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Auch wenn in der Nachfolge der Aufklärung sowie mit dem Siegeszug der modernen Naturwissenschaften eine Verlustgeschichte des Transzendenzwunders geschrieben wurde und Max Weber in seinem vielzitierten Diktum von 1917 die moderne Welt als 'entzaubert' deklarierte, entpuppte sich das vermeintlich vormoderne Phänomen des Wunders in der literarischen Moderne als Reflexionsgegenstand verschiedener Fachdisziplinen. Gleichzeitig erlebte das Wunder im Drama und Theater der Moderne eine Renaissance: Jener "clamor for miracles", so George Bernard Shaw in seinem Vorwort zu 'Androcles and the Lion', wird im zweiten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts in England nicht nur diskursiv verhandelt, sondern für das Publikum durchaus bühnenwirksam eingesetzt, wie ich im Folgenden erläutern möchte.
Trotz einiger vorliegender Arbeiten zu Hofmannsthals Kunstrezeption ist die Frage nach der spezifischen Art seiner Wahrnehmung von "Bildern" und deren Bedeutung für sein Werk noch weitgehend unbeantwortet. Hier setzen die folgenden Überlungungen ein. Hoffmannsthals Interesse an bildender Kunst zeigt sich schon zu Beginn seines literarischen Schaffens: in seinem Prosagedicht "Bilder" von 1891, den Ausstellungsbesprechungen und Rezensionen [...]; später dann in seinen Einleitungen zu Mappenwerken wie Ludwig von Hofmanns "Tänzen" (1905) oder den Handzeichnungen aus der Sammlung seines Rodauner Nachbarn Benno Geiger (1920). Auch in seine Versen zu "lebenden Bildern", in den lyrischen Dramen und den Libretti, sogar in einzelnen Gedichten ist eine besondere "ikonographische" Komponente erkennbar; sie gilt im besonderen Maße für die Balette, etwa den "Triumph der Zeit", was bislang noch kaum gesehen wurde. Schließlich spiegelt sich das vitale Interesse an Kunst in den Reiseaufsätzen, in Vorträgen, Briefen und Notizen. In vielen seiner persönlichen Beziehungen (von den deutschen Zeitgenossen insbesondere zu Harry Graf Kessler, Eberhard von Bodenhausen, Alfred Walter Heymel, Julius Meier-Graefe) ist die bildende Kunst ein wichtiges kommunikativ-verbindendes Element.
Polen als Niemandsland? Deutschland als Wunderland? In der zweisprachigen Anthologie Kindheit in Polen - Kindheit in Deutschland erzählen deutsche und polnische AutorInnen - aufgewachsen in Polen, in der DDR, in Westdeutschland - aus ihrer Kindheit. In ihren Texten spiegeln sich gesellschaftliche Umbrüche, Familie und Liebe, Flucht und Vertreibung, Religion und Ideologie, inter- und transkulturelle Erfahrungen sowie die Heimatsuche der Flüchtlingskinder. Die Erzählungen, Gedichte und Erinnerungen zeigen Unterschiedliches und Gemeinsames, sie fördern den Austausch über Grenzen hinweg. Die Auseinandersetzung mit Zentrum und Peripherie bezieht sich nicht nur auf Grenzregionen, sondern betrifft auch kulturelles und literarisches Erbe. Die gegenwärtige deutsche und polnische Literatur bewegt sich in Richtung unterschiedlicher Zentren, und ihre Autoren scheinen irgendwie 'zwischen' zwei oder sogar mehreren Sprachen und Kulturen zu leben. Die im vorliegenden Beitrag analysierte Anthologie scheint ein Buch der deutsch-polnischen Begegnungen zu sein. Sie baut eine Brücke für ein gegenseitiges Verstehen unserer Vergangenheit und Gegenwart.
Klein, schwach, mit einem deformierten Rücken und einer aus heteronormativer Perspektive devianten Sexualität - auf den ersten Blick verkörpert die literarische Figur Kuno Kohn gängige antisemitische Stereotype zu Beginn des 20. Jahrhunderts. In den frühen 1910er-Jahren entworfen und in einer Vielzahl von Texten unterschiedlicher Gattungen ausgebildet, ist Kuno Kohn die Schlüsselfigur in Alfred Lichtensteins (1889–1914) Werk und zugleich Projektionsfläche für die wirkmächtigen Differenzkategorien Jewishness, Sexualität, Disability und Gender. Dichotome Kategorisierungen können die Komplexität der Figur nicht erfassen: Von Lichtenstein als grotesk überzeichnete Figur angelegt, laufen in ihr Binäroppositionen wie jüdisch/nicht jüdisch, homosexuell/heterosexuell und behindert/nicht behindert ins Leere. Statt zu versuchen, die Ambivalenzen, Vielschichtigkeiten und scheinbaren Widersprüche der Figur aufzulösen, rückt der Beitrag sie in einer intersektionalen Figurenanalyse in den Mittelpunkt. Dies lenkt den Blick auf die diskursive Co-Konstruktion der Differenzkategorien auf der Folie des Figurenkörpers und offenbart das subversive, queere Potenzial, das der Figur eingeschrieben ist.
"Übersetzt", "eingeleitet", "herausgegeben von Marie Herzfeld" - so oder ähnlich steht es auf zahlreichen Titelblättern der Jahrhundertwende. Was sich dahinter verbirgt, ist eine kleine Bibliothek literarischer und kulturhistorischer Texte aus verschiedenen Sprachen, welche die Schriftstellerin Marie Herzfeld (1855-1940) einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich gemacht hat; vornehmlich skandinavische Literatur und Texte der italienischen Renaissance. Wenn der Name Jacob Burckhardts für eine "große Erzählung" der Renaissance steht, so betreibt Herzfeld mit ihren "Quellentexten zur Geschichte der italienischen Kultur", zwischen 1910 und 1927 im Eugen Diederichs Verlag erschienen, eine Art kleine kulturgeschichtliche Archäologie. Sie präsentiert frühneuzeitliche Originale und bietet den Lesern einen unverstellten Blick auf deren Fremdheit; andererseits gibt sie Verständnishilfen, holt das Vergangene gleichsam zoomartig heran und "verlebendigt" es durch ihren Kommentar. Ihr Focus ist ein kulturwissenschaftlicher - auch im heutigen Sprachgebrauch. Die Spurensicherung dieser Imellektuellen ohne akademische Ausbildung im engeren Sinn und ohne institutionellen Status wirft die Frage auf, wie kulturwissenschaftliche Gegenstände von Positionen der Randständigkeit entstehen können. So gefragt, ist es weder naiv noch vermessen, Marie Herzfeld für die Anfänge der Kulturwissenschaften in den Dienst zu nehmen. Allerdings bleibt das Problem, mit einem Begriff hantieren zu müssen, der nicht nur unscharf ist, sondern auch oder gerade deswegen gegenwärtig beinahe inflationär gebraucht wird – ein Schicksal, das er mit dem der "Cultur" im "fin de siècle" teilt.
So wie man sich bei der Laterna magica der Illusion einer Geistererscheinung hingeben und gleichzeitig wissen kann, daß es sich 'lediglich' um eine Darstellung handelt, so kann man auch in der Kunst zwei Ebenen des Rezipienten "separat" ansprechen: seine Sinne und seinen Verstand. Für die Literatur, in die man diese medialen Effekte nicht "tatsächlich" integrieren kann, wird die Magia naturalis zum "metaphorischen" Modell. Einer der Literaten, der diesen Transformationsproze theoretisch und praktisch durchführt, ist Jean Paul.
In Ulrichs von Liechtenstein Frauendienst tauchen zahlreiche Motive auf, welche von einem weitgehenden Kulturtransfer zeugen dürften. Das deutlichste Beispiel dafür ist die Venusfahrt des Erzählers, wobei der bislang abgewiesene Ritter den Einsatz deutlich erhöht, und eine im Ganzen vollkommen inszenierte Liebesfahrt unternimmt. Dabei schafft er nicht nur zwischen seiner eigenen ritterlichen Kultur und der weit entfernten Antike eine plakative Verbindung, sondern versucht, dank der Instrumentalisierung der Liebestradition, von der verachteten Peripherie her ins ersehnte Zentrum zu gelangen.
Paul Celans Beziehung zur Avantgarde, genauer zur experimentellen Poesie, war ambivalent. Sie gehörte einerseits deutlich zu seiner dichterischen Entwicklung und Herausbildung seiner eigenen poetischen Sprache bis hin zu seiner Spätdichtung; andererseits genügte ihr reiner Ausdruck nicht seinen hohen ethisch-humanistischen Ansprüchen. Doch das, was oft auch in Celans Gelegenheitsdichtung als bloßes, harmloses, ja humorvolles Sprachspiel aussah, wird in seiner 'gültigen' Dichtung zu einem ernsten Instrument der Provokation und Warnung, das eine komplexe poetische Narrenmaske entstehen lässt. Der Beitrag versucht Celans Beziehung zur experimentellen Lyrik aufgrund der Vielschichtigkeit eben dieser dichterischen Narrenmaske zu durchleuchten.
»Der Kanon regelt Zuordnung und Ausgrenzung, Ja und Nein zu einem Text, es ergibt sich eine Serie von Opposition[spaar]en.« Diese Grundannahme ist, wie ich meine, die Voraussetzung jeder Auseinandersetzung mit der Frage »A Canon of Our Own?« und betrifft den literarischen Kanon in gleicher Weise wie den (literatur-)theoretischen Kanon, obwohl die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Letzterem seltener und wenn doch, so interessengeleiteter stattzufinden scheint und sich zudem häufig in Polemiken erschöpft. Auch der Titel meines Aufsatzes enthält ein Paar, wenngleich das »&« zwischen den Theorien den Anschein von Symmetrie, von Zusammengehörigkeit, nicht von Gegensätzlichkeit erweckt. In der Folge meiner Bestandsaufnahme dieser Theorien innerhalb der germanistischen Literaturwissenschaft und meines Versuchs einer weiteren Perspektivierung und Verschränkung derselben wird deutlich, dass definitiv ein hierarchisches Gefälle hinsichtlich deren Rezeption existiert. Es zeigt sich, dass die Kanonisierungsprozesse unterschiedlich und v.a. zeitversetzt verlaufen – ungeachtet dessen, wie Kanones bzw. »das ihnen anhaftende Phantasma von überzeitlicher und überregionaler Gültigkeit« per se zu bewerten sind.
Oswald Wieners sogenannter 'Roman' gilt als Kultbuch. Gleichzeitig ist es ein total 'klugscheißerisches' Buch. Ich möchte dem Gewaltpotential dieses Werkes nachspüren: Mündet dieses in einen destruktiven anti-humanistischen Karneval (M. Bachtin) und trachtet den Menschen (als sprach- und dialogbegabtes Wesen) zu vernichten? Oder sucht es als Kunstwerk doch noch den 'Dialog' mit seinen RezipientInnen?
In genauer Umkehrung des Programms der rhetorischen Kalkulierbarkeit expressiver Gesten einerseits, des Topos ihrer Ursprünglichkeit und Inkommensurabilität andererseits, werden die Bewegungen des Körpers wie die Affekte der Seele nun also als experimentell generierte Reaktionen begriffen. Die Gebärden des Körpers sind unter diesen Prämissen zwar immer noch Ausdruck eines inneren Zustands, dieser Zustand selbst aber ist dem Eindruck gezielt induzierter äußerer Reize geschuldet. Natur und Rhetorik des Körpers werden somit gleichermaßen unter die Ägide experimenteller Kalküle und Steuerungstechniken gestellt.
