Studien zur Vorgeschichte des deutschen Patientenverfügungsgesetzes (2009) unter besonderer Berücksichtigung der drei im Bundestag diskutierten Gesetzesentwürfe

  • Die Diskussion um die Patientenverfügung in der Bundesrepublik Deutschland geht bis in die 1970er Jahre zurück, seit Mitte der 90er Jahre nahm sie an Intensität zu. Meilensteine ihrer Entwicklung waren die Entscheidungen des BGH im Kempten-Fall (1994), im Frankfurter Fall (1998) und im Lübeck-Fall (2003). Nach dem Lübeck-Fall mehrten sich die Stimmen, wonach der Gesetzgeber das Betreuungsrecht ändern und die Patientenverfügung gesetzlich verankern sollte. Ein Entwurf des Bundesjustizministeriums aus dem Jahr 2004 erreichte jedoch nicht den Deutschen Bundestag, er wurde dem Gesetzesentwurf unter der Leitung von Joachim Stünker angegliedert. Erst Anfang des Jahres 2007 erhielt die Diskussion mit einer Orientierungsdebatte Einzug in das Deutsche Parlament. In den Jahren 2007 bis 2008 wurden dann drei Gesetzesentwürfe zum Thema Patientenverfügung in den Bundestag eingebracht. Der erste Entwurf wurde im Mai 2007 unter Federführung von Wolfgang Bosbach (CDU) veröffentlicht. In ihm waren Formvorschriften für die Patientenverfügung verankert. Diese müsse in schriftlicher Form vorliegen sowie eine Unterschrift oder ein notariell beglaubigtes Handzeichen enthalten. Ein Widerruf der Patientenverfügung wäre jederzeit und ohne weiteres sowohl mündlich als auch zum Beispiel durch Gesten möglich gewesen. Der Gesetzesentwurf beinhaltete eine Reichweitenbegrenzung. Eine lebensverlängernde Maßnahme hätte demnach nur abgebrochen beziehungsweise nicht eingeleitet werden dürfen, wenn der Patient ein irreversibel zum Tode führendes Grundleiden gehabt hätte oder mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit das Bewusstsein nicht wiedererlangen würde. Eine unmittelbare Todesnähe wäre nicht notwendig gewesen. Ende 2008 wurde dieser Entwurf basierend auf einem Änderungsantrag unter Federführung von Katrin Göring-Eckardt (Bündnis90/Die Grünen) modifiziert. Es sollte ein zweistufiges Modell geben. Für eine Patientenverfügung mit Reichweitenbegrenzung sollten die gleichen Formvoraussetzungen wie im bisherigen Entwurf gelten, es sollte jedoch auch eine Patientenverfügung ohne Reichweitenbegrenzung möglich sein, für die schärfere Voraussetzungen gelten sollten, zum Beispiel eine regelmäßige Aktualisierungs- und Beratungspflicht. Ein zweiter Gesetzesentwurf entstand unter Federführung von Wolfgang Zöller (CSU) im Jahre 2007. Dieser Entwurf sah keine Reichweitenbegrenzung vor. Die Patientenverfügung sollte unabhängig von Art und Stadium der Erkrankung gelten. Weiterhin wären nicht nur schriftliche Verfügungen möglich gewesen, auch Tonträger oder Videos wären zu berücksichtigen gewesen, wenn sie eindeutig den Willen des Patienten gespiegelt hätten. Das Vormundschaftsgericht hätte nur bei Dissens zwischen Arzt und Betreuer eingeschaltet werden müssen, allerdings hätte es in diesem Fall das Gutachten eines Sachverständigen einholen müssen. Ein dritter Antrag wurde 2007 unter Federführung von Joachim Stünker (SPD) erarbeitet und im Jahre 2008 veröffentlicht. Auch dieser Gesetzesentwurf sah keine Reichweitenbegrenzung vor, eine Patientenverfügung sollte unabhängig von Art und Stadium der Erkrankung gelten können mit der formalen Voraussetzung der Schriftform. Das Vormundschaftsgericht sollte lediglich bei einem Dissens zwischen Arzt und Betreuer eingeschaltet werden, es müsste jedoch im Gegensatz zum Zöller-Entwurf vor seiner Entscheidung kein Gutachten einholen. In allen drei Entwürfen sollten jeweils §§ 1901 und 1904 BGB geändert werden. Am 29.05.2009 wurde unter der Leitung von Hubert Hüppe (CDU) zusätzlich ein Antrag auf Verzicht auf ein Gesetz eingebracht. Am 18.06.2009 entschied sich die Mehrheit des Bundestages für den Gesetzesentwurf der Gruppe um Joachim Stünker. Die anwesenden Abgeordneten der SPD, der FDP und der Partei Die Linke stimmten zum großen Teil für den Stünker-Entwurf und sicherten so die Mehrheit, die Vertreter der CDU/CSU stimmten mit nur einer Ausnahme gegen diesen Entwurf, fünf Abgeordnete enthielten sich bei dieser Abstimmung. Die Rolle des Betreuers gewann mit der Verabschiedung des Gesetzes an Bedeutung. Das Gesetz sieht vor, dass der Betreuer anhand der Patientenverfügung (bei Nichtvorliegen anhand des mutmaßlichen Willens des Betreuten) prüfen muss, ob „ diese Festlegungen auf die aktuelle Lebens- und Behandlungssituation zutreffen“297. Das Vormundschaftsgericht muss nur eingeschaltet werden, wenn zwischen behandelndem Arzt und Betreuer ein Dissens über die Behandlung des Betreuten beziehungsweise den Abbruch einer lebensverlängernden Maßnahme herrscht.
