sich als Sozialist, unterzeichnete seine Beiträge für die Zeitschrift "Vorwärts" mit "Der rote Joseph". Ein Jahrzehnt später hingegen agierte er als Monarchist, der mit entschiedenem Nachdruck auf der Restitution des untergegangenen Habsburger Reichs beharrte. So schrieb er 1933 an Stefan Zweig: "Ich will die Monarchie wieder haben und ich will es sagen." In der Schwebe blieb sogar seine Konfession; mal gab er sich als Jude, mal als Katholik aus. Kaum verwunderlich ist es also, dass er mit seiner 'gespaltenen Zunge' seine Mitmenschen wieder und wieder verwirrte.
In Musils essayistischem Erzählstil hat die Erzählinstanz - mehr noch als direkte oder indirekte Figurenrede und Bewusstseinsdarstellung in Form von innerem Monolog oder erlebter Rede - tragenden Anteil an der erzählerischen Figurencharakterisierung. Wie Gunther Martens in seiner narratologisch ausgerichteten Analyse des "Mann ohne Eigenschaften unlängst gezeigt hat", existieren "bei Musil sehr viele erklärende Hinweise auf das Ungewusste und das Unbewusste der Figuren, wobei es sich eher um ein soziales als um ein psychologisches Unbewusstes handelt." Die im Folgenden unternommene Sozioanalyse der in ihrer Relevanz für den gesamten romanesken Handlungsaufbau bisher meist unterschätzten Figur des Generals Stumm von Bordwehr kann über weite Strecken direkt auf die Bemerkungen der Erzählinstanz zurückgreifen und die erhaltenen Informationen durch eine angemessene Berücksichtigung indirekter Charakterisierungsformen sinnvoll ergänzen, denn "Musil charakterisiert seine Nebenfiguren vor allem über ihre unfreiwilligen Tics, Reflexe und Gewohnheiten." [...] Aus den Überlegungen sollte insgesamt Folgendes ersichtlich werden: Die umsichtige literarische Gestaltung eines "zivilen Habitus" sowie das damit einhergehende tölpelhafte Auftreten des "unmilitärischen" Generals, der als Vertreter der "Pastoralmacht" im Romankontext eine figurale Verkörperung des "strukturellen Herrschaftsmodus" der Moderne darstellt, ermöglichen Stumm von Bordwehrs Funktion als "tätiges Werkzeug" des kakanischen Militarismus bzw. als Vertreter der "auf den Krieg hinarbeitenden gesellschaftlichen Kräfte". Mit dieser subtilen literarischen Habitusformung gelingt Musil nicht nur eine erzählerisch überzeugende Motivierung des geplanten romanesken Handlungsverlaufs, sondern zudem eine bestechende Analyse entscheidender sozialer Entwicklungstendenzen des 20. Jahrhunderts.
Die kulturhistorische Forschung hat Gertrud Kantorowicz (1876-1945) - anders als ihren Cousin, den berühmten Mediävisten Ernst Kantorowicz - nur gelegentlich beachtet. Dabei hat die Simmel-Vertraute, promovierte Kunsthistorikerin und wohl einzige Dichterin des George-Kreises ein nicht unbeträchtliches Werk hinterlassen, darunter etwa eine bislang nicht gewürdigte Reihe von Michelangelo-Nachdichtungen und die bedeutende Übersetzung von Bergsons "L'évolution créatrice".