Wie ich im Folgenden an ausgewählten Beispielen zeigen möchte, ist dieser 'dritte Weg', den die experimentellen Wissenschaften vom Menschen zwischen die rhetorische und die empfindsame Semantik von 'Ausdruck' gebahnt haben, äußerst folgenreich gewesen: Obwohl das System der Rhetorik ebenso wie die Annahme natürlicher Empfindungen im kulturellen Gedächtnis der Moderne beide fest verankert bleiben, werden sie im Feld der Anthropologie im Zuge der Experimentalisierung der Wissenschaften vom Leben zunehmend marginalisiert. Dies allerdings nicht in dem Sinne, dass die Lebenswissenschaften sich schlicht an die Stelle vormals kulturalistisch argumentierender Paradigmen gesetzt hätten. Vielmehr legt gerade ein Prozess wie derjenige der Umcodierung expressiver Gesten zu mechanischen Reflexen die Notwendigkeit offen, Fragen der Wissenschafts- und Kulturgeschichte im Rahmen einer integralen Perspektive zu betrachten. In diesem Sinne ist auch die Geschichte des experimentellen Blicks auf Ausdrucksfiguren, um eine kulturelle Dimension zu erweitern – und das nicht nur hinsichtlich der allgemeinen Begleitumstände experimenteller Forschung wie z. B. der Materialität der Labore, der sozialen Interaktion der Forscher oder der diskursiven und nicht selten imaginären Entwürfe von Wissen.8 Vielmehr kann anhand der Geschichte der experimentellen Wissenschaften vom menschlichen Ausdruck eine ganz spezifische Dynamik der kulturellen Prägung von Wissen nachgewiesen werden: Die Experimentalisierung von Figuren des Ausdrucks führt nicht nur zur Verdrängung rhetorischer und empfindsamer Modelle, sondern wird von einem Diskurs mitgeschrieben, der von beiden Modellen bis weit ins 19. Jahrhundert hinein geprägt wird, und sei es im Modus der kritischen Reflexion: vom Diskurs der Literatur, der in dieser Hinsicht als konstitutiver Bestandteil einer Geschichte des Wissens zu betrachten ist.
Queertheorie bestimmt sich über Vorläufigkeit, die sich nicht als fixiertes System versteht, sondern als eines, das lediglich ein Instrumentarium zur Verfügung stellt, um die Logik der Spezifität von Machtbeziehungen und Machtkämpfen, etwa in literarischen Texten, zu analysieren. Insofern jeder kritischen Theorie die Verpflichtung aufgegeben ist, kritisch gegen sich selbst gewendet, auch die Möglichkeit zu denken, dass sie nicht immer da sein wird, gilt es, sich nicht im eigenen Moment einzurichten. So möchte ich im Sinne einer vorläufigen und zugleich einer strategischen Kanonisierung vorschlagen: Die germanistische Literaturwissenschaft sowohl mit postkolonialen Theorien als auch mit Gender- und Queertheorien momenthaft und gleichsam verschränkt zu perspektivieren, um dadurch neue Realisationen von Texten zum Entstehen zu bringen.
Es gibt viele Möglichkeiten der Beschreibung und Analyse von Literaturverfilmungen. Die meisten jedoch, so Hickethier, werden als Verlusterfahrung des Literarischen gewertet, da im Allgemeinen die Literatur als die eigentliche künstlerische Disziplin, der Film hingegen lediglich als moderne, technisch vermittelte Kunstform angesehen wird. Hickethier stellt in seinem Aufsatz zunächst diverse Konzepte möglicher Filmanalysen vor (der Film als Literaturverwertung, Rezeptionsergebnis, semiotischer Prozeß u.a.), wobei für ihn die Betrachtung des Mediums Film vor allem als ebenbürtige Erzähl- und Darstellungsform im Vordergrund steht. Anhand von Axel Cortis´ Film "Eine blaßblaue Frauenschrift" setzt sich Hickethier exemplarisch mit Filmgeschichte, Verschiebungen, Akzentuierungen, Rhythmisierungen des Erzählens und anderen Kriterien auseinander, wobei zahlreiche Detailanalysen den Text sehr anschaulich werden lassen. Hickethiers Analyse eignet sich besonders für den Deutschunterricht, der nicht nur durch literarische Werke, sondern auch durch deren Verfilmungen lebendig gestalten möchte.
In diesem Beitrag sollen die Differenzen zwischen der Praxis und den zeitgenössischen Idealen von Geselligkeit, Mäzenatentum und Kunstliebhaberei an Anna Amalias Hof zwischen 1775 und 1807 aufgezeigt werden. Als Voraussetzung dafür wäre es wünschenswert, alle Behauptungen der ,Musenhof‘-Legende, wie sie in den Biographien und sonstigen Publikationen über Anna Amalia und ihrem Hof kursieren, ausführlich und systematisch zu widerlegen. Dies ist im Rahmen dieses Aufsatzes nicht möglich. In den ersten Abschnitten werden daher drei Elemente der historiographischen Überhöhung, die bereits für die zeitgenössische Stilisierung des Hofs zentral waren, thesenhaft bzw. anhand von einschlägigen Gegenbeispielen zurechtgerückt. Es soll gezeigt werden, daß sich (I.) Geselligkeit und Kunstliebhaberei am ,Musen-hof‘ Anna Amalias in wesentlichen Phasen nicht im politikfreien Raum bewegten, und daß (II.) die Intentionen und Wirkungen ihres Mäzenatentums sowie damit verbundene Geselligkeitskonzepte in der Forschung überschätzt wurden. Anschließend wird (III.) genauer darauf eingegangen, wie sich die Freiräume der Herzogin als kunstliebhabender Gesellschafterin in den Jahren 1790 bis 1807 verengten. Diese verengten Freiräume werden (IV.) mit den Sinnkonstruktionen kontrastiert, die Anna Amalia und ihre Zeitgenossen ihrer Tätigkeit als Gesellschafterin, Kunstliebhaberin und Mäzenin verliehen, d.h. als Fürstin, die die Rahmenbedingungen der Geselligkeit und der künstlerischen Betätigung an ihrem Hof mitgestaltete. Mit diesen Sinnkonstruktionen wurde die Praxis von Geselligkeit, Kunstliebhaberei und Kunstförderung am Hof Anna Amalias überhöht. Dabei klafften Idealisierung und Realität phasenweise beträchtlich auseinander. Die ,Musensitz‘-Vision wurde zur ,Ideologie‘, womit hier vulgärmarxistisch ein "falsches Bewußtsein" der Realität bezeichnet wird. Am Ende ihres Lebens wurde der Herzogin diese Diskrepanz selbst bewußt. Abschließend soll (V.) gefragt werden, inwieweit die spätere historiographische ,Musenhof‘-Legende an die zeitgenössischen Stilisierungen des ,Musensitzes‘ anknüpfte, die von der Herzogin und ihrem engeren Hofstaat selbst ausgingen.
Für eine Literatur, die sich im Interim von Territorien und kulturspezifischen Denkstilen bewegt, ist das verbindende Dazwischen von anthropologischen Themen wie Heimat, Geschlecht, Tod, Identität etc. ebenso von Bedeutung wie Reflexionen über ihre literarische Gestaltung. In dieser Hinsicht gehören die Romane der Schriftstellerin und Übersetzerin Esther Kinsky "Am Fluss" (2014) und "Hain: Geländeroman" (2018) sicherlich zu den aktuell sehr interessanten und facettenreichen Texten. Der River Lea wird in Esther Kinskys Roman "Am Fluss" zur Grenzmarkierung und zugleich zu einem Wegweiser für zahlreiche Erzähltraditionen. Gleiches gilt für die Kleinstadt Olevano, die die Ich-Erzählerin in "Hain: Geländeroman" bereist. Der Beitrag möchte der Frage nachgehen, worin in beiden Texten Anteile eines gestalteten sowie gestaltenden Schreibens im Zusammenhang von Migration als einem literarästhetischen Experimentierfeld zu suchen sind.
Ich will versuchen, an einem Spezialfall der Ornamentästhetik zu zeigen, wie die Arabeske, damals auch Arabeskgroteske genannt, aufgrund ihrer traditionellen Disposition zu einem der bedeutendsten Grenzgänger innerhalb der klassizistischen Ästhetik wird: Sie ist hervorragend geeignet zum autonomen Spiel. Daher avanciert sie auf der einen Seite zum Favorit klassizistischer Ornamentästhetik, gefährdet aber auf der anderen Seite durch die ihr eigene, unbändige Einbildungskraft beständig den Ordnungsgedanken des Klassizismus. Die Arabeske als Grenze einer Grenzziehungskunst scheint mir geeignet, die Spielregeln klassizistischer Ästhetik und die Notwendigkeit oder wenigstens Möglichkeit des Übertritts zur Romantik plausibel zu machen.
Im Folgenden werden zunächst punktuell symbolische und literarische Codierungen des Schwarzmeerraumes aus russischer bzw. sowjetischer Perspektive skizziert, um dann erneut auf Brodskys Entwurf einer mentalen Topographie in "Flucht aus Byzanz" zurückzukommen. Die (sowjet-)russischen Erfahrungen und Einschreibungen konnotieren den gesamten Essay. Brodskys antiöstliches Pathos erweist sich vor dem autobiographischen Hintergrund als eine antiimperiale Geste, als Abrechnung mit der Unfreiheit des Sowjetimperiums.
Die Frage, wie sich 'Bibel' und 'Literatur' zueinander verhalten und ob es notwendig und sachgemäß ist, die Größe 'Bibel' der Größe 'Literatur' eigenständig gegenüberzustellen, präsentiert sich zunächst als ein Teilgebiet des weiten Themenfeldes 'Religion und Literatur'. Dieser Zusammenhang wird in den letzten Jahren sowohl in den Fachbereichen der Theologie, im Besonderen in der Praktischen Theologie, als auch in den Literaturwissenschaften verstärkt diskutiert. Nicht von ungefähr, denn das Thema 'Religion' hat in den Medien und im Feuilleton, wie bereits hinreichend bemerkt wurde, Konjunktur. Dies nimmt zunächst nicht wunder, denn Themen haben eben Konjunktur; sie scheinen in der öffentlichen Diskussion auf, dokumentieren Zeitstimmungen, finden ihren Niederschlag in der zeitgenössischen Kunst und Literatur und verschwinden wieder. Vertreter der Theologie zeigen sich dennoch einerseits erfreut über das neu erwachte Interesse an ihrem Fach, stellen eine "Renaissance des Religiösen" fest und begeben sich auf das Terrain der Gegenwartsliteratur, um dort den "religious turn" aufzuspüren. Andererseits kommentiert man, was man dort vorfindet, aus der Warte des 'Theologen' oder dem persönlichen religiösen Gefühl heraus. Diese Perspektive muss der Literaturwissenschaft, zumal derjenigen, die sich der Gegenwartsliteratur widmet, befremdlich erscheinen. Dementsprechend übersieht ein Teil ihrer Fachvertreter das scheinbare "Megathema" entweder, indem unter den "neuen Paradigmen der Gegenwartsliteratur" die Auseinandersetzung mit den Biowissenschaften, der Popkultur und den 'Neuen Medien' namhaft gemacht wird, 'Religion' aber nicht einmal dem Komplex der "Remythisierungen" eingliedert werden mag; oder das Erkenntnisinteresse verlagert sich auf eine gemeinsame Textgruppe 'Bibel und Literatur', wobei man zum einen nach Verarbeitungen von 'Bibel in der Literatur' fragt und zum anderen die Qualität von 'Bibel als Literatur' untersucht.
Der vorliegende Essay möchte die Verbindung von Philosophie und Religion näher ausführen und sie exemplifizieren anhand der Exegese der Bibel im 'Stern der Erlösung'. Hierfür sollen zunächst ein paar einleitende Worte zur Biographie Rosenzweigs angeführt werden, da bei diesem Denker, wie bei kaum einem zweiten der jüdischen Moderne, Leben und Werk eng aufeinander bezogen sind. Daran anschließend konzentriere ich mich auf den 'Stern', um herauszuarbeiten, wie Rosenzweig die Bibel benutzt, um gewisse für sein Denken zentrale philosophische Sachverhalte anhand von Bibelstellen zu erläutern.
Der in Pamuks Memoiren zentrale Begriff 'hüzün' lässt sich nicht einfach mit Melancholie übersetzen. Im Gegensatz zu dem individuell erlebten Gefühl der Melancholie – im Türkischen verwendet Pamuk hier den dem Französischen entlehnten Begriff 'melankoli' – beschreibt 'hüzün' ein kollektives Gefühl, das die Stadt in ihren Bewohnern auslöst. 'Hüzün' ist die Reaktion auf die Schwarzweißatmosphäre der Stadt an einem grauen Wintertag, Ausdruck der Schicksalsergebenheit ihrer Bewohner und gleichzeitig ein Gefühl, das der Anblick der Ruinen der einstmaligen osmanischen Hauptstadt im Betrachter hervorruft. Pamuks Werk zeichnet das Bild der Istanbuler als eine affektive, durch 'hüzün' verbundene Gemeinschaft. [...] Die Memoiren veranschaulichen die Faszination, die für Pamuk mit den melancholischen Porträts der Stadt in der westeuropäischen wie der türkischen Literatur, Kunst und Fotografie verbunden ist. Sie verfolgen, wie der Autor sich 'hüzün' als Quelle literarischen Schaffens zu eigen macht. Ob und zu welchem Zweck Pamuk, wie Kemal und Tanpınar vor ihm, 'hüzün' zu einem kollektiven, nationalen Affekt stilisiert, soll im Folgenden untersucht werden.