  • The discussion about advanced health care directives (Patientenverfügungen) in the Federal Republic of Germany dates back to the seventies of the 20th century. The intensity of the debate began increasing significantly in the mid nineties. Defining milestones were the rulings of the Federal Court of Justice in the “Kempten-case” (1994), the “Frankfurt-case (1998) and the “Lübeckcase“ (2003). After the “Lübeck-case“ public pressure increased for legislative action to change the law concerning the guardianship of persons of full age (Betreuungsrecht) protecting advanced health care directives by law. A draft by the federal ministry of justice from 2004 did not reach the german parliament. This bill was later integrated in the draft-bill introduced by Joachim Stünker. Only in 2007 was the discussion over advanced health care directives introduced to German Parliament (Deutscher Bundestag) with a first debate. From 2007 to 2008 three proposed bills concerning advance health care directives were presented to the German Parliament. The first bill introduced by Wolfgang Bosbach (CDU) was made public in May 2007. The bill laid out formal requirements for advanced health care directives. It required advanced health care directives to be in written form and should contain a signature or a notarized power of attorney. It may be cancelled at any time and without further ado, for example verbally or by gesture. The bill included a defined scope of limitations. Life prolonging procedures could herein only be terminated or may not be initiated if the patient had an ailment which was irreversibly lethal or it was deemed impossible the patient would regain consciousness. An immediate proximity of death was not required. At the end of 2008 the bill was modified based on an amendment introduced by Katrin Göring-Eckardt (Bündnis90/Die Grünen). It proposed a two-tier model. For advance health care directives with a defined scope of limitations the same formal requirements applied as in the previous bill. In addition it would allow advance health care directives without these limitations. This option would be tightly regulated requiring routine evaluations and counselling. Another bill was introduced by Wolfgang Zöller (CSU) in the year 2007. This bill didn’t include a defined scope of limitations. The advance health care directive would be valid independently of the kind and stage of the disease. Furthermore not only written directives but also sound recording mediums or videos would be honoured if they clearly reflected the will of the patient. The guardianship court (Vormundschaftsgericht) should solely intervene if there was dissent between the doctor and the custodian. In this case the guardianship court had to obtain an expert opinion. A third bill was introduced under the direction of Joachim Stünker (SPD) in 2007 and made public in 2008. This bill similarly did not set a scope of limitations. The advanced health care directives would be valid independent of the kind and stage of the disease, but a written form would be required. The guardianship court should also solely intervene if there was a dissent between the doctor and the custodian. In contrast to the proposal by Zöller an expert opinion would not be necessary. All three bills required changing paragraph 1901 and 1904 of the German Civil Code (Bürgerliches Gesetzbuch). On May 29th 2009 an application for the relinquishment of a law under the direction of Hubert Hüppe (CDU) was filed. On June 18th 2009 the majority of the German Parliament decided on the bill proposed by Joachim Stünker. The members of the SPD and Die Linke voted in favor of the bill, assuring the majority of the votes. The members of the CDU/CSU voted with a sole exception against this bill. The new legislature has increased the responsibility held by the custodian. As described in the bill the custodian has to evaluate if the path set in the directive applies to the current situation of treatment and the patient’s life. If there is no advanced health care directive the custodian must consider the presumable will of the patient. The guardianship court shall solely intervene if there is a dissent between the doctor and the custodian regarding the treatment of the patient or the termination of a life prolonging procedure.

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Metadaten
Author:Angela Haertel
URN:urn:nbn:de:hebis:30-89912
Referee:Udo BenzenhöferGND
Document Type:Doctoral Thesis
Language:German
Date of Publication (online):2011/01/26
Year of first Publication:2010
Publishing Institution:Universitätsbibliothek Johann Christian Senckenberg
Granting Institution:Johann Wolfgang Goethe-Universität
Date of final exam:2010/12/14
Release Date:2011/01/26
HeBIS-PPN:231704739
Institutes:Medizin / Medizin
Dewey Decimal Classification:6 Technik, Medizin, angewandte Wissenschaften / 61 Medizin und Gesundheit / 610 Medizin und Gesundheit
Sammlungen:Universitätspublikationen
Licence (German):License LogoDeutsches Urheberrecht