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Gestalt
(2022)
Das Bedeutungsspektrum von 'Gestalt', diesem Inbegriff eines Abgeschlossenen, in sich Gegliederten, aber nur als Ganzes Wahrnehmbaren, ist um 1800 noch erstaunlich breit.[...] Auch den 1890 vom Gestalttheoretiker Christian von Ehrenfels fixierten "Gestaltqualitäten", zu denen vor allem gehört, dass eine Gestalt die Summe ihrer Teile übersteigt, kommt um 1800 noch keine privilegierte Stellung zu. Während das "Historische Wörterbuch der Philosophie" für jene Zeit zwar auch ein Dutzend Spezifikationen verzeichnet, 'Gestalt' aber exklusiv als ästhetischen und psychologischen Grundbegriff ausweist, hat Dagmar Buchwald in ihrem Eintrag für die "Ästhetischen Grundbegriffe" darauf hingewiesen, dass Gestalt in der mechanistischen Festkörperphysik der Zeit als Prädikat der 'res extensa' zu deren messbaren Attributen hinzutritt, ohne aber "in den Rang eines Standards" aufzusteigen. Die Differenz zwischen diesem und dem idealistisch überhöhten Gestaltbegriff "ist der Goethe-Zeit eingeschrieben", bezeichnet also ein Spannungsfeld, das erst später und besonders in der Zwischenkriegszeit den exklusiven Ganzheitsansprüchen der Gestalt weicht. [...]
Dagmar Buchwald zufolge "läßt sich die Geschichte des Begriffs Gestalt auch als Warnung vor einem 'Kult' um die Gestalt lesen." Das bedeutet im Umkehrschluss, dass ein Kult um die Gestalt einer begriffshistorischen - wie überhaupt einer begrifflichen - Reflexion der Gestalt abträglich bleibt. Für eine Konkurrenz zwischen Kult und Begriffsschärfe sind die wissenschaftlichen Überlegungen, die in den 1910er und 1920er Jahren im Umfeld Stefan Georges zum Phänomen der Gestalt angestellt wurden, aufschlussreich und symptomatisch in einem. 1911 von dem Historiker Friedrich Wolters im "Jahrbuch für die geistige Bewegung" programmatisch lanciert, treibt die Gestalt bald in den germanistischen Schriften Friedrich Gundolfs und später auch Max Kommerells ihre Blüten. [...]
"Das Ganze ist etwas anderes als die Summe seiner Teile" - dieser Satz, eine stark verkürzte Passage aus Aristoteles' "Metaphysik", wird wie wohl kaum ein zweiter mit der Gestaltpsychologie assoziiert. Ähnlich hartnäckig mit ihr in Verbindung gebracht werden allenfalls noch 'Kippfiguren', also visuelle Reize, die abwechselnd mindestens zwei einander ausschließende Gesamteindrücke provozieren. In dieser assoziativen Verkürzung mag Gestaltpsychologie wenig konturiert oder banal anmuten, weil darin ihre historische Entstehungssituation und damit ihr radikaler, epochemachender Perspektiv wechsel unterschlagen wird. [...]
Die Tradition des Gestaltbegriffs, von Goethe bis zur Gestaltpsychologie, lässt sich der breiteren philosophischen Grundausrichtung des Holismus zuordnen, dessen Widerpart ist der Atomismus. Diese Differenz wird im 20. und beginnenden 21. Jahrhundert dort problematisch, wo holistische Gegenstandsfelder in atomistisch operierende technische Systeme umgesetzt oder durch sie simuliert werden sollen. Nirgends zeigt sich der Zusammenstoß beider Paradigmen besser als in der fortdauernden Auseinandersetzung um die Begriffe und Vorgehensweisen zweier der jüngsten Disziplinen des letzten Jahrhunderts, der Informatik und der Kognitions- bzw. Neurowissenschaft. Dieses Spannungsverhältnis wird vor allem am Forschungsdiskurs um die Künstliche Intelligenz (KI) seit den 1940er Jahren deutlich, der hier nachgezeichnet werden soll.
The Rubin vase and duck-rabbit have two things in common: not only are they famous multistable figures, or 'Kippbilder', but before being discovered by scientists and philosophers, they both started their career as simple jokes. In contrast to usual understandings of 'Kippbilder', this paper will try to demonstrate that 'Kippbilder' can be a helpful model for understanding better dramatic, existential, and even religious events and their consequences. Multistable figures or 'Kippbilder' combine reversibility and irreversibility in an interesting way. While the so called first aspect change introduces an irreversible split, all subsequent aspect changes can be understood as an endless chain of reversible changes. After discussing the specificity of the Rubin vase and its aspect changes and focussing then on the distinction between first and further aspect changes, Di Blasi suggests the productive potential of the multistable figure as model for eventful events in discussing the conversion of Paul and his 'hōs mē' ('as if not').
Im Zentrum der vorliegenden Studie steht Benjamins Konzeption der Politik der "Entstaltung". Dabei soll gezeigt werden, dass diese vor allem einer "Gesellschaft des Spektakels" Paroli bietet, in welcher alles, selbst die Politik sich als Zurschaustellung und Aufführung inszeniert. Die Politik der "Entstaltung" zielt hingegen darauf ab, mit der gesellschaftlichen Inszenierung und Repräsentierbarkeit radikal zu brechen und jenseits dieser eine Politik des Nicht-Repräsentierbaren als wirkliche Demokratie zu ermöglichen. Sie setzt dort an, wo eine konstitutive Lücke in der Gesellschaft sichtbar wird. Sie ist in erster Linie nichts anderes als die Sichtbarmachung und Zurschaustellung einer solchen konstitutiven Lücke in der gesellschaftlichen Ordnung. Die Lücke ist das Moment, in dem die gesellschaftliche Repräsentation und Darstellung, das heißt die Mimesis endet und die Performanz als das radikal Undarstellbare ansetzt. Diese Lücke heißt bei Benjamin im Anschluss an Brecht "Zustand". Die Politik der Entstaltung hält daher an "Zuständen" (GS II, 521) fest, die noch inhaltsleer sind und als Orte des Übergangs fungieren.
Die vorliegende Studie verortet den Begriff der Entstaltung im Kontext der Theorien der Gestalt bei Goethe, Mach, Ehrenfels und in der Gestaltpsychologie. Benjamins Begriff der Entstaltung ist demnach als ein antimetaphysisches Gegenkonzept zur Gestalt aufzufassen. Diese Studie führt den Gegensatz von Gestalt und Entstaltung auf die Divergenz zwischen Goethe und der Romantik zurück. Sie verfolgt die These, dass die Phantasie als "Entstaltung des Gestalteten" (GS VI, 114) in Benjamins Konzeption der Politik eine wesentliche Rolle spielt.