Dieser Beitrag befasst sich mit der Entwicklung von Wissen und Praktiken der Dada-Bewegung im Hinblick auf die 8. Dada-Soirée in Zürich am 9. April 1919. Innerhalb der Dada-Gruppe sticht insbesondere die Figur von Walter Serner hervor, der mit anderen als VertreterInnen der Dada-Bewegung mit zentralen Themen dieser Avantgarde auftritt, wie zum Beispiel: der Ablehnung der Autorschaft, der Vermischung von Kunst und Leben, mit Spiel oder Nihilismus als Reaktion auf den Krieg oder dem propagandistischen Element.
Abgründe und Beweggründe : zu den affektiven Implikationen eines identitätspolitischen Konflikts
(2023)
Tatjana Hofmann analysiert den "postkolonialen Revanchismus", der wesentlich zur Eskalation des Konflikts beitrug und schon Jahrzehnte vor dem Euromaidan in literarischen Werken wie Jurij Andruchovyčs "Moscoviada" (1993) artikuliert wurde, ehe er dann in der aufgeheizten Debatte nach der Präsidentschaftswahl von Petro Porošenko den innerukrainischen Literaturbetrieb dominierte und die Weiterentwicklung eines nichtessentialistischen postmodernen Raum- und Kulturdenkens erschwerte - was auch prinzipielle Fragen zu den affektiven Dispositionen literatur- und kulturwissenschaftlicher Forschung selber aufwirft.
An talentierten Literaten hat es im klassischen Weimar sicherlich nicht gemangelt - aber auch an streitbaren Männern (und Frauen) nicht. Mag der Literatur- und Bildungskanon des 19. Jahrhunderts hierüber einige zeit hinweggetäuscht haben, es wurden - spätestens mit Anbruch der Sozialgeschichte - auch andere Karten aufgedeckt, womit nicht lediglich die auf beiden Seiten der deutsch-deutschen Grenze verlaufende literaturhistorische Entdeckung des Klassenkamfes gemeint ist, vielmehr dessen spätere, macht- und institutionspolitische Aspekte berücksichtigende Version der beachtung 'feiner Unterschiede'. [...] Es ist klar geworden, dass es sich im wirkmächtigsten Dichterbund der deutschsprachigen Literaturgeschichte um ein Tun "nicht füreinander, sondern sehr viel mehr gegen die anderen" handelte; dass sich hinter der Nachbarschaft „die Front Schillers und Goethes gegen den Rest der dichtenden Welt, besonders gegen Weimaraner und jene in Jena“ - Berlin, Halle etc. - verbarg. [...] Die nachfolgenden Überlegungen sind einer der literarischen Episoden dieses Konflikts gewidmet.
Obwohl noch nicht ausreichend geklärt ist, wie belesen Schmidt im Bereich der literarischen Moderne eigentlich gewesen ist, als er um 1950 mit ersten literarischen Veröffentlichungen und um die Mitte der fünfziger Jahre sogar mit seinen ersten prosatheoretischen Entwürfen an die Öffentlichkeit trat, läßt sich seinen Äußerungen doch soviel entnehmen, daß wir seine Kenntnis der außerdeutschen europäischen Moderne wohl eher als sehr bescheiden und lückenhaft ansehen müssen. Die Quellenlage spricht dafür, daß außer Alfred Döblin, Hans Henny Jahnn, Hermann Hesse und, im Wortspielerischen, Expressionisten wie August Stramm nur wenige andere moderne Autoren ihm für sein Werk Pate gestanden haben, am wenigsten noch die großen Vertreter der europäischen Moderne. Schmidt, vom Faschismus samt der verabscheuten Wehrmachtszeit zu einem der zahlreichen 'transzendentalen Obdachlosen' der Nachkriegszeit transformiert, siedelte seine private literarische Ahnengalerie stattdessen vorzugsweise im 18. und 19. Jahrhundert an; Vorbilder waren ihm, dem selbst erklärten "Verirrten aus dem 18. Jahrhundert", unter anderem Wieland, Fouqué, Tieck, Poe, Dickens und Stifter.
Andenken
(2009)
Teilen Juden und Christen einen erheblichen Teil ihrer heiligen Texte, kommt das Abgrenzungsbedürfnis bei der Kommentierung dieser Texte umso stärker zum Tragen. Die rabbinische Bibelinterpretation der Spätantike scheint sich in der Methodik radikal von der christlichen Auslegungsweise zu unterscheiden. Neben inhaltlichen Unterschieden spielt dabei insbesondere die eigentümliche Methodik der rabbinischen Schriftauslegung eine Rolle, wie sie uns im Midrasch, der wichtigsten Gattung rabbinischer Bibelauslegung, begegnet. Obwohl es keine einheitlich christliche Auslegungsmethodik gibt, ist die Auslegung, die dem rabbinischen Midrasch für gewöhnlich gegenübergestellt wird, die Allegorie. Die aus der stoischen Interpretation Homers hervorgegangene Allegorese kommt als Methode der Bibelauslegung bereits in den Arbeiten des alexandrinischen Juden Philon zu ihrer ersten Blüte. Während die rabbinische Auslegungstradition allerdings Philon völlig unbeachtet lässt, wird er zum Vorbild der patristischen Bibelinterpretation.
Der Aufsatz stellt die Frage nach dem Zusammenhang von Topografien und experimentellen sprachlichen Verfahren bei Gert Jonke mit Blick auf seine Textsammlung 'Himmelstraße - Erdbrustplatz oder das System Wien' (1990) und interpretiert die Topografie Wiens beziehungsweise die Raumsemantiken, wie sie in dem aus Fragmenten eines Wien-Romans entstandenden Band Jonkes auftauchen, als Modelle. Die Topografie und der Raum haben, so die These, für Jonkes eigentümliche Bedeutungserweiterungen, -verschiebungen und Gegenüberstellungen eine modellierende Funktion und geben seine semantischen 'Experimente' gleichsam methodisch genau vor. Anhand verschiedener Begriffe von 'experimenteller Literatur' wird gezeigt, dass Jonkes Texte sich trotz ihrer widersprüchlichen Zuordnungen zur (post-)experimentellen Literatur mit Fragmenten einer wissenschaftlichen Sprache und Denkweise auseinandersetzen.
'Arbeit und Müßiggang' in der Literatur? Die Berechtigung der Themenstellung scheint evident, denn schon ein flüchtiger Blick in die Initialtexte der abendländischen Tradition erweist, wie sehr das westliche Denken von seinen Anfängen her über den Binarismus von Arbeit und Müßiggang gesteuert worden ist. Dies gilt zunächst für die jüdisch-christliche Schöpfungsmythe, welche den nachparadiesischen Menschen nicht nur zur Arbeit verdammt ("Verflucht sey der Acker vmb · deinen willen/ mit kummer soltu dich drauff neeren dein Leben lang / Dorn vnd Disteln sol er dir tragen / vnd solt das Kraut auff dem felde essen. Jm schweis deines Angesichts solm dein Brot essen" [Gen 3,17-19]), sondern ihm zudem abverlangt, die Mühsal des Broterwerbs in dem Bewusstsein zu verrichten, dass sie eine Strafe für die Übertretung der göttlichen Ordnung darstellt. Denn das Vermögen zur Unterscheidung von 'Gut und Böse' ist es ja, das der Mensch durch die Übertretung des göttlichen Gebotes erwirbt ("Da sprach die Schlang zum Weibe / Jr werdet mit nicht des tods sterben / Sondern Gott weis / das / welchs tags jr da von esset / so werden ewre augen auff gethan / vnd werdet sein wie Gott / vnd wissen was gut vnd böse ist" [Gen 3,4f.]). Wer nachparadiesisch müßig geht, wird nicht nur darben, sondern verstößt gegen das über den Menschen verhängte Arbeitsgebot und missachtet damit, zum zweiten Mal, die Autorität des die Ordnung der Welt setzenden Schöpfergottes. Wer hingegen arbeitet, der akzeptiert die über das Menschengeschlecht verhängte Strafe und bejaht, den ursprünglichen Verstoß bereuend, die Schöpfungsordnung. So ist mit der Vetreibung des Menschen aus dem Paradies nicht nur die Mühsal der Arbeit gesetzt, sondern ebenso der Binarismus von Arbeit und Müßiggang als ein den abendländischen Diskurs prägendes Unterscheidungswissen von einem gottgefälligen und einem gotteslästerlichen Leben.
Im Kompilationsschrifttum der Frühen Neuzeit bildet die Tragica- und Criminalliteratur eine eigene Masse. In zahllosen Historien wird ein Schreckenspanorama ausgebreitet. Vergehen mit bösen Folgen laufen auf große Verbrechen hinaus, Lug und Betrug, Liebesverirrung und Ehebruch auf Todschlag und Mord mit spätestens hier sinnverwirrten, besessenen und getriebenen Tätern. [...] Es kommt aber eine ebenso extreme, harsche Normierung hinzu. Zur Geschichte der Tat gehört unweigerlich die Hinrichtung des Täters. Die Mordnachrichten sind damit eigentlich Exekutionsberichte. Die Texte dienen auch dem Erweis 'guter Policey', die hier Zeichen setzt für die Konsolidierung der politischen und sozialen Systeme im Prozess der Frühen Neuzeit.
Mein Beitrag geht dem russischen Interesse an Vitalität und Transformation im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts nach. Dabei rücken insbesondere kulturspezifische Unterschiede zu vergleichbaren Phantasmen und Phänomenen in Westeuropa ins Blickfeld, die sich aus der Berücksichtigung der ostkirchlichen Tradition, insbesondere der orthodoxen Anthropologie, ergeben. Das Auferweckungsparadigma der russischen Moderne zeichnete sich zum einen durch seine Doppelreferenz auf Religion und Wissenschaft aus und manifestierte sich zum anderen durch die Synthese von Glauben und Technik, Kunst und Leben. Wie es zunehmend den russischen und sowjetischen Alltag durchdrang, wird anhand folgender Faktoren nachvollzogen: der Begründung der genuin russischen religionsphilosophischen Strömung des "Kosmismus", der aufkommenden performanzorientierten Konzepte des Lebendigen in Sprach- und Literaturtheorie und schließlich der Versuchsanordnungen zur Vitalisierung und Immortalisierung in Wissenschaft, kultureller Praxis und Literatur.
Aus dem Leben der Knöpfe
(2015)
Der Knopf ist ein diskretes und zugleich unabdingbares Teilstück textiler Verschlüsse und steht als solches im Zentrum erbitterter Kämpfe und subtiler Gunstbezeigungen: In seiner 'Rede an einen Knopf' aus dem Jahr 1915 gesteht Robert Walser einem schon ziemlich abgewetzten Hemdknopf seine Liebe; er dankt ihm für die in der "unauffälligsten Unauffälligkeit" zugebrachten Dienstjahre und seine weitgehend unbeachtete Leistung. In Louis Pergauds Roman 'La Guerre des boutons' (1912) hingegen wird eine Fehde zwischen den Heranwachsenden zweier südfranzösischer Dörfer als ein Kampf um Knöpfe ausgetragen, bei dem sich die Protagonisten der befeindeten Lager zwar nicht die Kehlen, wohl aber die Knopflöcher aufschlitzen und die Metallhaken und Knöpfe von Hemd und Hose schneiden.
This article aims to show that imagology is a promising method for analysing images of the European Other and the Turkish Self as expressed in Ahmet Hamdi Tanpınar's novel "Huzur" (1948; trans. "A Mind at Peace", 2007). The narrative challenges the rhetoric of early Turkish nationalism by promoting a synthesis of the national present with both the melancholically evoked Ottoman heritage and with European cultures. At the same time, the novel's protagonists stand for diverse and often contradicting conceptions of Self and Other and thus provide an insight into the various identity conflicts present in Republican Turkey.
Daß es nicht unbedingt die bewegten Bilder sind, die uns bewegen, sondern daß uns oft gerade das bewegt, was sich nicht bewegt, ist eigentlich eine triviale Alltagsbeobachtung. Sie bedürfte keiner weiteren Erörterung, wenn sie nicht in ein medienhistorisches Umfeld fiele, das alles daransetzt, sie zu falsifizieren. So stoßen wir heute häufig auf Bewegungsbilder, die unsere unwillkürliche Aufmerksamkeit affizieren und deshalb als Ursache für innere Bewegungen genommen werden, obwohl es nur Reaktionsmechanismen sind, die sich in der Habituation rasch abschleifen (D 00). ...
