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"Wir wissen nichts vom Sozialen, was nicht durch unser Wissen vom Natürlichen definiert wäre und umgekehrt." Was Bruno Latour für die Soziologie der modernen Wissenschaften formuliert, gilt, seit ihren Anfängen, für die von Übertragungen und Analogieschlüssen bestimmte Begriffsgeschichte der Naturlehre überhaupt: Die 'Ordnung der Dinge' in der Natur und gemäß ihrer jeweiligen Natur entspringt dem Ordnungsdenken sozialer Wesen, die ihre eigenen Belange in Orientierung an Konzeptionen der Natur zu regeln versuchen. Ein solches Denken der menschlichen in Analogie oder Kontrast zu den nichtmenschlichen Dingen setzt die kategoriale Geschiedenheit zweier Sphären voraus, deren Ordnungsmuster einander nun wechselseitig konturieren und stabilisieren.
Stifter-Gänge
(2007)
Ist 'das Ding' Stifters liebstes Substantiv, so darf 'gehen' als sein bevorzugtes Verb gelten. In der Erzählung 'Der Waldgänger' sieht sich etwa der an einem lebensweltlichen und geographischen "Scheidepunkte" innehaltende Wanderer von einer Landschaft umgeben, in der die Dinge buchstäblich ihren Gang gehen:
'Ganz oben, wo das Thal mit noch geringer Tiefe anfängt, begann auch ein winziges Wasserfädlein, neben dem Wanderer abwärts zu gehen. Es ging in dem Rinnsale neben dem Wege unhörbar und nur glizzernd vorwärts, bis es durch die Menge des durch die Höhen sickernden Wassers gestärkt vor ihm plaudernd und rauschend einher hüpfte, als wolle es ihm den Weg durch die Thalmündung hinaus zeigen [...]. Sie gingen an manchem Waldabhange, an mancher schattigen Stelle vorbei [...], sie gingen an manchen zerstreuten Häuschen, an mancher Mühle, an mancher auf einem tiefgelegenen Wiesenflecken weidenden Kuh vorüber, bis endlich nach einigen Stunden Wanderns [...] die hingebreitete große Ebene begann. Der Bach ging breit und wallend links gegen die Felder und Bäume [...]. (WG, 98f)'
Dem Gang der Dinge untersteht der Lauf der Welt. Diese Identität von Naturvorgängen und Lebensläufen immer neu, allen Irrwegen und Katastrophen, allen Sprüngen und Brüchen zum Trotz, unter Beweis stellen zu wollen, tritt Stifters Autorschaft an. Trauma und Trost seines Universums liegen beschlossen in dem fast stereotyp wiederkehrenden Satz: "Und so ging es immer fort."
Als Adalbert Stifters Roman „Der Nachsommer“ 1857 erscheint, hat das Bild der klassischen Antike, wie es durch Winckelmann und Goethe einen hohen Grad der Verbindlichkeit erhalten hatte, längst an Faszination und normativer Kraft eingebüßt. Im Gefolge des Historismus, der jeder Epoche ihr Eigenrecht zuerkannte, waren historische Vorstellungen an die Stelle normativer getreten. In Stifters „Nachsommer“ ist davon freilich nur wenig zu spüren. Der Roman wendet sich ostentativ gegen aktuelle Zeittendenzen und scheint für ein Festhalten an einer zeitlos-idealen Antike einzutreten. Die ausführlichen Gespräche, die der Ich-Erzähler Heinrich Drendorf mit seinem Gastgeber Risach über antike Kunst führt, wiederholen und zementieren überkommene Auffassungen. In Superlativen beschwört Risach Größe und Einfachheit der antiken Kunst; er nennt die griechische Dichtung „das Höchste“ und „was die Griechen in der Bildnerei geschaffen haben, [...] das Schönste, welches auf der Welt“ überhaupt bestehe. Stifters Antike orientiert sich, wie in der Forschung einhellig anerkannt, an Leitvorstellungen Winckelmanns, und die im „Nachsommer“ geführten Kunstgespräche treten in die Spuren der ästhetischen Debatten des ausgehenden 18. Jahrhunderts.