Rilkes Brief vom 30. Oktober 1926 an Eduard Korrodi (1885-1955), mit dem der Dichter seine Übertragung von Paul Valérys Prosatext "Tante Berthe" der Neuen Zürcher Zeitung zur Publikation anbot, mag manchen bekannt sein. Er befindet sich in Privat-Besitz, doch gelangte ein Teil davon aus einem Auktions-Katalog in die Rilke-Chronik. Der Adressat des Briefes hatte in Zürich und Berlin Germanistik studiert und 1912 mit einer Arbeit über Conrad Ferdinand Meyer promoviert. Von 1914 bis 1950 war er Feuilletonchef der Neuen Zürcher Zeitung. Obwohl Korrodi für eine weltoffene Schweiz eintrat, stand er literarischen Innovationen und der Emigrierung deutscher Autoren in den Jahren 1933-45 kritisch gegenüber, was bei einigen Intellektuellen auf Widerstand stieß. Mit Rilke, dessen Werk er schon früh kommentierte und dessen "Doppelzüngigkeit" er gegen Angriffe aus dem deutschen Sprachraum vehement verteidigte, verband ihn indes eine ungetrübte Freundschaft. Sie kam u. a. in seiner Grabrede und seiner späteren "Erinnerung an einen Dichter" zum Ausdruck. Hier der vollständige Inhalt von Rilkes letztem Brief an ihn, der im handgeschriebenen Original zwei Seiten einnimmt und die Unterschrift in einen schwungvollen "Kometenschweif" münden lässt.
Betrachtet man die Wissenstradition der westlichen Welt und ihre Kultur, so scheint es, als ob diese in zwei gegensätzliche Pole aufgespaltet wäre, die auf den ersten Blick wenig miteinander gemein haben. Auf der einen Seite steht eine literarisch-geisteswissenschaftliche Intelligenz, der eine naturwissenschaftliche Intelligenz gegenübersteht. Diese vermeintliche kulturelle Dichotomie ist der Hintergrund, vor dem sich die Frage nach dem Verhältnis von Literatur und Naturwissenschaft bewegt.
"Draw a mark!" (Spencer-Brown 1994, 69), "zeichne" oder "ziehe eine Mark!", wie das deutsche Wort für "Grenze" hieß, bevor im Mittelalter sich ein Wortgrenzen-Übergang bildete und das altslawische bzw. polnische Wort "granica" die Mark ersetzte (vgl. u.a. Breysach et al. 2003). "Draw a mark!", und schon ist der Raum nicht mehr unbegrenzt, grenzenlos. Mit dem ersten Strich, der ersten Linie entstehen zwei Seiten, die Markierung zeichnet eine Unterscheidung. Kulturen entstehen, der Raum wird immer stärker gekerbt – bis der Mensch sich in den Kerbungen verfangen hat und ein Unbehagen in der Kultur erfährt. Aber so weit sind wir noch nicht. Treffen wir auch hier zunächst eine Unterscheidung, und zwar diejenige zwischen fest und flüssig. Im Agricola setzt Tacitus das Wort "limes" dem Wort "ripa" entgegen: Landgrenze, "die aber durch einen Weg gekennzeichnet wurde", versus Flussgrenze (Waldherr 2009, 19f.). Im "Zehntland" Baden-Württemberg meint diese Unterscheidung den UNESCO-Limes auf der einen (nördlichen) Seite des Landes und den "ripa" Rhein auf der anderen (westlichen). Um genau diese flüssige, fließende Grenzschneise zwischen Vogesen und Schwarzwald, den Rhein, soll es im Folgenden gehen. Jahrhundertelang und bis weit ins 20. Jahrhundert hinein hart umkämpft, waren die Verstetigung und Befriedung seiner Übergänge eine wesentliche Voraussetzung für die Möglichkeit der Entstehung einer Europäischen Union mit einer grenzfreien "Schengen"-Zone.
Um das Ende eines Denkmals geht es in Joseph Roths Erzählung "Die Büste des Kaisers". In ihr ist das Denkmal Zeichen und Sinnbild für einen allgemeinen Mythos, hinter dem jedoch ein zweiter, ein "persönlicher Mythos" des Autors Joseph Roth erkennbar wird. Diesem Doppelaspekt einer verborgenen autobiographischen Rede, eines "verschwiegenen Ich" hinter der manifesten Schicht der erzählten Geschichte gilt die folgende Deutung.