Bereits ein kursorischer Überblick über die Publizistik der letzten zwei Jahrzehnte lässt keinen Zweifel aufkommen: Das öffentliche Interesse an der Religion wächst. Und so streitbar die gesellschaftliche Gesamtdiagnose einer 'Wiederkehr der Religion' auch sein mag, so offenkundig ist die Wiederentdeckung der Religion im wissenschaftlichen Diskurs, in dem zahlreiche Beiträge von Autoren wie Gianni Vattimo, Jacques Derrida, Jürgen Habermas, Richard Rorty, Charles Taylor oder Hilary Putnam beredtes Zeugnis vom jüngsten Aufstieg des Religiösen zu einem der prominentesten Themen theoretischer Debatten ablegen. Diese Konjunktur hat inzwischen auch die Literaturwissenschaft erreicht, in der Kult und Opfer, religiöse Sprache und sakrale Praktiken, Märtyrer, Heilige und Propheten wieder zu wichtigen Themen geworden sind, die nicht zuletzt durch die ihnen zugeschriebene 'Andersheit' gegenüber dem Normalbetrieb der Wissenschaft Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Damit rückt auch ein Gegenstand ins Zentrum des Interesses, der nun gar nicht fremd, neu oder anders ist, sondern eher als paradigmatischer Gegenstand literaturwissenschaftlicher Forschung erscheint: die Bibel, ihre Übersetzung, Rezeption, Kritik und ihr Gebrauch, ihre Stellung in der Textkultur der Gegenwart und Vergangenheit, ihre vielfältigen Beziehungen zu literarischen Texten. Offensichtlich handelt es sich um einen Phänomenbereich, der ins Zentrum literaturwissenschaftlicher Problemstellungen reicht, und zwar in historischer nicht weniger als in systematischer Hinsicht. Schließlich hat sich die Literatur in Europa unter ständigem Bezug auf und in kontinuierlicher Auseinandersetzung mit der Bibel als 'Buch der Bücher' und 'Heiliger Schrift' herausgebildet, hat diese als Vorbild und Orientierung, als Instrument zur Autorisierung des eigenen Geltungsanspruchs, als Buch gewordene Konkurrentin und als Vorläufermodell der Dichtung gleichermaßen in Gebrauch genommen. Und ohne Zahl sind die stofflichen, motivischen, thematischen, stilistischen und kompositorischen Referenzen literarischer Texte auf die Bibel, die dabei im selben Maße als kultureller Wissensspeicher wie als ästhetisches, religiöses und gesellschaftliches Reflexionsmedium sichtbar wird.
Bild und Leidenschaft
(2010)
This experience, listening to the radio version of "The Green Hills of Earth" was the first form in which I encountered a problem that in the following years continued to haunt much of the work I have done ever since. This problem has a double aspect, since it involves both 'the visibility of the invisible' and, inseparably linked to it, that of the 'invisibility of the visible'. Far from excluding each other, as opposites are commonly expected to do, 'visibility' and 'invisibility' seem here to be inextricably linked, although not simply the same. The prominence, in the story, of repetition and recurrence, indeed of doubling, suggests that another term should be introduced to describe this curious relationship of non-exclusive opposition, that of 'divisibility'. Visibility divides itself into what is visible and what is invisible. And given the fact that this is also a question of life and death, of living and dying, the process of divisibility can be said to produce not just appearances, but 'apparitions' (which in English, unlike its 'false friend' in French, signifies 'ghosts' and not just appearances). Listening to the radio in that darkened bedroom, I think what I experienced was something like the apparition of such divisibility, by which the invisible seemed to become visible, but only by making the visible invisible. Much later I learned that this was a phenomenon - if one can call it that - quite familiar to philosophers and aestheticians who generally tried to interpret it with the use of words such as "fantasy" and "imagination": what Kant, for example, in 'Kritik der reinen Vernunft' calls "productive" as distinct from "reproductive imagination", which does not merely reproduce what one sees but which produces representations of things that were never seen (and perhaps could never be seen). But I never felt that such concepts were capable of accounting for the strange capacity of those invisible 'images' to produce feelings whose intensity seemed in direct proportion to their indistinct and relatively indeterminate - non-objective - quality.
Blaustrumpf
(2015)
Der Blaustrumpf ist ein merkwürdiges Textil, das bereits auf den ersten Blick eher geschriebener denn gestrickter Natur ist. Studieren lassen sich an ihm dennoch die enge Verwobenheit von Kleider- und Geschlechterordnungen ebenso wie verschiedene Übersetzungsvorgänge zwischen vestimentären und anderen kulturellen Codes.
Im ersten Teil der vorliegenden Analyse werden zwei Themen in Jungs Schrift untersucht: die Amoralität und Unbewusstheit Gottes sowie dessen Menschwerdung. Dann soll erörtert werden, wie Jung zu seiner Interpretation kommt, und schließlich wird gezeigt, welche Bedeutung Jung der Hiobschrift für das 20. Jahrhundert und danach beimisst.
Der Gedanke, dass Kunstverhalten ein Ausdruck menschlichen Spielverhaltens sei, entspricht einem alten Konsens in Philosophie und Geisteswissenschaften. Er hat erneute Plausibilisierung erfahren von Seiten der Evolutionspsychologie, die nicht nur das Postulat vom menschlichen 'Spieltrieb' als einer angeborenen Eigenschaft auf festere Füße gestellt, sondern überdies auch eine Erklärung für die offenkundige Lust am Spielen geliefert hat. Kernthema meines Beitrags wird indes nicht diese allgemeine Parallele von Kunst und Spiel sein, sondern die spezifische Ausprägung des Spielerischen in einem bestimmten Typus von Literatur. Denn wenn es korrekt ist, dass sich die Lust am Lesen der Aktivierung angeborener Verhaltensprogramme durch literarische 'Attrappen' verdankt, dann stellt sich die Frage, welche Programme dies im Einzelnen sind.
Die Polemik lebt aus der Spannung extremer Gegensätze: von Affekt und Besonnenheit, von Argument und Bluff, von Logik und Paralogismen, von Dokument und Metapher, von akribischer Kriminalistik und wilder Spekulation, von rigorosem ethischem Prinzip und brutalem Vernichtungswillen, von kalkulierter Wirkungsstrategie und dem Spiel mit dem Zufall. Diese Spannungen sind in der Polemik so organisiert, daß sie die Sprache bis an die Grenze ihrer Verbalität, ja über sie hinaus zu treiben versuchen. Das Wort soll, was es nicht kann, nicht mittelbar, sondern unmittelbar Tat werden. Diese polemische Grenzüberschreitungssucht ihres Mediums der rational argumentierenden Sprache macht die Brisanz, das Interesse, aber auch die fortdauernde Distanzierung von der Polemik, zumal in der Aufklärung, verständlich. Im folgenden sollen einige Stationen der Verdächtigung und Legitimierung der Gattung Polemik von der Aufklärung bis zum Vormärz nachgezeichnet werden, wobei - unumgänglich - das Verhältnis der Polemik zur entstehenden Kritik in Aufklärung und Romantik ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückt.
In dem vorliegenden Beitrag werden die markantesten intertextuellen Bezüge der beiden Kasperlstücke 'kasperl am elektrischen stuhl' (1962) von Konrad Bayer und 'Kasperlspiel vom Meister Siebentot' (1955/1965) von Albert Drach vergleichend analysiert. Die jeweilige Neukontextualisierung der Grundkonstellation des Spiels im Spiel in Kombination mit einer Hanswurst/Kasperl-Figur, die auf Ludwig Tiecks "Kindermärchen" 'Der gestiefelte Kater' (1797) zurückgeht, aber auch auf Arthur Schnitzlers Bursleske 'Zum großen Wurstel' (1901/05) Bezug nimmt, wird auf literarische Formen des Experimentellen hin untersucht. Dabei werden zwei grundlegend unterschiedliche Positionen des literarischen Experiments in den zwei Jahrzehnten nach 1945 sichtbar.
Raymond Radiguet starb 1923 an Typhus, gerade zwanzigjährig. Er hinterließ zwei furiose Romane, "Le Diable au corps" und "Le bal du Comte d'Orgel", und ein paar Dutzend Gedichte. Jean Cocteau, selbst jugendverliebt und älter werdend, schreibt später im Nachwort zum ersten Roman: "Radiguet verabscheute die Oscar Wildesche Vorstellung von der Jugend. Er wäre so gern alt geworden. Heute wäre er fünfzig. Doch mit seinen unerbittlichen Händen hat der Tod ihn in der Gestalt eines Zwanzigjährigen festgebannt, ein für allemal." ...
Das Spannungsverhältnis zwischen poetischer Einbildungskraft und positivistischer Wissenschaft, zwischen Imagination und Evidenz, wird wohl an keinem anderen literarischen Genre des 19. Jahrhunderts so augenfällig wie am historischen Roman. Schon in der Gattungsbezeichnung verbinden sich die Lizenzen der Fiktionalität, die der Roman gewährt, mit einem wie auch immer gearteten Anspruch auf historische Faktizität. Die unüberschaubare Menge der historischen Romane, die im 19. Jahrhundert entstand, spiegelt in den vielfältigen Sujets und Figuren nicht nur die Interessen- und Problemlagen ihrer Entstehungszeit wider, sondern liefert im Zeitalter des ästhetischen Historismus ganz unterschiedliche Beispiele von textuellen Verfahren, die das Verhältnis von Imagination und Evidenz sichtbar machen.
Die Vogelperspektive lässt sich als ein experimenteller Standpunkt im Sinne des Erprobens eines den menschlichen Maßstäben nach ungewöhnlichen Blickes sowie eines Wagnisses fassen. Als solche hat sie sich nicht nur über weite Strecken der Literaturgeschichte, sondern auch für theoretische Annäherungen als Garant eines gesellschaftskritischen Standpunkts erwiesen, der ebenso dem Zirkus und v. a. seinen TrapezartistInnen und SeiltänzerInnen zugeschrieben wird. Durch Stichproben in Franz Kafkas, Erwin Herbert Rainalters und Milo Dors einschlägigen Texten wird im Beitrag diese kanonisierte Auffassung des 'Blicks von oben' auf den Prüfstand gestellt, und zwar wiederum im Sinne einer Versuchsanordnung.
Das zunächst wissenschaftlich geprägte Interesse an mündlicher Dichtung verlagerte sich rasch in Richtung auf eine Popularisierung von Volksdichtung. [...] Eine zentrale Figur bei dieser Popularisierung war der Übersetzer und umtriebige Journalist Vsevolod I. Kuznecov, dessen Übersetzungen eines bis dahin unbekannten kasachischen Sängers namens Maibet auf großes Interesse stießen. [...] Da jedoch Maibet trotz intensiver Bemühungen unauffindbar war, einigte sich das Festkomitee darauf, statt Maibet den lokal bekannten, 80-jährigen, des Russischen nicht mächtigen und schriftunkundigen Džambul Džabaev in die kasachische Delegation aufzunehmen, damit er ein Poem zu Ehren Stalins dichtete [...]. Bei der mysteriösen Unauffindbarkeit Maibets, der Džambul Džabaev letztlich seine Entdeckung und seinen Aufstieg in das Pantheon sowjetischer Kulturheroen verdankt, handelt es sich um eine Mystifikation des Übersetzers Kuznecov, der unter dem Namen Maibet Übersetzungen von nicht existenten Originalen fingiert hatte. [...] Bei all ihrer Kuriosität wirft diese Mystifikation aber auch ein Licht auf das von Kuznecov und anderen betriebene Übersetzungsmetier. Sie stellt in gewisser Weise eine radikale Konsequenz dar, aus einer an den Maßgaben der sowjetischen Massenkultur sich ausrichtenden Übersetzungsarbeit. Diese orientiert sich keineswegs am philologischen Ideal der semantischen Treue zum Original, sondern besteht in einer schöpferischen Hervorbringung von Texten, die durch eine in Rohübersetzung vorliegende fremde Rede des Originals angeregt wird, ohne dass dabei der schöpferische Übersetzer der Sprache des Originals kundig ist. [...] Auf einem solchen "intuitiven" und "künstlerischen" Übersetzungskonzept beruhen die Džambul zugeschriebenen Texte. Dass diese mit den vermeintlichen Originalen kaum etwas zu tun haben, war von Anfang an ein offenes Geheimnis, aber gleichwohl ein strikt gehütetes Tabu. [...] Diese Eigentümlichkeit der Übersetzung der Džambul zugeschriebenen Texte, soll im Weiteren im Fokus der Aufmerksamkeit stehen. Jurij Murašov zeigt, wie in der "künstlerischen" und "intuitiven" Übersetzungsarbeit, die im Namen des Volkssängers Džambul Džabaev Kuznecov und andere Übersetzer und Schriftsteller betreiben, Texte entstehen, die eine spezifische, für die sowjetische Kultur grundlegende mediale Poetik (re-) produziert und die dann über die Zuschreibung auf die empirische Figur des Džambul Džabaevs massenmedial popularisiert werden kann. Es ist eben diese Poetik, durch die nicht nur der Volkssänger Džambul seinen eigenen Platz im Pantheon der sowjetischen Kulturheroen behauptet, sondern die letztlich den medialen Mechanismus ausmacht, über den sich die Kultur des Sowjetischen als Ganzes begründet.
