830 Literaturen germanischer Sprachen; Deutsche Literatur
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Selbstverständlich wird für die Verwirklichung der posthumanen Welt vorausgesetzt, dass der humanistisch-anthropozentrische Menschenbegriff bzw. seine Geschichte zu einem Ende gelangt sind. Denn die Idee des Posthumanen beinhaltet im wörtlichen Sinne eine Vorstellung des Menschen, der nach dem humanistischen Menschen kommt. Daher muss der posthumane Diskurs nicht im Kontext der apokalyptischen Weltanschauung als das Verschwinden der Menschheit oder als eine 'Auslöschungsfantasie' betrachtet werden, sondern in der kommenden historischen Phase als ein neues Ethos, wodurch man den neuen Menschen definieren kann.
Diese Ansicht wird im dritten Roman von Christian Kracht, Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten (2008), verdeutlicht: Der Roman wurde seit seinem Erscheinen zwar hauptsächlich als ein dystopischer Roman, eine Geschichte von der Endzeit aller Zivilisation gelesen, kann aber ebenso dahingehend verstanden werden, dass das Verschwinden der humanistischen Welt, die in Europa entwickelt worden ist, die Voraussetzung für den Anbruch eines neuen Zeitalters bzw. Menschen bildet. Im Folgenden werde ich mich zuerst den neuen Menschenbildern, die mit der Technik verbessert und zusammengeschlossen werden, annähern und einen Überblick über verschiedene Ausprägungen des Posthumanismus geben.
Christian Krachts "Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten" kann dem Genre der Alternate Histories zugerechnet werden. Als solche qualifiziert er sich durch die Änderung des realweltlichen chronologischen Verlaufs der politischen Ereignisgeschichte, die ihren "point of divergence" in einer verhinderten Heimreise Lenins hat, da Russland durch eine Verseuchung des Landes weiträumig und langfristig unbewohnbar geworden ist. Lenin gründet die Schweizer Sowjet Republik, die sich zur Gegenwart der Erzählhandlung, im Jahr 2010 in einem bereits annähernd 100 Jahre dauernden Krieg gegen einen faschistischen Verbund der Deutschen und Briten befindet. Sie zeichnet sich außerdem durch weitreichende afrikanische Kolonien aus, in denen Soldaten für den europäischen Krieg rekrutiert und ausgebildet werden. Der namenlose Protagonist ist ein solcher afrikanischer Schweizer, er ist Parteikommissär in der Stadt "Neu-Bern" und bekommt zu Beginn der Erzählhandlung den Auftrag, einen jüdisch-polnischen Spion namens Brazhinsky ausfindig zu machen und festzunehmen. Auf dieser Verfolgungsjagd begleitet der Leser den Protagonisten von Neu-Bern durch die Schweizer Kriegslandschaft bis in eine gigantische Alpenfestung hinein – das Schweizer Alpenréduit.