Ein Brief Heinrich Zimmers über den Zustand Europas und das Exil / mitgeteilt von Martin Stern
(2008)
Heinrich Zimmer, Professor für Indologie an der Universität Heidelberg und seit 1928 Schwiegersohn Hugo von Hofmannsthals, verlor im Zuge der "Arisierung" 1938 seinen Lehrstuhl und emigrierte zusammen mit seiner Gattin Christiane, seinen Kindern und der Witwe Hofmannsthals zunächst nach England, wo er 1939/40 am Balliol College der Oxford University unterrichtete, bevor die Familie 1942 nach New York übersiedelte. Von den Erlebnissen im Exil und den damit verbundenen geschichtsphilosophischen und persönlichen Überlegungen berichtet der folgende Brief. Er ist an Professor Edgar Salin gerichtet, der von 1927 bis 1962 an der Universität Basel Sozial- und Staatswissenschaften lehrte und mit Heinrich Zimmer befreundet war.
Schon bei einer rein lexikalisch orientierten Lektüre von Kafkas Erzählung 'Das Urteil' drängt sich die Hypothese auf, dass die Semantik des 'Verkehrs' das Sinnzentrum dieser Novelle bildet: Kumulativ und mit einer geradezu pointenhaften Zuspitzung verdichtet sich der Kern des narrativ gestalteten Konflikts in diesem Wortfeld und lädt zu einer Analyse ein, die Rekurrenz als Varianz (im Sinne einer metamorphotischen Wiederkehr des Verdrängten) verstehbar macht. Eine Analyse der 'Verkehrs'-Semantik in Kafkas Urteil, die in der Forschung bislang noch nicht unternommen wurde, scheint daher lohnend. Stehen das leitmotivisch wiederholte mot-clé 'Verkehr' bzw. seine Synonyme doch offenbar für das Sinn-Zentrum der Erzählung und erfüllen damit jene Funktion, die dem 'Falken' im Rahmen der traditionellen Novellen-Typologie zugeschrieben wird: die kognitive Funktion, eine zunächst verborgene oder verschlüsselte Botschaft verstehbar zu machen. Dabei ist es keineswegs damit getan, die übliche Semantik des Wortes 'Verkehr' lexikologisch aufzufächern, vielmehr ergibt sich - so meine These - die 'Bedeutung' dieses Wortes im Urteil erst aus dem Zusammenspiel affiner und assoziativ vernetzter bzw. kontaminierter Semantiken, die für diesen und nur für diesen Einzeltext charakteristisch sind.
Egon Erwin Kisch
(2006)
So abenteuerlich die Wege von deutschen Exilschriftstellerinnen und -schriftstellern des letzten Jahrhunderts waren, so verworren sind meist auch die Wege ihrer Nachlässe. Selten finden sich alle Manuskripte, Briefe und persönlichen Gegenstände an einem Ort versammelt. Häufig verteilen sich Nachlässe auf verschiedene Orte und Länder. Im schlimmsten Fall hat überhaupt niemand etwas aufbewahrt. Der Nachlass des Schriftstellers und Philosophen Hermann Borchardt (1888–1951) findet sich an zwei Standorten: im Deutschen Exilarchiv 1933–1945 in Frankfurt am Main, wohin ihn der verdienstvolle Exilforscher John M. Spalek überführte, und in der Rubenstein Rare Book & Manuscript Library in Durham, North Carolina. Ein unerwarteter Fund, den mein Kollege Christoph Hesse und ich dort machten, veranlasste uns, Borchardt mit einer Werkedition als wichtigen Schriftsteller des Exils zu würdigen.