Den Kaukasus als einen Grenzraum anzusehen ist in der Forschung über die russische Kaukasusliteratur längst Konsens. Trotzdem wurde er auf die raumsemantische Spezifik der Grenze hin kaum untersucht. Während die sowjetische Literaturwissenschaft den Kaukasus als Thema bzw. Topos der russischen Literaturgeschichte betrachtete, hat die primär westliche Forschung der letzten Jahre die russische Kaukasusliteratur im Orientalismusdiskurs verortet. Harsha Ram erweitert den Kontext, indem er diese Literatur im Rahmen einer Poetik des Imperiums untersucht. Ohne den Anspruch zu erheben, die Poetik der Grenze erschöpfend zu behandeln, möchte ich im folgenden das kaukasische Kapitel der Poetik der Grenze in der russischen Literatur thematisieren. Dabei werde ich exemplarisch die Semantik des Grenzraums im 'Kaukasussujet' bei Aleksandr Puškin (1799-1837), Aleksandr Bestužev-Marlinskij (1797-1837) und Michail Lermontov (1814-1841) untersuchen.
Der Beitrag streift einige in der Forschung um die Prager deutsche Literatur feststehende Erklärungsmuster und Klischees (die Prager deutsche Literatur sei im Ganzen eine „jüdische Literatur“ gewesen, die radikal akkulturierende Haltung der älteren Prager Generation, der scharfe Umbruch um 1910, die „Rückkehr zu jüdischen Wurzeln“, die Prager deutsche Literatur als Erbin der „menschenschöpferischen“ und kabbalistischen Mystik der Renaissance, Max Brod und den Prager Zionismus, die typisch jüdischen Komponenten im Werk Prager deutscher Autoren) und erwägt bei jeder der genannten rezeptiven Behauptungen deren empirisch-faktografische Messbarkeit bzw. deren – auf den Texten der Prager deutschen Literatur selbst fußende – „Mythen-Trächtigkeit“.
Die Geschichte des ästhetisch Wunderbaren läßt sich in drei Schritten oder Phasen nachzeichnen: vom Wunder zum Wunderbaren und vom Wunderbaren zum Phantastischen. Das Phantastische ist die höchste Emanzipationsstufe, wo das freie Spiel der Einbildungskraft in seiner autonomen, auf sich selbst gestellten Gesetzlichkeit das Reale, Vertraute unserer gewöhnlichen Welt in Frage stellt. Diese Entwicklung vom Wunder zum Wunderbaren und vom Wunderbaren zum Phantastischen wird von Jacob Grimm jäh unterbrochen. [...] Jacob Grimm leitet eine Denkbewegung ein, die ich die Rettung des Wunderbaren aus der Zerstörung durch das Phantastische nennen möchte. Dieser Rettungsversuch kann und will nicht mehr zur Rehabilitierung des theologischen Wunders zurückführen. Statt dessen zielt er auf das "Unvordenkliche" der eigenen Herkunft, das auf den Glauben an das eigene Volk gründet.
Achim von Arnim hat bei der Bearbeitung seiner Erzählung "Der tolle Invalide auf dem Fort Ratonneau" zwei Quellen benutzt und umgeschrieben. Das Entscheidende dabei ist, daß die eine Quelle französischer Provenienz ist und aus der Zeit vor der Revolution stammt, die zweite hingegen eine deutsche Fassung aus der nachrevolutionären Zeit darstellt. Bislang wurden im Blick auf die Umschrift Arnims nur motivliche Übernahmen und adaptierte "sprachliche Eigenheiten" festgestellt. Unberücksichtigt blieb, daß beide Vorlagen Arnims eine je eigene narrative Struktur und poetische Form besitzen.
Der Schluss vom Bekannten auf das weniger Bekannte ist ein zentrales Grundprinzip der Didaxe. Ein mittelalterlicher Texttyp, der dieses Prinzip nicht nur beherzigt, sondern es durch seine Bauform regelrecht ausstellt, ist das spätestens seit 1230 literaturfähig gewordene Reimpaarbîspel, das zwei unterschiedliche Bereiche oder Sphären so aufeinander bezieht, dass der erste Teil des Textes, die eigentliche Beispielerzählung, ein allgemein akzeptiertes Modell einführt, das dann im zweiten Teil, in der Auslegung, auf eine andere Lebenssphäre übertragen wird, um mit diesem Akt der Analogisierung das zu Erklärende im Rückgriff auf bereits Etabliertes zu verdeutlichen. […] Hinzu kommt, dass gerade Texte dieser Art interessante Rückschlüsse auf die Etablierung, Durchsetzung und Veränderung von Diskursen ermöglichen, zeigt doch schon die Zweiteiligkeit der Bauform, die eine Redeordnung A mit einer Redeordnung B vergleicht, auf das deutlichste an, dass diese Texte gewissermaßen auf der Schwelle zwischen zwei argumentativen Kontexten angesiedelt sind, wobei das im ersten Teil Präsentierte stets als das bereits Eingeführte, Abgesicherte, Evidente erscheint, während das im zweiten Teil Vorgeführte immer als das relativ gesehen Neue wahrgenommen wird, das in seiner Geltung und in seiner Evidenz vom vorher Entwickelten abhängt.
Judas Ischariot, hebr. יהודה אישׂ־קריות (Yəhûḏāh ʾΚ-qəriyyôt), der im Neuen Testament als einer der zwölf Nachfolger Jesu von Nazareth erscheint, die dieser persönlich als Apostel berief, ist in der europäischen Kultur- und Religionsgeschichte seit der Antike auf viele verschiedene Weisen betrachtet und dargestellt worden. Auf die vier kanonisch gewordenen Evangelien des Neuen Testaments und das apokryphe Judasevangelium folgen patristische Erklärungen und Präsentationen des Judas in der Malerei des Mittelalters und der frühen Neuzeit und schließlich eine Fülle literarischer, bildlicher und musikalischer Darstellungen in Moderne und Gegenwart.
Lesen wir diese Zeugnisse zusammen, erhebt sich uns aus der Vielzahl der Exegesen, Porträtierungen und Inszenierungen eine schillernde Gestalt, die in ihrer Widersprüchlichkeit faszinierender kaum sein kann: Der Jünger, der seinen Herrn um dreißig Silberlinge mit dem sprichwörtlich gewordenen 'Judaskuss' ausgeliefert und sich dann aus Reue über seine Tat erhängt haben soll, erscheint als stereotype Negativfigur, als Inkarnation des Bösen, als exemplarische Verkörperung des Verräters und wird zugleich in positivem oder zumindest weitaus günstigerem Licht präsentiert. Letztere Darstellungen füllen die Figur psychologisierend mit Leben, indem sie den Menschen mit Blick auf seine Tat transparent machen, ihm ein individuelles Gesicht geben und ihn individual- und sozialethisch zu rehabilitieren suchen. Sie deuten sein Handeln als notwendige Voraussetzung für die Erfüllung der Heilsgeschichte, exkulpieren es als Verzweiflungsakt eines enttäuschten Patrioten, der sich vom Messias Widerstand gegen die römischen Besatzer erwartet hatte, oder stilisieren es zur Heldentat. In jüngster Zeit wird Judas auch als der engste spirituelle Freund Jesu gehandelt. Seit 2006 mit erheblicher Medienpräsenz zu Ostern große Teile des aus dem Koptischen übersetzten Manuskripts des Judasevangeliums publiziert wurden, das bis vor kurzem als verschollen galt, konstruieren Literaten, Esoteriker und Verschwörungstheoretiker das Bild eines Vertrauten Jesu, den dieser in tiefste Geheimnisse eingeweiht habe: über Gott, die Schöpfung und darüber, wie geistliche Verwirklichung durch Hervorbringung des vollkommenen Menschen zu erreichen sei.
Der Aufsatz beschäftigt sich mit der tschechischen Aufnahme der deutschsprachigen Literatur um 1900 und ihrem Anteil an der Profilierung des literarischen Experiments. Tschechische Übersetzungen und Buchausgaben dieser Zeit zeichneten sich der deutschen Literatur gegenüber durch einen traditionellen Zugang aus, durch den die eigentliche deutschsprachige Moderne eher ausgeschlossen wurde und die ausgewählten Werke im Geiste des Parnassismus interpretiert und modifiziert wurden.
Im Folgenden sollen mehrere Gedichte Flemings vorgestellt werden, [...]. Anhand ihrer möchte ich einen Gemeinplatz der Forschung diskutieren, der besagt, dass Fle ming mit "verbundenen Augen gereist" sei. Damit ist gemeint, dass er seine Gedichte nur nach der literarischen Tradition ausgerichtet und dafür die Beschreibung von Natur und Menschen in Russland und Persien ausgespart habe. Dagegen werde ich einwenden, dass Flemings – unbestrittene – Ausrichtung nach der literarischen Tradition die Thematisierung der eigenen Erfahrung nicht unbedingt ausschließt. In diesem Zusammenhang lege ich mein Augenmerk auf die bisher unbeachteten Titel der jeweiligen Gedichte und zeige, dass über sie – und zwar mittels eines scharfsinnigen literarischen Bezugs auf Scaligers Epigramm-Theorie – ein direkter Bezug zu den Orten und Zeitpunkten der Reise aufgebaut wird. Dementsprechend sind die Gedichte aus dem kontrapunktischen Zusammenspiel von reisebezogenem Titel und (mehr oder weniger) reiseunabhängigen Versen zu lesen.
Der Beitrag zeigt, dass sich die Etablierung des Phänomens der 'Prager deutschen Literatur' auf den beiden Konferenzen von Liblice von 1963 und 1965 ganz im Zeichen der Dichotomie von Zentrum und Peripherie vollzog. Diese fand vor allem in der wertenden Abgrenzung einer vermeintlich durchgängig humanistischen 'Prager deutschen Literatur' (als Zentrum) gegen eine umfassend nationalistische, ja präfaschistische sudetendeutsche Literatur (als Peripherie) Anwendung. Erstaunlicherweise findet sich jedoch sowohl im Beitrag zur Weltfreunde-Konferenz von Paul Reimann als auch dem von Eduard Goldstücker zudem ein Argumentationsmuster, in dem Prag als Peripherie zu den Hauptstädten vermeintlich 'welthistorischer Völker' (Reimann) oder zu Wien (als Hauptstadt Österreich-Ungarns bei Goldstücker) profiliert wird und die besondere Bedeutung der 'Prager deutschen Literatur' gerade aus dieser peripheren Lage abgeleitet wird. Insgesamt ergibt sich die Diagnose einer inkonsistenten Begründung der einen 'Prager deutschen Literatur', die nach einer Neukonzeption dieses Phänomens verlangt.
Die Sekundärliteratur zu Johannes Urzidil, die in den Sechzigerjahren doch beträchtlich war, als der Autor noch lebte und durch seine häufigen Lesereisen nach Europa, seine liebenswürdige Art und seine überzeugende Kunst des Vortrags, seinen literarischen Ruhm steigerte, widmet sich meistens dem reifen Werk Urzidils, seinen im amerikanischen Exil entstandenen Erzählungen, Gedichten, Feuilletons, Essays, Memoiren, dem einzigen Roman, dem Goethe-Buch (dessen erste Fassung bereits in den 30er Jahren entstanden ist). Das Frühwerk der lOer und 20er Jahre wird in den meisten Arbeiten nur gestreift, als ob es zu unbekannt wäre oder vielleicht zu wenig interessant für die Rezensenten oder gar zu schlecht im Vergleich mit dem reifen Spätwerk?
Die in der Forschung bislang übersehene eigenständige Rezeption der urbanen in Paris entstandenen Persiflage durch die Frühromantiker*innen bietet eine Möglichkeit, die duale Konstellation zwischen Büchner und der Romantik um eine dritte komparatistische Perspektive zu erweitern. Es wird im Folgenden also nicht das allgemeine Phänomen der Verwendung von satirischen Mitteln in der Romantik und in Büchners Werk diskutiert, sondern eine spezifischer ausgelegte dreigliedrige Fragestellung: Der Nachweis der Attraktivität der französischen Persiflage als moderne Form boshafter Satire in der Frühromantik wird ergänzt durch die Analyse der Romantisierung der Persiflage. Erst danach kann das virtuose ausdifferenzierte Widerspiel von Persiflage und Karnevaleske in Büchners Werk vorgestellt und analysiert werden.
