Weimarer Beiträge 59.2013
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Kafka war in der DDR kein Gegenstand der Poesie und Literaturwissenschaften allein. Spätestens seit der berühmten Kafka-Konferenz im tschechischen Liblice, im Mai 1963, war sein Werk ein Politikum, das kurioser Weise zeitweise sogar das Verhältnis zwischen den 'sozialistischen Bruderparteien' entzweite. In theoretischer Hinsicht war insbesondere der Versuch einiger tschechischer und westlicher Teilnehmer brisant, die Marx'sche Entfremdungsproblematik unter Inanspruchnahme des Prager Dichters auf den Sozialismus selbst zu beziehen. Insofern war es schon erstaunlich, dass Wolfgang Heise nur zwei Jahre später seinen, den Entfremdungsbegriff auf die DDR beziehenden Aufsatz 'Über die Entfremdung und ihre Überwindung' sogar in der 'Höhle des Löwen', nämlich in der Deutschen Zeitschrift für Philosophie veröffentlichen konnte. Rückblickend gesehen stehen verschiedene Themen und Thesen Heises ganz im Einklang mit den in Liblice diskutierten: etwa dem von Ernst Fischer modifizierten Begriff des Realismus und der Hervorhebung "des Künftigen, des Möglichen, des wie ein Schimmer oder Schatten in die Gegenwart Fallenden, [einer] mitunter tiefere[n] Wirklichkeit als die mit Händen zu greifenden sogenannten Tatsachen". Folgt man Camilla Warnke, so hat es in der DDR keinen anderen Theoretiker gegeben, "der so eindringlich und so konsequent wie Heise seine Kritik am realen Sozialismus im Rückgriff auf das Marxsche Entfremdungskonzept formuliert hat und seinen Implikationen unter den neuen, nicht mehr privateigentümlichen Verhältnissen nachgegangen ist." Auf Kafka hatte Heise in seinem Aufsatz nur kurz, aber an signifikanter Stelle verwiesen: "Kafka hat an den Gittern der Ohnmacht gerüttelt".
Von allen wichtigen Texten Benjamins sind seine Sonette auf seinen Dichterfreund Christoph Friedrich Heinle, der seit 1913 mit ihm in der Jugendbewegung aktiv war und am 9. August 1914, verzweifelt über den Ausbruch des Ersten Weltkriegs, mit seiner Verlobten Rika Seligson Selbstmord verübt hatte, verhältnismäßig wenig von der Kritik gewürdigt worden. Entstanden sind die Gedichte vermutlich zwischen 1915 und 1925, mit Handschriften-Datierungen von vor Ende 1917 und nach Anfang 1918; ihr Manuskript befindet sich unter den Papieren Benjamins, die im Juli 1981 von Giorgio Agamben in der Bibliothèque Nationale in Paris gefunden wurden. Sie sind in einer komplexen Sprache verfasst, die verschiedene Vorbilder, darunter den Duktus Stefan Georges und den Spätstil Hölderlins, höchst eigenwillig weiterführt. Esoterische, oft rätselhafte Metaphern und willkürlich-kryptische Bilder, eine preziös-archaisierende Stilhöhe, grammatikalische Brüche und das syntaktische Zusammenhänge verschleiernde Fehlen der Interpunktion - durch diese Merkmale verweigern sich die Sonette einer hermeneutischen Entschlüsselung, die sich durch den Nachvollzug der Einzelheiten im Gesamtzusammenhang das Verständnis kohärenter Sinntotalität erhofft. Stattdessen sind die Leser darauf angewiesen, die sich immer wieder selbst verschleiernde Beziehung des lyrischen Ichs zu dem Verstorbenen durch ein Nachbuchstabieren bestimmter Textdetails so zu rekonstruieren, dass deren Inkonsistenzen, Sinnbrüche und Mehrdeutigkeiten nicht beseitigt, sondern als das Medium erkannt werden, in dem eine poetisch-erotische Liebe die Möglichkeiten und Grenzen ihrer eigenen Versprachlichung reflektiert. Diese performative Selbstreflexion - so meine Kernthese - geschieht vorrangig im Rahmen einer intermedialen Beziehung zwischen Schrift, Bild bzw. Blick und Musik. In diesem Sinne zielt der folgende Versuch einer Interpretation bewusst auf keine Gesamtdeutung, sondern beschränkt sich darauf, einige ausgewählte Textpassagen explizierend zu einem Netzwerk zusammenzustellen, das diese Intermedialität der trauernden Liebes-Erinnerung im Kontext anderer Schriften Benjamins zu erhellen versucht.
Die unterschätzte Reifeprüfung : zur Rezeption von Uwe Johnsons erstem Roman "Ingrid Babendererde"
(2013)
In der Johnson-Forschung der letzten Jahre wurde verschiedentlich die Ansicht geäußert, dass eine Beschäftigung mit Johnsons Werken ohne eine Reflexion auf die Biographie des Autors unvollständig, wenn nicht gar unzulänglich bliebe. Ein "ganzes Team von Johnson-Forschern" arbeitet deshalb seit dem Frühjahr 2005 daran, eine neue Johnson-Biographie zu verfassen. Es ist in dem Zusammenhang nicht überflüssig, daran zu erinnern, dass nicht nur der Autor, sondern auch die Leser Biographien haben, die ihrerseits - auf freilich mittelbare Weise - die Auseinandersetzung mit dem Werk Johnsons beeinflussen können. Beispielsweise, indem die in individuellen Lebensläufen gemachten Erfahrungen Lektüre-Wahrnehmungen in den Romanen Johnsons begünstigen, anregen, fördern, steuern - oder auch erschweren und behindern.
Ein weites Feld, gewiss, aber doch auch eines, dessen Relevanz schwerlich von der Hand zu weisen sein dürfte. Auf Uwe Johnson wird sich jedenfalls berufen dürfen, wer Interesse aufbringen kann für "jenes unverlierbare Eigentum, das beschlossen ist in der Vergangenheit einer Person". Die Literaturwissenschaftlerin Aleida Assmann hat in diesem Sinne kürzlich auf einen "Primat der Erfahrung" aufmerksam gemacht, der in den Debatten um die Erinnerungsliteratur der letzten Jahrzehnte (zu der auch Johnsons Werk gehört) eine zentrale Rolle spielt: "Was man nicht selbst in den Knochen hat, kann man nicht nachträglich in diese Knochen injizieren."