In seinem Buch 'Die Verortung der Kultur' analysiert Homi Bhabha das Verhältnis zwischen Literatur, Blasphemie und dem Heiligen. Ihm zufolge ist Blasphemie nicht lediglich eine säkularisierte Fehldarstellung des Heiligen, sondern vielmehr ein Moment, in dem der Inhalt einer kulturellen Tradition im Akt der Übersetzung überwältigt oder verfremdet wird. Bezugnehmend auf Salman Rushdies Roman 'Die Satanischen Verse' stellt Bhabha fest, dass Rushdie einen Raum diskursiver Gegenüberstellung eröffne, der die Autorität des Korans in eine Perspektive des historischen und kulturellen Relativismus hineinstelle.
Zwei Erkenntnisse möchte ich in diesem Ansatz herausheben: Erstens die Kategorie der Übersetzung, die darin besteht, andere artikulatorische Positionen und Möglichkeiten aufzuzeigen. Die zweite Erkenntnis betrifft den historischen und kulturellen Relativismus. Dieser Relativismus ist meines Erachtens für die Heiligkeitsdeutung von entscheidender Bedeutung, da er jegliche festgefahrene und absolute Deutung des Heiligen zunichte macht und die Polyphonie bzw. die Vielfalt der Heiligkeitsauffassungen zulässt. Insbesondere in einem Lebenskontext, der zunehmend von religiöser und kultureller Pluralität gekennzeichnet ist, ist eine solche Vielfalt entscheidend.
Über das Verhältnis von Literatur und Wirklichkeit ist unendlich viel geschrieben worden, die Überlegungen zum Begriff der Fiktion füllen Hunderte von Abhandlungen. Besonders schwierig wird es dort, wo es um lyrische Texte geht, bei denen nicht einmal sicher ist, ob und - wenn ja - in welchem Sinne sie denn überhaupt dem Bereich der Fiktion zuzurechnen sind. Bekanntlich haben sich nicht nur Literaturtheoretiker, sondern auch Autoren mit dieser Frage beschäftigt. Allerdings waren etwa Hugo von Hofmannsthal und Gottfried Benn, um die es hier gehen soll, wohl kaum an hochabstrakten Einsichten interessiert. Ihr Interesse galt eher dem Versuch, Erfahrungen in ausreichender Klarheit zu formulieren, die sie mit ihren eigenen Gedichten machten.
Die französischen Gedichte Rilkes können trotz einiger Interpretationen, die ausschließlich die späteren Gedichte betreffen, noch weitgehend als oeuvre inconnue bezeichnet werden, dies gilt im besonderen Maße für die vor 1923 entstandenen Gedichte, die im Allgemeinen als wenig interessant gelten. Dass das 1920 in Bern entstandene Gedicht "Nénuphar" durchaus literarische Qualitäten hat, soll im Folgenden
gezeigt werden.
In der heutigen Epoche von Radikalismen, politischer und existentieller Unbehaustheit und vermeintlich in die Krise geratener Männlichkeit wird die "vaterlose Gesellschaft" (Matthias Matussek) oft als Ursache für vielfache Fehlentwicklungen insbesondere der Söhne betrachtet und geradezu zur conditio humana der westlichen Welt erklärt. Zwar wird diese 'Vaterlosigkeit' vor allem im rechtskonservativen Lager immer wieder als Verlustgeschichte natürlicher männlicher Vorherrschaft bedauert, aber auch ein kritisch-engagierter Autor wie Milo Rau scheint in seinem Theaterstück Civil Wars ein (Ideal-)Bild normal-autoritärer väterlicher Männlichkeit zu vermitteln, insofern besonders das problematische Verhältnis zum Vater das Stück leitmotivisch durchzieht und als Ursache für die psychosoziale Fehlentwicklung der Figuren aufgeführt wird.
Um 1900 wurde diese heute so oft beklagte vaterlose Gesellschaft aber geradezu herbeigesehnt: Nicht nur die eben erst gegründete bürgerliche Jugendbewegung, sondern auch die reformwillige wilhelminische Elternschaft, die im morbiden Aufbruch der (männlichen) Jugend ihre eigenen politischen Hoffnungen zu realisieren wünschte, erhoben den Vatermord provokativ zum Teil ihres Programms.