Öffentlichkeit bedarf, um zu gedeihen, einerseits bestimmter staatlicher und rechtlich abgesicherter Außenbedingungen [...] anderereits bestimmter kommunikativer und urbaner Binnenbedingungen. Öffentlichkeit ist und wird aber auch geprägt von bestimmten Erfahrungs- und Wahrnehmungsformen. Eine Gelehrtenöffentlichkeit kann z.B. lokalitätsüberschreitend durch Schrift [...] und vor Ort in bestimmten Formen der Oralität, etwa der Vorlesung oder Disputation, stattfinden. Unter diesem Gesichtspunkt ist die Physiognomie der Öffentlichkeit in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts nicht mehr dominant von einer exzessiven Lese- und Schreibsucht geprägt wie noch im 18. Jahrhundert, sondern von einem unersättlichen Bilderhunger. Geht man auf die Suche nach den eigentümlichen Konstitutionsbedingungen literarischer Öffentlichkeit in der Epoche der Spätromantik und des Vormärz, so darf man nicht bei der Literatur stehen bleiben, sondern muß von der Interferenz von Literatur und Bild (wie in anderer und paralleler Weise von Literatur und Lied) ausgehen.
The concept of the “magic circle” (Johan Huizinga) defines the stage and the specific performative conditions for magic to work. This concept which was applied by Huizinga to spaces such as the courtroom, the church or the theatre is extended in this essay to the page of the literary text. It is argued that something of the age-old magic of oral poetry is preserved in contemporary German memory fiction that stages an encounter with dead family members. In novels by Peter Härtling (Nachgetragene Liebe) and Uwe Timm (Am Beispiel meines Bruders) a repressed past is emotionally revisited and at the same time exposed to new reflection in the light of hindsight. The therapeutic setting of “family constellation” is introduced as another manifestation of the magic circle in our contemporary world in which latent traumas are acted out and worked through in a cathartic process.
In unserer allmählich kleiner werdenden Welt und "in der Literatur und Wissenschaft, die auf einer Vielzahl von Ortsveränderungen beruhen" (Ette 2001: 21), ist "die Verortung des Fremden im Dialog der Kulturen" von einer großen Bedeutung. Der Dialog der Kulturen war schon längst ein Thema vieler Kulturarbeiten und der Humanwissenschaften, wobei mehrmals vergessen wurde, wo das Fremde in diesem Dialog liegt und wer für wen fremd ist. Meist spielt eine eurozentrische Betrachtungsweise eine wesentliche Rolle, um diesen interkulturellen Dialog zu definieren, auch wenn der Dialog sich zwischen zwei Elementen oder Personen gleicher Rechte in der sprachlichen, kulturellen und sozialen Repräsentation verwirklichen sollte, sonst geht der Dialog von vornherein verloren. "Es lohnt sich in der Tat zu fragen, inwieweit man wirklich bereits von einem global-gleichrangigen Dialog zwischen den Völkern sprechen kann, der nicht selten von verschiedenen Seiten beschworen wird" (Bräsel 1999: 77).
Dinge, die warten
(2018)
Das Wort 'warten' gehört zu den Verben, die wir ohne Probleme allem anhängen können. Die Menschen können nicht nur den Menschen, sondern auch den Dingen jederzeit ein Warten unterschieben und allem, was dazwischen ist, sowieso. Die Raubtiere warten darauf, gefüttert zu werden; die berühmte Zecke wartet, bis etwas vorbeikommt; die Pflanzen warten auf den Regen. Vor dem Gewitter scheint die Natur auf etwas zu warten. All das sagt sich so: Diese Worte warten darauf, ausgesprochen zu werden. Hier geht es nicht bloß um die Banalität, dass wir den Dingen mit unseren Worten unablässig Tätigkeiten anhängen, die ihnen im wörtlichen Sinne nicht zukommen. Der Versuch, eine Grenze zu ziehen zwischen einer eigentlichen und einer uneigentlichen - also metaphorischen - Verwendung des Wortes warten, würde das Problem lediglich zudecken.
Vorgänge der Kommunikation und solche der medialen Vermittlung sind an Prozessen von Marginalisierung oder auch Zentralisierung beteiligt. Die Neukonstruktion und Neukategorisierung des Raums wird daher an sprachlichen Zeugnissen (briefliche Selbstauskünfte, Lyrik, Publizistik) nachgezeichnet. Der Beitrag verfolgt die allmähliche kulturelle Entperipherisierung der pommerschen Insellandschaft und insbesondere Rügens, indem drei Phasen unterschieden und behandelt werden: 1. die mittelalterliche und frühneuzeitliche Abwertung oder Bewertung des Nordens unter dem Blickpunkt christlicher Mission und biblischer Ordnungsvorstellungen, 2. das Entstehen einer Kunstmythologie um 1800, die sich auf Shakespeare, Rousseau, Ossian sowie die germanisierte skandinavische Überlieferung berief und Pommern zur utopisch idyllischen wie zur unwirtlich-wilden, das heißt auch erhabenen Landschaft formte und 3. die Durchdringung Gesamtpommerns durch die Zentralitätsstruktur preußischer Institutionalisierungs- und Ordnungsprozesse nach 1815.
Schon bei seiner Einführung in die wissenschaftliche Literatur meinte der Begriff Déjà vu anderes als er besagt. Die beiden Primärquellen, auf die sich Ludovic Dugas in seinem terminologisch grundlegenden Artikel von 1894 bezog, verwenden bezeichnenderweise auch gar nicht diesen Ausdruck, sondern einen allgemeineren ...
Einfach (.) raffiniert : Friedrich Achleitners 'einschlafgeschichten' und 'und oder oder und'
(2019)
In Friedrich Achleitners Miniaturen 'einschlafgeschichten' (2003) und 'und oder oder und' (2006) schlägt sich das Multitalent eines Analytikers, eines genauen Beobachters und eines (neo-)avantgardistischen Künstlers nieder. Die Überschneidungen zwischen dem Beruf eines Architekturtheoretikers und der Rolle des Autors prägen auch die thematische und strukturelle Ebene der Texte. Im Einklang mit der Poetik der Wiener Gruppe ist das Grundelement im Baukasten der Sprache nicht die Metapher, sondern das Wort. Das stark reduzierte Textformat sowie die Ausweitung des Sprachexperimentes auf alle Sprachebenen und deren gezielte Vermischung lassen allerdings den konstruktivistischen Eifer und Ernst der Konkreten Poesie hinter sich.
Die im Band behandelten 'Experimentierräume in der österreichischen Literatur' reichen wie das literarische Experiment als Programmatik bis in die Romantik zurück. Insbesondere in Österreich steht seit Wittgenstein und seiner intensiven Rezeption in der Moderne und dann wieder nach 1945 vor allem die Sprache als Material literarischen Experimentierens im Vordergrund. Die Übertragung des naturwissenschaftlichen Versuchs auf die literarische Produktionsweise wurde in diesem Sinne eingehend diskutiert und auch im speziell österreichischen Kontext reflektiert. In diesem Band soll der Begriff des Experimentellen jedoch nicht nur auf die Sprache selbst, sondern auch auf ihre Inhalte und über die diesbezüglich relativ gut beforschte Lyrik hinaus auf andere Formen der Literatur bezogen werden. Die Erprobung neuer literarischer Strategien und Techniken rückt die experimentelle Literatur in die Nähe der Avantgarde; im vorliegenden Buch sollen die beiden Begriffe, deren kleinster gemeinsamer Nenner das Innovative darstellt, jedoch klar von einander abgegrenzt werden.
Die deutsche Romantik ist eine Zeit des Aufbruchs, der kühnen und spielerischen Anfangsexperimente; aber sie ist auch eine Zeit der Krise. Zwar herrscht sowohl in der literaturwissenschaftlichen Forschung wie in den weiter gespannten Versuchen einer kulturellen Diagnostik Einverständnis darüber, daß "Modernen" sich in wiederholten Schüben ereignet haben [...] und daß jede dieser neu erscheinenden Modernen an den Errungenschaften der vorangehenden partizipiert. Doch könnte man behaupten, daß die Krise, die sich in der deutschen Romantik abzeichnet, zu den
differenziertesten gehört, und daß sie in den Umbrüchen, die aus ihr resultierten, alle Felder des Wissens, des Imaginierens und des Darstellens nachhaltig affizierte und transformierte.
Der Erfolg von Elena Ferrantes vierbändigem Romanzyklus "L'amica geniale" (2011-2014) wird hier in der Verortung Ferrantes in die Schule der literarischen Hontologie (Eribon, Ernaux, Louis) und in eine Strömung von Romanen, die den Klassismus anvisiert, erklärt. Gezeigt wird, wie intersektionale Verflechtungen von Ferrante in Szene gesetzt werden: Das Schicksal eines proletarischen Mädchens mit intellektuellen Ambitionen, aufgewachsen in einem Armenviertel, in dem Gewalt und Mafia an der Tagesordnung sind und immer wieder an den gesellschaftlichen Benachteiligungen sich stoßend etc. Sexismus, Homophobie, Regionalchauvinismus und andere Diskriminierungsformen leiten die Geschichte. Intersektionalität trägt das Romanganze inhaltlich; die Fiktionalisierung geht über gebräuchliche Konzepte von auto-fiction hinaus und erlaubt gerade durch die lebensweltliche Botschaft Einsichten in gesellschaftliche Komplexitäten. Genau diese Konstruktion des literarischen Textes ist für die Rezeption des Werks ausschlaggebend, zumal die Wahl des Pseudonyms der Autorin ermöglicht, die Thematisierung und Problematisierung von Intersektionalität hier und in weiteren Romanen jenseits der Tetralogie zu intensivieren, wie etwa in "La vita bugiarda degli adulti" (2019).
This chapter explores medieval exegetical and affective characterizations of the birthplace of Christ. It focuses in particular on evocations of this birthplace as an exposed, liminal location and argues that the radical exposure endured by Christ at the moment of his birth was crucial to medieval understandings of the significance of the Incarnation. But it also points out that its condition of openness is always in a dialectical relationship with its capacity to enclose and protect.
Als Adalbert Stifters Roman „Der Nachsommer“ 1857 erscheint, hat das Bild der klassischen Antike, wie es durch Winckelmann und Goethe einen hohen Grad der Verbindlichkeit erhalten hatte, längst an Faszination und normativer Kraft eingebüßt. Im Gefolge des Historismus, der jeder Epoche ihr Eigenrecht zuerkannte, waren historische Vorstellungen an die Stelle normativer getreten. In Stifters „Nachsommer“ ist davon freilich nur wenig zu spüren. Der Roman wendet sich ostentativ gegen aktuelle Zeittendenzen und scheint für ein Festhalten an einer zeitlos-idealen Antike einzutreten. Die ausführlichen Gespräche, die der Ich-Erzähler Heinrich Drendorf mit seinem Gastgeber Risach über antike Kunst führt, wiederholen und zementieren überkommene Auffassungen. In Superlativen beschwört Risach Größe und Einfachheit der antiken Kunst; er nennt die griechische Dichtung „das Höchste“ und „was die Griechen in der Bildnerei geschaffen haben, [...] das Schönste, welches auf der Welt“ überhaupt bestehe. Stifters Antike orientiert sich, wie in der Forschung einhellig anerkannt, an Leitvorstellungen Winckelmanns, und die im „Nachsommer“ geführten Kunstgespräche treten in die Spuren der ästhetischen Debatten des ausgehenden 18. Jahrhunderts.
Das Palindrom, ein seit der Antike geübtes anagrammatisches Buchstabenspiel, galt einerseits als magische und numinose Praxis, andererseits, vor allem in der Moderne, als bloßes l'art pour l'art. Wie die Form als hintersinniges experimentelles Genre genützt werden kann, zeigt Brigitta Falkners Band 'TobrevierSCHreiverbot' (1996): Hier erweist sie sich als ironisches, satirisches und (sprach-)philosophisches Bild-Text Medium mit inhärenter autoreflexiver Bedeutung.
Vorgestellt werden zwei Neuerungen im DaF-Curriculum an der Westböhmischen Universität Pilsen: KOMIN ist ein Komplexpraktikum, in dem die Studierenden einen literarischen Text unter literatur- und sprachwissenschaftlichen Aspekten analysieren und darauf aufbauend einen Unterrichtsentwurf entwickeln. IMAG bedeutet "Einführung in die komparatistische Imagologie": an literarischen Beispielen wird gezeigt, wie Images entstehen und im interkulturellen Dialog funktionieren.
In dieser Studie wird Ernst Jandls experimentelle Dichtung unter Einbeziehung seiner komplexen Sprachwelt und verschiedener Interpretationsansätze beschrieben. Um seine poetologischen Überlegungen und Schreibverfahren zu erfassen, werden einige zum Kanon gehörende Texte vorgeführt. Dabei wird von den selbstreferenziellen Positionen des Autors und den diversen Untersuchungen aus der Sekundärliteratur ausgegangen, die vordergründig die innovatorischen Qualitäten der Dichtungen hervorheben.
Gesichter in Lyrik und Prosa verweisen auf vielfältige Techniken ihrer verbalen Kreation - und ihrer Auflösung. Anders als die Bildkunst, die Gesichter simultan evident macht, konstituiert sich das Verbalporträt (in der Regel) linear-sukzessiv. Es ist medial zur Fragmentierung des Motivs und zur Anordnung der semiotischen Einheiten in einer eindimensionalen Abfolge gezwungen: das heißt, die Zerlegung des darzustellenden Gesichts ist zwingend notwendig, ein Moment der Auflösung ist ihm seit jeher eingeschrieben. Daher experimentiert es aber auch seit jeher mit den Verfahren der Zusammenfügung (Re-Komposition) der Einzelteile. Diesbezüglich verzeichnet das poetische Porträt schon in der Renaissance erste spielerische Höhepunkte, die frappierende Ähnlichkeiten aufweisen mit den ungewöhnlichen, heute sehr bekannten Porträts des manieristischen Malers Giuseppe Arcimboldo, dessen Gesichter sich aus Blumen, Früchten, Büchern u.a. zusammensetzen und Kippfiguren zwischen Menschenähnlichkeit und Realitätsferne bilden, indem sie ihren Komposit-Charakter ostentativ zur Schau stellen. Die punktuelle Feststellung vergleichbarer Darstellungsprinzipien wirft notwendig die Frage auf, ob und inwiefern sich Auflösungserscheinungen in verbalen und pikturalen Porträts trotz ihrer Mediendifferenz stilhistorisch parallelisieren lassen – so lautet die Rahmenfrage, die erneut aufzugreifen ist nach einer Betrachtung verschiedener in Auflösung befindlicher Verbalporträts. Die einzelnen Werkanalysen sind konzise, zugunsten eines möglichst breiten Spektrums fazialer De-Kompositionen.
Lexika wie Zedlers Universal-Lexicon gehen von einer scharfen Trennung zwischen Objekt und Subjekt aus, Schreibwerkzeuge werden darin immer auf die Objektseite geschlagen. Sprechende und damit subjektivierte Federn gibt es hingegen schon, seit Federn in Gebrauch sind. Sie tun dies vor allem in literarischen Texten, wo sie als dingliche Objekte Subjektstatus einnehmen und dadurch die Dichotomie von Subjekt und Objekt unterlaufen. Wenn die Feder zum sprechenden Subjekt wird, werden die von ihr beschriebenen Menschen zum Objekt, wobei sich die Feder dann für Benachteiligte und Unterdrückte einsetzt und dadurch diese wiederum zu Subjekten erhebt. Innerhalb der It-Narratives nehmen erzählende Federn eine Sonderstellung ein, weil sie erstens die materielle Vorbedingung des Schreibens sind, weil sie zweitens den Schwellenraum von Mündlichkeit und Schriftlichkeit besetzen, indem sie paradoxerweise das, was sie sprechen, auch gleichzeitig ins Schriftliche transponieren und dort festschreiben, sowie weil sie drittens poetologisch das hinterfragen, was geschrieben wird und werden soll
Wissenschaft, so heißt es, sei ein Projekt, das auf Erkenntnis zielt. Damit verbunden ist die Vorstellung, daß wir heute mehr wissen als gestern und morgen mehr wissen werden als heute. Die Frage ist nur, ob sich das zu Erkennende auch in diese Gedankenfigur fügt. Wie müßten wir vorgehen, wenn jene weißen Flecken auf der Landkarte des Wissens, welche zu besetzen und zu füllen ein konsti-tutiver Bestandteil wissenschaftlichen Selbstverständnisses ist, eo ipso als Wirklichkeiten anzuerkennen sind, die unerkannte Möglichkeiten in sich bergen? Wie können wir diesen virtuellen Realitäten (im emphatischen Sinne der Prägung, nicht dem geläufigen, der auf einem technizistischen Mißverständnis beruht) gerecht werden, ohne sie durch den fixierenden Zugriff, das Aussagen und Ausmalen, Aufschreiben und Aufzeichnen ihrer Virtualität zu berauben? ...
Das "Prager Wintermärchen" als literarisches Motiv "Böhmen liegt am Meer" (Shakespeare, 1611, Das Wintermärchen) entstand vor etwa fünfzig Jahren neu. Ingeborg Bachmann schuf ein bedeutsames Gedicht während einer Reise durch Prag. Gleichzeitig erlebte Volker Braun 1968 ein "Böhmen im Meer von Blut". Eine aktuelle Biografie zu I. Bachmann von Ina Hartwig zwingt zum neuerlichen Umgang mit dem literarischen Motiv.
Franz Carl Weiskopf wurde in der sozialistischen Literaturwissenschaft als politischer Autor interpretiert. Schaut man sich seine literarischen Anfänge im Prag der 1920er Jahre an, wird ein weiterer Aspekt seines Schaffens sichtbar: die Arbeit als Mittler zwischen deutscher und tschechischer Literatur. In diesem Beitrag wird sein Frühwerk in die Experimentierräume der Avantgarde und urbanen und kulturellen Zwischenräume Prags eingeordnet.
FRAUEN.SCHREIBEN. So hieß das Thema des Symposiums, in dessen Zusammenhang dieser Text entstand. Die Frage, wie "Frau" in Texten von Schriftstellerinnen aus Österreich und China "geschrieben" wird, sollte dabei in den Blick genommen werden - Elfriede Jelinek stand dabei mit im Fokus der Analysen und ist auch meine Wahl im nachfolgenden Text. Diese Frage, nach dem "Wie-Frauen-Schreiben", die zunächst scheinbar recht simpel und unproblematisch gestellt werden kann, evoziert eine komplexe Auseinandersetzung mit Themen und Problemen, die der Literaturwissenschaft und Literaturtheorie konstitutiv zugrunde liegen - Fragen etwa nach einer potentiellen ('weiblichen') Autorschaft, einer 'weiblichen' Ästhetik, Fragen der Repräsentation 'von Frauen', hier im Besonderen 'in Texten von Frauen'.
Der Beitrag nimmt kritisch Stellung gegen das populäre Konzept der 'Gefühlsübertragung', mit dem sowohl realweltliche Empathieprozesse als auch das Verhältnis zwischen literarischer Figur und Leser oft beschrieben werden. Am Beispiel der Emotion Mitleid werden vier Kategorien psychischer Prozesse unterschieden: (a) eine emotionale Reaktion auf einen (literarisch) präsentierten Stimulus, (b) emotionale Ansteckung, (c) sentimentale Rührung und (d) Empathie (verstanden als eine beliebig komplexe kognitive Operation, die zu einer mentalen Repräsentation eines fremden Gemütszustands führt). Besondere Aufmerksamkeit gilt dabei der sinnlichen Qualität empathischer Vorstellungen, von der das Missverständnis der 'Gefühlsübertragung' seine intuitive Plausibilität gewinnt und die seit der Entdeckung so genannter Spiegelneuronen oft mit Empathie gleichgesetzt wird. Im Unterschied zu einigen populärwissenschaftlichen Verlautbarungen vertrete ich die Ansicht, dass neuronale Spiegelungsprozesse wahrscheinlich stärker an Ansteckungs- als an Empathieprozessen beteiligt sind.
Die zentralen Begriffe "Kunstliebhaberei", "Geselligkeit" und "Mäzenatentum" vorab verbindlich zu klären, ist im Hinblick auf die unterschiedlichen Fragen, Methoden und Erkenntnisinteressen der Einzeldisziplinen, die sich mit Anna Amalias "Musenhof" beschäftigen, nur bedingt möglich. Die Studien dieses Bandes [- hervorgegangen aus einer Tagung des Jenaer Sonderforschungsbereichs 482 "Ereignis Weimar-Jena. Kultur um 1800" im Jahre 1999 -] sollen jedoch Wege weisen, ihre gegenseitige Bedingtheit, aber auch ihre Eigenständigkeit stärker deutlich zu machen. [Die Studienergebnisse sowie die daraus resultierenden neuen Fragestellungen innerhalb der Forschung präsentiert Justus H. Ulbricht überblicksartig im Einleitungstext zum 2001 erschienen Tagungsband.]
Diderots "Le neveu de Rameau" gilt heute als einer der explosivsten Texte des 18. Jahrhunderts. Mitten im Spätabsolutismus und mitten im Herz der Aufklärung war ein Text in Manier des radikalen Zynismus eines Diogenes entstanden. Der zynische Protest hatte sich einst in der griechischen Antike gegen die Polis, eine substantialistische Philosophie und den universalistischen Anspruch eines Staates gerichtet. Nun, inmitten der modernen Widrigkeiten und Widerstände der großen Stadt Paris und ihren kulturellen "Verkehrsformen", kämpft Rameaus Neffe als "bedürftiger Mensch" um soziale Anerkennung. Es ist eine zynisch-animalische Selbstbehauptung nach der Art des Diogenes mit allen Schrecken und aller Willkür von Selbst- und Gesellschaftsentblößungen.
Alfred Döblins Roman "Berlin Alexanderplatz" zählt seit seinem Erscheinen im Jahr 1929 zu den wichtigsten Werken der Großstadtliteratur des Jahrhunderts. Seine Bedeutung für die experimentelle Qualität des Montageromans fußt jedoch nicht nur auf der Großstadterfahrung an sich, sondern ganz wesentlich auf den Folgen des Ersten Weltkriegs, die in "Berlin Alexanderplatz" in einer spezifischen Weise wirksam werden. Es werden die Möglichkeiten und Grenzen des literarischen Schreibens über Traumata der Nachkriegszeit untersucht und Bezüge zur Interpretation von Rainer Werner Fassbinder hergestellt. Die gängige Interpretation des experimentellen Montageromans wird dabei in Frage gestellt.
In der Forschung ist immer wieder darauf hingewiesen worden, dass dem Leser in Ludwig Tiecks "Der blonde Eckbert" (ED 1797) verschiedene Lesarten angeboten werden, die auf den ersten Blick streng voneinander getrennt scheinen, sich aber bei naherem Hinsehen als indifferent erweisen. In einem ersten Schritt soll in diesem Aufsatz eruiert werden, worin die verschiedenen Lesarten bestehen und wie sie miteinander verbunden sind, bevor eine besondere, nämlich die des (zeitgenössisch zu denkenden) Verfolgungswahns, herausgehoben und auf ihre hereditaren und kindheitsmemorialen Aspekte befragt wird; all dies unter besonderer Berücksichtigung der romantischen Allegorie, innerhalb deren die verschiedenen Lesarten angeboten werden.
Den wissenschaftlichen Historismus seit Leopold von Ranke und den ästhetischen Historismus des klassischen historischen Romans seit Walter Scott, der bis heute etwa im Wenderoman von Uwe Tellkamp seine Fortsetzung findet, scheint eher ein Verwandtschafts- als ein Transformationsverhältnis zu verbinden. Etablierte sich der historische Roman gerade dadurch als Gattung, dass er an der Geschichtswissenschaft und ihrem Wahrheitskriterium Maß nehmend Ebenbürtigkeit reklamierte, relativiert die postmoderne Historiografieforschung umgekehrt den Gültigkeitsanspruch der wissenschaftlich ermittelten Sinnhaftigkeit der Geschichte als Produkt narrativer Verfahren ihrer Darstellung. Die Transformation der Geschichtswissenschaft in den historischen Roman, so die These dieses Aufsatzes, betrifft weniger die Erzählverfahren als vielmehr die Sinndeutung: Die abstrakten Sinnzusammenhänge, die die Wissenschaft konstruiert, übersetzt der Roman zurück in konkreten Sinn, der der Geschichte die Aura von Subjektgemäßheit und Zustimmungswürdigkeit verleiht.
Das literarische Internet lässt sich auch als ein Raum des experimentellen Storytelling bezeichnen. Die Verlinktheit der digitalen Welt und ihre Möglichkeiten sowie Gefahren wurden zur Inspiration oder zum Thema von Experimenten, die untersuchten, welche Geschichten, Stories dadurch entstehen und wie sie digital erzählt werden können, beziehungsweise wie die RezipientInnen an dem Erzählen auch teilnehmen können.
Im Folgendem werden (I.) die Handlungsspielräume und Gestaltungsmöglichkeiten der weiblichen Obervormünderin und Landesadministratorin Anna Amalia umrissen. Dann wird (II.) diskutiert, welche Formen und Handlungsspielräume sie während dieser Zeit für ihre Ambitionen als Kunstliebhaberin und dilettierende Künstlerin fand. Abschließend wird (III.) die Ausgangsfrage aufgenommen - "höfische Musenpflege als weiblicher Rückzugsraum?" Es handelt sich ausdrücklich um eine Fallstudie, um den Zusammenhang zwischen Hofkultur und aufklärerischen Reformen zu thematisieren. Vergleiche müssen mangels Raum und ähnlicher Studien außen vor bleiben.
Il vincolo dell'origine nella letteratura austriaca del secondo novecento : Il caso Thomas Bernhard
(2009)
La letteratura austriaca del secondo Novecento apre i battenti sotto il segno della ricerca della propria identità culturale, distinta da quella tedesca – alla quale era stata omologata durante il Terzo Reich – e vincolata, ma senza nostalgia, alle coordinate tracciate dalla "età dell’oro" mitteleuropea. È su queste posizioni che si attestano le opere dei cosiddetti "superstiti" della grande tradizione austriaca: Ingeborg Bachmann, Thomas Bernhard, Peter Handke. La loro rilevante produzione, insieme a quella di altri affermati autori – ha avuto da un lato, il merito di restituire l’Austria alla grande letteratura mondiale, dall’altro, di inaugurare la vivace stagione contemporanea, ancora in pieno fermento.
Der österreichische Autor Clemens J. Setz erregte bereits in relativ jungen Jahren die Aufmerksamkeit der literarischen Welt. Ab seinem 26. Lebensjahr wurden ihm bedeutende literarische Auszeichnungen verliehen. Seine Bücher zeichnen sich durch einen experimentellen Zugang zur narrativen Struktur aus, indem er beim Schreiben technische Möglichkeiten der Neuen Medien verwendet, kanonisierte Texte umschreibt und durch tiefe Einblicke in das Innere seiner Figuren Tabus bricht. In seinen Prosawerken gelingt es ihm, die dringlichsten Probleme von Individuum und Gesellschaft zu benennen. Die Schicksale und Einstellungen seiner ProtagonistInnen wirken kontrovers, weshalb sein literarisches Schaffen ambivalent rezipiert wird.
Die Zuspitzung der Problemkonstellation Virtuosentum versus Kunst im
Vormärz läßt sich plausibilisieren an Balzacs Roman "Les Illusions perdues". Hier wird nämlich die kunstkritische Kontroverse um Virtuosentum und Künstlertum und gleichzeitig das produktionsästhetische, narratologische Problem Feuilletonismus und Kunst zusammen- und enggeführt.
Handschuhe sind Bindungswesen. Sie sind zunächst einmal genuin dual, denn sie kommen immer im Paar. Da ein einzelner Handschuh aber viel leichter verloren geht als etwa ein einzelner Schuh, ist die Welt trotzdem voll von einsamen Handschuhen, besonders im Winter. Sie liegen auf Bürgersteigen, Parkbänken oder in Treppenhäusern und geben ein trauriges Bild ab. Der eine ist nichts ohne den anderen. Vielmehr: Er ist zu nichts nutze.
‚Institutionalität’ als leitender Konzeptbegriff zielt in dem hier gemeinten Sinn nicht auf eine Analyse von ‚Institutionen’ als historische Entitäten im Sinne von einzelnen ‚Organisationen’, ‚Körperschaften’, ‚Anstalten’. Es geht vielmehr um etwas, das sich das ‚Institutionelle’ an gesellschaftliche Strukturen des Kommunizierens und Handelns analysieren läßt: Formen der Geltungssicherheit und Stabilisierung, die in sozialen Ordnungen auch gewissermaßen ‚unterhalb’ der Ebene von durchgebildeten Organisationen oder Institutionen (im traditionellen Wortsinne) wie Ehe, Kirche, Staat, Universität usw. begegnen. (...)
Wenn man (...) fragte, welche Mechanismen es sind, die im Gegenzug zu (...) institutionellen Ungesichertheiten das Gelingen literarischer Kommunikation und die Wiederholbarkeit ästhetischer Rede am Hof gleichwohl möglich oder wahrscheinlich gemacht haben mochte, dann könnten jene Momente der Texte in den Vordergrund treten, von denen die folgenden Untersuchungen gleichfalls handeln: (...) [D]as [also], was (...) [Strohschneider] einmal die ‚Formiertheit’ höfischer Texte zu nennen versuchte. Gemeint sind Textmerkmale wie Schemata oder Topiken, welche die Rede gegenüber der Kontigenzen des Okkasionellen stabilisieren, welche kommunikative Wiederholbarkeit und Wahrscheinlichkeit von Dichtung dort produzieren, wo entsprechende außertextliche Institutionen noch fehlen.
Der Beitrag widmet sich der Figurenanalyse als Bestandteil der Texterschließung im intersektional ausgerichteten Deutschunterricht und konzipiert ein konkretes methodisches Analyseverfahren, das intersektionale Fragestellungen bei der Figurenanalyse zu erarbeiten und darzustellen vermag. Über eine erste literaturdidaktische Fundierung der Figurenanalyse als Texterschließungsverfahren werden Anknüpfungspunkte zum Intersektionalitätsparadigma aufgezeigt Der Beitrag versteht sich als Vorschlag für eine mögliche kulturtheoretische Fundierung der Figurenanalyse durch das Intersektionalitätsparadigma, welches mit dem Kollektivansatz von Klaus P. Hansen und dessen Fortführung durch Jürgen Bolten zum fuzzy culture-Ansatz in Bezug gesetzt wird. Aus dieser theoretischen Verbindung wird ein konkretes Instrumentarium zur intersektional orientierten Figurenanalyse in literaturdidaktischen Settings entwickelt, das sich durch eine strukturierte visuelle Aufarbeitung intersektionaler Fragestellungen in Bezug auf literarische Figuren auszeichnet. Die folgenden Ausführungen bieten zunächst einen kurzen Überblick über die literarische Figur allgemein und ihre Merkmale sowie die Bedeutung der Figurenanalyse im Deutschunterricht, bevor letztere unter intersektionalen Gesichtspunkten beleuchtet und in ein konkretes Analyseinstrumentarium überführt wird. Dieses wird abschließend an Eleonora Hummels Roman "Die Fische von Berlin" beispielhaft erprobt.
Intersektionalität hält als Forschungsgegenstand, als Schauplatz theoretischer Diskussion und als Analyseperspektive seit Jahren verstärkt Einzug in unterschiedliche akademische Disziplinen und Bereiche. Es verwundert daher nicht, dass sich das Intersektionalitätsparadigma auch im Bereich der Literaturwissenschaft und -didaktiken zunehmend als produktiv erweist, wie wir mit dem Sammelband zeigen wollen, der intersektionale literaturwissenschaftliche und -didaktische Fallstudien aus unterschiedlichen Philologien versammelt und so ein Prisma der Erforschung literarischer Repräsentationen des Zusammenspiels von einander verschärfenden bzw. abschwächenden Diskriminierungskategorien bietet. Inwiefern die Einzelbeiträge kritische Reflexionen verschiedener Positionen der Intersektionalitätsforschung präsentieren und Beispiele für die vielfältige Ausgestaltung intersektional orientierter Textanalyse auf theoretischer und methodischer Ebene anbieten sowie didaktische Lesarten des Intersektionalitätsparadigmas aufzeigen, machen wir aufbauend auf einer ausführlichen Begriffs- und Theoriereflexion einleitend deutlich.
'Dante and Ireland', or 'Dante and Irish Writers', is an extremely vast topic, and to cover it a book rather than an essay would be necessary. If the relationship between the poet and Ireland did not begin in the fourteenth century - when Dante himself may have had some knowledge of, and been inspired by, the "Vision of Adamnán", the "Vision of Tungdal", and the "Tractatus de purgatorio Sancti Patricii" - the story certainly had started by the eighteenth, when the Irish man of letters Henry Boyd was the first to produce a complete English translation of the "Comedy", published in 1802. Even if one restricts the field to twentieth-century literature alone, which is the aim in the present piece, the list of authors who are influenced by Dante includes Yeats, Joyce, Beckett, and Heaney - that is to say, four of the major writers not only of Ireland, but of Europe and the entire West. To these should then be added other Irish poets of the first magnitude, such as Louis MacNeice, Ciaran Carson, Eiléan Ní Cuilleanáin, and Thomas Kinsella. Therefore Piero Boitani treats this theme in a somewhat cursory manner, privileging the episodes he considers most relevant and the themes which he thinks form a coherent and intricate pattern of literary history, where every author is not only metamorphosing Dante but also rewriting his predecessor, or predecessors, who had rewritten Dante. Distinct from the English and American Dante of Pound and Eliot, an 'Irish Dante', whom Joyce was to call 'ersed irredent', slowly grows out of this pattern.
„Great writers,“ those who constitute our canon (at any given moment, one should add warily, since aesthetic canons fluctuate considerably over time), have invariably been the focus of reception studies, partly because they provide the most fertile ground for research, but partly also because literary scholars (and in particular the aspiring doctoral candidate: I myself graduated with an influence /reception study of this kind) need some justification for their endeavors, and what better ticket into the ivory rower - or onto the book market - than the study of the most seminal and widely accepted authors? James Joyce is just such a „great author.“ And „James Joyce and German Literature,“ the subject of this essay, must inevitably result in some form of reception study. But just what form should it take? Within the limited space of one article, it would be impossible to survey in toto Joyce's influence on German literature; that is, the multiple receptions of Joyce by some four or five generations of authors writing in German.
Jesus als Märtyrer
(2011)
Zu definieren, was einen Märtyrer ausmacht, ist für das Altertum ebenso wichtig wie für die Moderne. Was meinen wir mit dem Begriff 'Märtyrer', wenn wir Jesus von Nazareth so nennen? Liegt dabei der Schwerpunkt auf dem historischen Jesus und den Motiven für seinen gewaltsamen Tod, den er erwartet haben mag? Oder sollten nicht eher die frühen Textteile des Neuen Testaments, die die Reaktionen der Anhänger Jesu auf dessen gewaltsamen Tod und seine Rechtfertigung schildern, den Ausgangspunkt für unsere Analyse bilden? Natürlich verfügen wir im Falle Jesu über keine Internetquellen, kein Videomaterial, keine Interviews mit dem Märtyrer vor seiner Tat. Wir haben nur kanonische und apokryphe Texte. Deshalb beginne ich bei meiner Diskussion über Jesus als Märtyrer mit einer Definition des Martyriums, die sich auf die zweite oben angeführte Möglichkeit stützt. Sie fußt auf antiken jüdischen und christlichen Texten, von denen allgemein angenommen wird, dass ihre Rezipienten sie als Beschreibungen des Lebens und Leidens von Märtyrern verstanden; die Berichte, die solches erinnern sind schriftlich festgehalten (Abschnitt 1). Danach kehre ich zur ersten Definitionsmöglichkeit zurück und konzentriere mich kurz auf die Person des historischen Jesus, um mit Hilfe der antiken jüdischen und christlichen Märtyrerberichte herauszufinden, was wir möglicherweise über Jesu eigene Sicht auf seinen nahen Tod als den eines Märtyrers wissen können (Abschnitt 2). Im letzten Abschnitt widme ich mich den Passionsberichten des Neuen Testaments. In der Forschung wurden diese Narrative häufig mit den Erzählungen der antiken Märtyrer verglichen, diese wurden sogar als Modell herangezogen, um den Ursprung des Passionsberichts zu rekonstruieren. Sei dieser Ansatz plausibel oder nicht, auf jeden Fall spiegeln die Passionsberichte auf faszinierende Art und Weise die dialogische Gegenüberstellung von Märtyrer und Gegner wider, die so oft das Herzstück der Prozess- und Folterszenen antiker jüdischer und christlicher Märtyrererzählungen darstellt. So gibt es offensichtlich gute Gründe, diese beiden Textgruppen zu vergleichen (Abschnitt 3).